Selbstorganisation ist eher eine Praxis als ein Strukturmodell. Und während Modelle einfach übernommen werden können, ist der Weg zur Beherrschung einer Praxis die Praxis selbst: Studien gehen von 10.000 Stunden aus, um auf einem Feld Exzellenz zu erreichen (Malcom Gladwell (2009): Outliers). Um etwa ein „exzellenter“ Pianist zu werden, muss ich 10 Jahre lang täglich drei Stunden Klavier üben. Wie kommen wir also darauf, dass wir, um Selbstorganisation zu meistern, lediglich enthusiastisch Laloux lesen und unser Organigramm von Kästchen auf Kreise umstellen müssen? Nein, meine Freund:innen, wir müssen trainieren, und abhängig von unseren früheren Verstrickungen, ordentlich trainieren.

In einer der inspirierenden Break-Out-Sessions der großen Covid Networking Wolke hatte ich das Vergnügen, auf Trine Demant von „Democracy Fitness zu treffen. Mit ihrem Team hat sie eine Reihe von Kurzprogrammen entwickelt, in denen „Demokratie-Muskeln“ trainiert werden – im Alltag oft verschüttete persönliche Kompetenzen, die entscheidend für die aktive Gestaltung und Beteiligung an einer lebendigen Demokratie sind. Zu den Kompetenzen gehören etwa „Verbales Selbstvertrauen“, „Empathie“ oder „Mobilisierung“.

Die Trainings sind aktivierend und machen Spaß, sollen aber auch herausfordern: „Wenn es ein bisschen weh tut, ist das ein gutes Zeichen dafür, dass Du die Übungen richtig ausführst“, heißt es dazu im Einführungshandbuch. Erstaunlich ist dabei: Jedes Training dauert nur 30 Minuten. Hey, was ist mit den 10.000 Stunden? Nun ja, irgendwo muss man ja anfangen – das Training ist lediglich die Einführung in einen ungenutzten Teil unseres Potenzials. Mit den Worten von democracy fitness: „Wenn Du fertig bist, wirst Du Dich immer daran erinnern, dass Du und andere diesen Muskel haben“. 

Fasziniert von diesem Ansatz frage ich mich natürlich, wie er sich auf die Entwicklung von Selbstorganisation übertragen lässt? Wenn wir davon ausgehen, dass wir trainieren müssen, um erfolgreich neue Wege der Zusammenarbeit zu gehen, welche Teile unserer Fähigkeiten sollten wir dann kultivieren? Meine Vermutung ist, dass die Muskeln der Selbstorganisation nicht so weit von den Muskeln der Demokratie-Fitness entfernt sind. 

Wir haben über diese Frage bei unserer letzten SOCIUS Klausur an der Adriaküste nachgedacht. Die folgende Liste der Sieben Muskeln der Selbstorganisation ist ein erstes Ergebnis dieser Gespräche:

  1. Kultivierung von Vertrauen 
  2. Präsenz (im Führen und Folgen)
  3. Selbstnavigation 
  4. Souveränität in Rauen Gewässern
  5. Resonanz in Beziehungen
  6. Bewusstheit für Lebende Systeme 
  7. Einbindung im Groove 

Natürlich gibt es andere Versionen, sicher braucht es auch noch einige Überarbeitungsschleifen – aber es ist erstmal ein solider Ausgangspunkt. Schauen wir uns die Muskeln, ihre Bedeutung im Kontext von Selbstorganisation und die Möglichkeiten des Trainings etwas genauer an:

Kultivierung von Vertrauen 

(Dem Prozess vertrauen; Sich selbst und anderen vertrauen, dem Universum vertrauen, Geduld haben, optimistisch bleiben)

