Anne Keiner: Das Theater der Unterdrückten als Impuls für eine emanzipatorische Supervision

Wir leben in anspruchsvollen Zeiten: Einerseits erfahren wir ein zunehmendes „Mehr“ an Möglichkeiten der Selbstorganisation und Gestaltung evolutionärer Prozesse. Demgegenüber stehen immer besorgtere Stimmen zu Komplexität und Ambivalenz in Organisationen; gefühlter Rechtfertigungsdruck „von außen“ – rechtspopulistische Tendenzen; normative und tatsächliche Einschränkung der Gemeinnützigkeit – werden stärker. Welche Möglichkeiten hat eigentlich Supervision, sich in transformativen Trends zu positionieren? In ihrer Masterthesis untersucht Anne Keiner, wie Elemente des „Theater der Unterdrückten“ – entwickelt von Augusto Boal in der Zeit der Befreiungsbewegungen Lateinamerikas des letzten Jahrhunderts – Haltung, Theorie und Handlungskompetenzen der Supervisionsarbeit bereichern können. Offenbar liegt ihr insbesondere die Frage nach dem „politisch-emanzipatorischen Impetus“ (S. 15) am Herzen: Prozesse so zu gestalten, dass sie eine gesellschaftlich transformierende Wirkung haben.

Vorweg stellt Anne Keiner beide Zugänge -die Supervision sowie das Theater der Unterdrückten – in ihrer jeweiligen Eigenheit dar. Davon ausgehend, dass der Leser*innenkreis wahrscheinlich eher der Berater*innenszene entstammt, ist die Detailtiefe beim Theater der Unterdrückten umfangreicher ausgestattet. Die thematisierten Fragen sind in beiden Kapiteln – als Herkunftsgeschichte, generell prägende Haltung, theoretische und methodische Ableitungen hieraus und Beschreibung konkreter Arbeitsansätze – vergleichbar.

Dichotomie und Allparteilichkeit

In den beiden Kapiteln wird zentral das politische Selbstverständnis der Ansätze herausgearbeitet: Aus seiner Entstehungsgeschichte ist das Theater der Unterdrückten politisch im Kontext der südamerikanischen Befreiungsbewegung verwoben und vom marxistischen Denken der damaligen Zeit geprägt. Dies führt – zumindest im Original – zu einer klaren „dichotomischen“ Unterscheidung zwischen „Unterdrückten“ und (ohne sie explizit zu erwähnen) Unterdrückern und zu einer klaren Parteilichkeit im weiteren dialogischen Prozess. In Betrachtung ethischer Haltungsfragen (systemisches Herangehen, Allparteilichkeitsfragen) aber auch im Hinblick auf die Anwendbarkeit in unterschiedlichen Beauftragungsverhältnissen, ist diese Herangehensweise in der Supervision nicht haltbar, wie Anne Keiner ausführt. Supervision steht vielmehr in der Gefahr, vor ökonomischen Erwartungshaltungen und angesichts der bereits erwähnten zunehmenden Komplexität in Abhängigkeit von Zielsetzungen zu geraten, die außerhalb der direkten Beziehung zwischen Berater*in und Klient*in stehen – und letztlich damit irrelevant zu werden. Beide Ansätze stellen Extrempole dar, die von der Autorin deutlich hinterfragt werden.

Non-Direktivität und Dialog

Zunächst untersucht Anne Keiner jedoch bestehende Verbindungen von Supervision (bzw. Beratung im weiteren Sinn) mit theatralen Methoden. Wenig überraschend, existiert bereits ein Praxisfeld, auf das sie hier zurückgreifen kann. Insbesondere im handlungsorientierten Rahmen und beim körperorientierten Arbeiten können theatrale Methoden unterstützen. Verbindungslinien sind beispielsweise: der non-direktive begleitende und dialogisch orientierte Moderationsansatz in beiden Zugängen – der in entsprechenden Beratungssettings der*dem Supervisor*in zugesprochen wird. Im Theater der Unterdrückten entspricht dies der Aufgabe des „Jokers“, die in ihrem inhaltlichen Anspruch nicht unterschätzt werden kann. Leider wird in dem Buch nicht dargestellt, wie die Rolle des Jokers in diesen dialogischen und non-direktiven Vorgängen besetzt wird. Weitere Verknüpfungen zieht Anne Keiner mit anderen Ansätzen der Theaterarbeit (Psychodrama, Theater der Lebendigen usw.) bzw. der Beratungsarbeit (TZI und Gestalt) und ordnet das Theater der Unterdrückten entsprechend ein.