Einer der hartnäckigsten Vorbehalte gegenüber Praktiken der Selbstorganisation ist, dass sie zu zeitaufwändig sind. „In ruhigen Gewässern können wir uns den Luxus dezentralisierter Kontrolle leisten, aber wenn das Wetter rau wird und viel auf dem Spiel steht, sollten wir besser auf etwas Strafferes und Effizienteres zurückgreifen“. Sehen wir da mal etwas genauer hin: Selbstorganisation wird vor allem da langsam, wo Vertrauen fehlt. Wenn ich davon ausgehe, dass meine Teammitglieder inkompetent sind oder ihre Macht missbrauchen und in einer Weise handeln, die eher ihren eigenen Interessen als unserer gemeinsamen Sache dient, werde ich versuchen, sie zu kontrollieren. Ich sorge dafür, dass Reports und Entscheidungen im Plenum erfolgen und dass Genehmigungsschleifen und dreifache Kontrollsysteme installiert sind. All das macht Prozesse langsam und uninspirierend. Wenn ich dagegen darauf vertraue, dass meine Mitstreiter:innen die gemeinsame Sache im Blick haben und kompetent (oder zumindest nach bestem Wissen und Gewissen) handeln, kann ich mich auf ein handhabbares Minimum an Kontrolle einlassen und so ein Maximum an Dynamik ermöglichen. Die Zone dessen, was „sicher genug ist, um es zu versuchen“, wächst.

Kann man diese Art von Vertrauen trainieren? Ein grundlegender Baustein dazu ist ein Phänomen, das der Psychoanalytiker Erik Erikson „Urvertrauen“ nennt – eine tiefe und grundlegende Überzeugung, dass die Welt ein guter Ort ist, der mich nährt. Nach Eriksons Entwicklungstheorie wird Urvertrauen idealerweise in den ersten 1,5 Lebensjahren eines Kindes aufgebaut und bildet die Grundlage für spätere Vertrauenserfahrungen und eine zuversichtliche und optimistische Lebenseinstellung. Ein Aspekt dieses Optimismus ist „People Positivity“ – die Überzeugung, dass Menschen kompetent, fähig und – wenn nicht anders sozialisiert – bereit sind, zum Gemeinwohl beizutragen. 

Die Stärkung der Fähigkeit zu vertrauen beginnt bei der Frage: „Wann und wie fühle ich mich sicher“? Und dann konkreter: „Wann fühle ich mich sicher genug, um es zu wagen, meinen Kolleg:innen in ihren Rollen und Verantwortlichkeiten zu vertrauen?“. Je bewusster wir uns unserer Grundbedürfnisse sind, desto besser verstehen wir, wo sich das Handeln anderer an ihnen reibt, und können dem auf produktive Weise begegnen. 

Neben der individuellen Dimension hat Vertrauen auch eine soziale Qualität, die von selbstverstärkenden Feedbackschleifen geprägt ist: Vertrauen erzeugt Vertrauen; es beruht auf Commitments die eingelöst und auf Versprechen, die gehalten werden. Ohne solche Commitments gibt es keine Basis für den positiven Kreislauf des Vertrauens. Und ohne Vertrauensvorschüsse gibt es keine Initialzündung, die die Spirale positiver Erfahrungen in Gang setzt. Beides lässt sich kultvieren.

Präsenz (im Führen und Folgen)

(Dem Impuls folgen. Spüren, was passieren will. Unerschrocken voran gehen. Führen. Und: Folgen: eine gute Idee erkennen und unterstützen. Selbstlos mitgehen, Ja Sagen!)

Führen ist ein Balanceakt zwischen inneren und äußeren Impulsen. Die Bewusstheit fürs Innere, das Spüren und Vertrauen in unsere Intuition, steht dabei der Wahrnehmung und Deutung des sozialen Feldes gegenüber. Wenn wir den Kontakt zu einer der beiden Seiten verlieren, wenn die beiden Welten sich vermischen oder eine das Handeln dominiert, wird Führung schwierig. In selbstorganisierten Teams ist Führungsenergie zwar verteilter und dynamischer als in klassischen hierarchischen Organisationen, aber der Balanceakt zwischen inneren und äußeren Impulsen ist genauso delikat. Führungshandeln erfordert einen souveränen Umgang mit diesen Impulsen und die Fähigkeit, darin sinnvoll und unerschrocken zu handeln. 

Wie Führung beruht auch Gefolgschaft (Followership) im Kontext von Selbstorganisation auf beherztem Handeln. Es geht nicht darum, einer Person zu folgen, sondern darum, ihren Impuls zu verstärken. Die Kunst des Folgens besteht nicht darin, widerspruchslos jedes Spiel mitzuspielen, sondern darin, einen Impuls aufzunehmen und kreativ damit zu arbeiten. Derek Sievers bringt es auf den Punkt: „Uns wird gesagt, dass wir alle Führung übernehmen  sollen, aber das wäre extrem ineffektiv. Die beste Art, Bewegung in etwas zu bringen, was uns wirklich am Herzen liegt, ist, mutig zu folgen und anderen zu zeigen, wie das geht“.

Wie können wir diesen Muskel trainieren? Zunächst wollten wir uns daran erinnern, dass wir alle tiefgreifende Erfahrung im Führen und Folgen haben. Spielen ist ein fließender Tanz aus impulsieren und mitgehen. Kinder sind im Allgemeinen ebenso in der Lage, spontan eine Idee vorzubringen und umzusetzen, wie freudig einem Handlungsangebot zu folgen: „Hey, lass uns…“ – „Komm, wir…“. „Ja, und…“. Es gibt eine Reihe von Gründen, warum diese angeborene Fähigkeit, einem Impuls (oder vielleicht besser: uns selbst) zu folgen, im Jugend- und Erwachsenenalter oft verschüttet wird: Wir verbringen prägende Jahre in Bildungssystemen, die Impulskontrolle gegenüber Impulsivität bevorzugen; wir verbringen Zeit an mehr oder weniger regulierten Arbeitsplätzen, an denen impulsives Handeln mit Skepsis begegnet wird; und wir leben in einem sozialen Umfeld, das Führung glorifiziert und gleichzeitig Versagensängste und Gefühle von Hochstapelei nährt, sobald wir den Rahmen unseres formalen Rollenhaushalts überschreiten. Es ist, gelinde gesagt, verwirrend. Das Training der Fähigkeit, impulsiv zu handeln, beginnt damit, uns mit unserem spielerischen Selbst zu verbinden und die verinnerlichten Stimmen und Zwängen abzubauen, die den impulsiven Prozess unseres inneren Kindes begrenzen.

Selbstnavigation 

(Bereit sein, zu lernen und zu verlernen; Die Selbstwahrnehmung kultivieren. Reflexion zur Routine machen; die eigenen Grenzen kennen und respektieren)

Der Weg zur Selbstorganisation erfordert eine schrittweise Verlagerung von äußeren Strukturen hin zu innerer Kompetenz und persönlicher Entwicklung als Quellen von Stabilität. Der Muskel der Selbstnavigation ist dabei zugleich Voraussetzung und Produkt dieses Prozesses. Er fußt auf der Ortskenntnis unserer inneren Landschaft und bedingt die Fähigkeit, sich einzulassen und dabei zugleich die eigenen Grenzen zu respektieren. Während hierarchische Organisationen oft Belastungen durch Entfremdung und Fremdsteuerung mit sich bringen, besteht die Belastung im Kontext von Selbstorganisation häufig darin, ein gesundes Maß an Engagement zu finden, da wir nicht nur für uns selbst, sondern für das Große Ganze mitverantwortlich sind. 