Empowerment und Emanzipation

Abschließend widmet sich Anne Keiner den Empowerment- bzw. emanzipatorischen Ansätzen der beiden Arbeitsstile. Dies tut sie einerseits in einer großen Behutsamkeit und Achtung für die jeweilige Entstehungsgeschichte, andererseits in einer klaren eigenen Positionierung gegen die ideologisch unkritische Übertragung der politischen Haltung auf das jeweils andere System.

So untersucht sie kritisch die These, dass Unternehmenstheater Systeme stütze, die das Theater der Unterdrückten doch ideologisch hinterfrage. Dem stellt sie den möglichen Wunsch nach Veränderung und die Irritation des Neuen durch Ansätze des Theaters der Unterdrückten entgegen und plädiert für eine differenzierte Betrachtungsweise der Unternehmen im Hinblick auf ihre Motivation, Veränderungsprozesse einzugehen und auf die Funktionalität und Anregungsimpulse, die Methoden des Theaters der Unterdrückten liefern könnten. Im Hinblick auf die Beratung selbst sieht Anne Keiner eine grundsätzliche Parteilichkeit als Widerspruch zur systemischen Herangehensweise. Gleichzeitig fühlt sie sich der ethischen Herausforderung verbunden, dass Supervision immer ein emanzipatorisches Element innewohnt, einerseits die ganzheitliche Entwicklung der Supervisand*innen als Orientierungspunkt zu nehmen, andererseits gesellschaftliche Einflussfaktoren auf das Beratungssystem ernst zu nehmen und Möglichkeiten der Resilienz gegen diese Einflussfaktoren – innerhalb des gegebenen Rahmens – zu entwickeln. Zu Ambivalenzen und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren eigenen Kollegialen Beratungskreis – ein etabliertes Instrument zur Reflexion, das auch Anne Keiner als Unterstützungsmöglichkeit darstellt. Innerhalb dieses Spannungsfeldes kann das Theater der Unterdrückten sowohl die eigene ethische Positionierung unterstützen, als auch anwendungsorientiert Methoden für die Handlungsorientierung und das Empowerment der Klient*innen oder auch des gesamten Klientensystems liefern – im letzteren Fall sicherlich im Rahmen von umfassenderen Organisationsentwicklungsprozessen.

Anne Keiner hat ein schönes und gut lesbares Buch geschrieben. Die beiden Heimatländer ihrer Praxis – die systemische Supervision und das Theater der Unterdrückten – hat sie in ihrer jeweiligen Eigenheit nachvollziehbar dargestellt und dann – unter Zuhilfenahme weiterer Praktiken und Arbeitsansätze miteinander verflochten aber auch die Grenzen aufgezeigt. Mir war insbesondere die systematische und konkrete Darstellung des Theaters der Unterdrückten ein Genuss zu lesen. Die Bestandsaufnahme der Verknüpfungsmöglichkeiten von Theatralität und Beratung weisen eine anregende Bandbreite und vielerlei Übertragungsmöglichkeiten in die alltägliche Praxis auf.

 

Bibliografie

Anne Keiner: Das Theater der Unterdrückten als Impuls für eine emanzipatorische Supervision
Paperback, 162 Seiten, 19,90 Euro
Erschienen im Ibidem-Verlag: Berliner Schriften zum Theater der Unterdrückten

https://www.ibidem.eu/de/reihen/kultur/berliner-schriften-zum-theater-der-unterdrueckten.html

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