Selbstnavigation lässt sich nicht aus dem Lehrbuch erlernen. Bücher können Ideen und Inspirationen liefern, neue Dinge auszuprobieren oder Altes loszulassen, aber die Karte ist nicht das Gebiet: Das wirkliche Wachstum geschieht im reflektierten Handeln. Mikropraktiken und Reflexionsroutinen sind dafür gute Container. Strukturelle Unterstützung für den Muskel der Selbstnavigation erfordert, ihnen Raum und Zeit zu widmen und sie gegen die gierigen Wellen des Tagesgeschäfts zu verteidigen.

Resonanz in Beziehungen

(Tief zuhören. Empathie und Neugierde kultivieren. Mit dem Herzen hören)

Die Bedeutung von Resonanz für jegliche soziale Praxis liegt auf der Hand. Für die Praxis der Selbstorganisation ist sie besonders relevant: Die adaptive Qualität von selbstorganisierenden Systemen zielt auf die laufende Anpassung an ihrer Umwelt. Zur Umwelt gehört dabei das externe Feld, aber auch die interne Dynamik, die die Mitglieder einbringen. Die wirklich spannenden Dinge in diesen beiden Bezugswelten liegen unsichtbar unterhalb der Wasserlinie. Auf kollektiver Ebene bedeutet Resonanz, solch verborgene Dynamiken zu erspüren.

Auf der Beziehungsebene liegt Resonanz nahe bei Empathie. Empathie ist die Fähigkeit, sich in eine andere Person einzufühlen und ihre emotionale Situation zu erleben. Sie kann zum Beispiel durch Perspektivenübernahme kultiviert werden: in die Schuhe des Gegenübers schlüpfen, Austausch und Feedback üben. Ein weiterer Weg ist das tiefe Zuhören, das etwa in der dialogischen Praxis und in der gewaltfreien Kommunikation verankert ist.

Souveränität in rauhen Gewässern

(Abweichende Meinungen vertreten; Die produktive Kraft von Spannungen genießen; Entschlossen verhandeln; Wo nötig Nein-Sagen)

Teams mit einem ausgeprägten Wertehintergrund der „People Positivity“ kultivieren oft ein Dogma der Harmonie: „Ich stelle deine Idee nicht in Frage und du stellst meine nicht in Frage“. Eine solche Harmonie verringert das Potenzial kollektiver Kreativität und führt zu Schwächen in der Entscheidungsfindung: Ideen und Beiträge werden einfach unter einem breiten Dach zusammengefasst, anstatt kritisch geprüft und ausgewählt oder zusammengeführt zu werden. Unterschiede in den Standpunkten und Interessen werden mit einer Decke der Wertschätzung überdeckt. Diese Art von Harmonie wird oft mit Alignment verwechselt: „Wenn wir uns nicht reiben, müssen wir wohl eine gemeinsame Ausrichtung haben“. 

Die Praxis der Selbstorganisation betrachtet Spannungen dagegen als notwendigen Treibstoff für Entwicklung. Holacracy definiert sie etwa als „Lücke zwischen der aktuellen Realität und einem wahrgenommenen Potenzial“. Die regelmäßige Bearbeitung von Spannungen hilft dabei auch, zu verhindern, dass sie zu manifesten Problemen und Konflikten eskalieren. 

Souveränität in Rauen Gewässern erfordert ein fruchtbares Maß der Einlassung auf solche Spannungen. Stell Dir vor, Du gehst spazieren und finden einen Haufen Schutt auf deinem Weg. Bei einem einmaligen Ausflug wirst Du den Haufen wahrscheinlich weder wegschaufeln noch über ihn hinwegklettern. Je nach Stimmung bleibst Du vielleicht kurz verwundert oder verärgert stehen und umrundest dann das Hindernis, um zu Deinem Ziel zu kommen. Handelt es sich hingegen um einen Weg, den Du täglich gehst, liegt es nahe, dass Du den Haufen wegräumst, um dauerhaft Zeit und Energie zu sparen. Mit Konflikten und Spannungen verhält es sich ähnlich: Die einmaligen Kleinigkeiten wie auch einige Spezial-Dramen können wir einfach umschiffen. Warum Energie auf etwas verschwenden, das uns von unserem Ziel ablenkt? Die Spannungen, die uns dagegen immer wieder in die Quere kommen, sollten wir angehen, ganz gleich, wie unbedeutend oder massiv sie sind. 

Der Weg zur Souveränität in Rauen Gewässern, ist schlicht, aber nicht einfach: Übe, mit Spannungen umzugehen, ohne Dich von ihnen verrückt machen zu lassen. Initiiere Spannung in einem sicheren sozialen Umfeld und bleib bei ihr, ohne sie zu entschärfen. Sei kritisch, sei wütend, sei unhöflich, wenn es sein muss. Übe Einspruch, sag Nein. Achte auf Deine Empfindungen, Deine körperlichen und geistigen Reaktionen. Mach Dir Notizen über Deine täglichen Workarounds und entscheide Dich, welchen dieser Umwege Du loswerden willst.  Und dann tu es einfach und sieh, wie das Leben danach weitergeht.

Bewusstheit fürs lebendige System 

(Muster erkennen und Dynamiken beobachten. Vereinfachungen misstrauen. Das große Ganze im Blick behalten. Verstehen, wie auch kleine Dinge den Purpose nähren. Aufmerksam sein für emergente Ordnungen)

Komplexitätsbewusstsein (Complexity Consciousness) ist eine der Metakompetenzen unserer Zeit. Sie bezeichnet die Anerkennung der nicht-linearen dynamischen Qualität sozialer Prozesse und die Fähigkeit, mit dieser Dynamik umzugehen, was wiederum Flexibilität, Geduld und Ambiguitätstoleranz erfordert. Die besondere Relevanz dieses Muskels für die Navigation selbstorganisierender Systeme hat mit deren spezifischer Mischung aus formellen und informellen Settings zu tun.

Bemühen wir hier eine weitere Analogie: Beim Autofahren steuern wir ein kompliziertes System, das auf einer Mechanik erster Ordnung mit einigen selbstregulierenden Rückkopplungsschleifen aufbaut. Natürlich braucht es eine gewisse Ausbildung, um Start- und Steuervorrichtungen zu bedienen, um den Unterschied zwischen Kupplung und Bremse zu kennen und um zu wissen, welche Anzeigen im Auge zu behalten sind. Wenn das Auto eine Panne hat, ist es gut zu wissen, welcher Mechaniker weiterhelfen kann. Das war’s eigentlich schon. Der wirklich knifflige Part ist nicht das Auto, sondern der Verkehr. Sich souverän durch dichten Verkehr zu bewegen, erfordert mehr als nur ein bisschen Training. Verkehr ist ein komplexes System, er ist lebendig und unberechenbar. Er besteht aus dynamischen Interferenzen und selbst-verstärkenden Rückkopplungsschleifen, die plötzliche Veränderungen bewirken können. Sich in diesem Umfeld zurechtzufinden, erfordert Erfahrung, Achtsamkeit und mitunter beherztes Handeln.

Organisationen vereinen diese beiden Qualitäten: Während Strukturen und Prozesse kompliziert sind, bilden die sozialen Interaktionen in ihnen eine komplexe zweite Realität ab. Je mehr wir den Schwerpunkt auf informelle Dynamik statt auf formale Strukturen und Prozesse legen, desto mehr müssen wir uns auf diese komplexe Natur der Organisation einstellen. Selbstorganisierende Systeme beruhen auf einem hohen Maß emergenter Dynamik – in dem Sinne ist in ihnen die Qualität des Verkehrs prägender, als die des Autos.

Wie lässt sich eine Bewusstheit fürs Lebende System aufbauen? Das Einlassen auf Komplexität erfordert zunächst eine spezielle Art des Sehens: Sie lebt vom fließenden Wechsel zwischen der konzentrierten Beobachtung von Details und der offenen Wahrnehmung von Mustern. Was gestern geschehen ist und was jetzt gerade geschieht, ist relevant. Seine Bedeutung erhält es aber vor allem durch dem Kontext dessen, was immer wieder geschieht. 

Schließlich ist es auch hilfreich, Klarheit über unsere Modelle zu bewahren. Der Komplexität unserer sozialen Welt gerecht zu werden, ist praktisch unmöglich: wir brauchen Modelle und Abkürzungen, um handlungsfähig zu bleiben. Wenn wir vergessen, dass wir diese kognitiven Hilfsmittel nutzen, verwechseln wir unsere Vereinfachungen mit der Realität.

Einbindung im Groove 

(Alignment entstehen lassen. Die kollektive Dynamik und die eigene Rolle darin spüren. Sich synchronisieren. Swing ins Spiel bringen)

Der letzte Muskel ist der kniffligste und umfassendste. „Groove“ ist ein nebulöses Konzept das schwer zu operationalisieren ist (können Algorithmen miteinander grooven?). Die erste Zutat zum Groove ist „Alignment“ – eine Qualität, die sich vielleicht am besten mit „gemeinsamer Ausrichtung“ übersetzen lässt; die zweite ist lebendige Dynamik, oder auch „Swing“.

Eine Lebendige Ausrichtung bedeutet nicht, dass alle in dieselbe Richtung schwimmen oder ein gemeinsames Ziel haben – es geht darum, dass das übergeordnete Ziel mit dem Ziel jedes Einzelnen zusammenpasst. Was genau ist der Unterschied? In manchen Kollektiven herrscht Nivellierung vor: Alle folgen einer gemeinsamen Richtung, denken, gleich, fühlen gleich – es gibt keine individuellen Absichten, da jede:r Einzelne seine/ihre Agenda ins Kollektiv projiziert. Im Gegensatz dazu müssen für gelingende Selbstorganisation die individuellen Agenden aufgeladen sein und dynamisch auf das gemeinsame Ziel ausgerichtet werden (Spotify hat hierfür den Begriff der „Aligned Autonomy“ geprägt). Die leichten Divergenzen zwischen der individuellen und der kollektiven Zielebene und die daraus entstehenden Spannungen sind Motor von Entwicklung. Wenn sie keinen Raum haben und nicht zelebriert werden, ist das System zwar ausgerichtet, aber nicht lebendig. 

Eine dynamische Einbindung in den Groove zu entwickeln, ist so anspruchsvoll, wie ein guter Jazzmusiker zu werden. Es erfordert ein feines Gehör, einen offenen Geist und eine Beherrschung den eigenen Rollen; in gewissem Sinne baut dieser Muskel auf den Vorhergehenden auf: auf der Fähigkeit zu Vertrauen, der Präsenz, der Selbstnavigation und allen anderen. Und wie alle Muskel wächst er vor allem mit der Erfahrung der Praxis.

Die Liste zeigt: Es gibt Dinge, zu denen wir fähig sind, die wir aber in unserem sozialen Alltag nicht praktizieren, so dass die entsprechenden Fähigkeiten verkümmern. Wenn wir diese Muskeln wieder entdecken, können wir sie trainieren und zurückerobern. Jeder Muskel hat dabei eine individuelle und eine kollektive Qualität. Ich muss lernen präsent zu sein und Impulsen zu folgen, und wir als Team müssen lernen, das Beste aus diesen Impulsen zu machen. Ich muss Praktiken der Selbstnavigation entwickeln, und wir als Team müssen Räume schaffen, die diese Praktiken unterstützen. Sowohl die individuelle als auch die kollektive Qualität kann durch ein Training initiiert werden, das die entsprechenden Muskeln anregt. SOCIUS arbeitet an der ersten Serie solcher Trainingseinheiten.

In diesem Sinne: Stay tuned, wir sehen uns im Fitnessstudio!

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