Wir haben nichts anderes beseitigt als das blinde, irrational autoritäre Gehabe, das sich produktivitätsmindernd auswirkt.

Mit diesem Zitat beschreibt Ricardo Semler, was sein Maschinenbau-Unternehmen SEMCO vor über 50 Jahren dazu bewegte, neue Wege zu gehen. Seitdem wurde in zahlreichen Eigenversuchen die „Technologie der Soziokratie“ weiterentwickelt – und so auch in diesem SOCIUS labor. 

Vivian Breucker (Offene Schule Köln) und Nicola Kriesel (SOCIUS Organisationsberatung) haben zu einem 4-stündigen Labor eingeladen, in dem wir gemeinsam mit 20 anderen Menschen in soziokratische Prinzipien eintauchten und Erfahrungen aus der Praxis teilten. 

Nach einem kurzen Input zum zweiten und dritten soziokratischen Prinzip (semi-autonome Kreise und doppelte Verknüpfung) ging es weiter mit einem Praxisgespräch, in dem Vivian Breucker ihre Erfahrungen soziokratischer Praktiken an der Offenen Schule Köln teilte. Die Offene Schule Köln ist eine anerkannte Ersatzschule in freier Trägerschaft und gibt Schüler:innen vom ersten bis zum dreizehnten Schuljahr die Möglichkeiten im Rahmen des Bildungsplans sich weitgehend selbstständig auf diverse Schulabschlüsse vorzubereiten. Dabei spielen Inklusion und Diversitätssensibilität ebenso eine Rolle wie Eigeninitiative und Bildungsgerechtigkeit in Bezug auf die Bedarfe einzelner. 

Semi-autonome Kreise

  • Jeder Kreis ist eine semi-autonome Einheit, dem ein Teil der Verantwortung und Arbeit delegiert wird, um das gemeinsame Ziel zu erreichen.
  • Kreise haben neben den gemeinsamen Organisationszielen, noch eigene Ziele/Purpose und eine Festlegung, an welcher Stelle die Autonomie endet. (Schnittstellen/Synergien).
  • Kreismitglieder sind gemeinsam für die Erreichung des Zieles und die Umsetzung der Aufgaben verantwortlich.
  • Auch in den Kreisen wird im KonsenT entschieden.
  • Kreismitglieder sind nicht nur in ihrer Fachkompetenz gefragt, sondern lernen organisationale Verantwortung zu übernehmen. 
  • um “Organisation zu produzieren” ist es sinnvoll, z.B. zu lernen, wie schwerwiegende Einwände argumentativ begründet werden (am Ziel ausgerichtet).  Vertrautheit mit dem Verfahren der KonsenT-Entscheidung ist wichtig.
  • wiederholtes Überprüfen von Entscheidungen: Leiten, Tun, Messen und ggf. verändern. Das wird im Logbuch der Entscheidungen festgehalten.

Doppelte Verknüpfung

  • Grundsätzliche Idee: Um die Verbindung zum nächsthöheren Kreis zu halten, nehmen jeweils zwei Menschen aus dem Kreis an den Beschlussfassungen des nächsthöheren Kreises teil. 
  • eine Organisation braucht in der Regel mehrere Kreise, um ihre Komplexität abbilden zu können, sowie Verantwortung und Arbeit zu teilen
  • Gleichzeitig braucht es Wege, um die Dynamik der einzelnen Kreise auf die anderen “übertragen” zu können. 
  • Es wird von “nächst höheren Kreisen” gesprochen, mit denen diese Verbindung (doppelte Verknüpfung) bestehen soll. 
  • Diese Person sind 
    • die leitungsgebende Person
    • eine delegierte (gewählte) Person
  • Hierdurch soll sichergestellt werden, dass der dynamische Prozess nicht unterbrochen wird, sondern Informationen, Spannung und Macht fließen können. 

Zu den inspirierenden Erkenntnissen aus der Praxis, zählen Einsichten wie:

  • Die Qualität des „soziokratischen Zuhören“ führt zu nachhaltigeren Entscheidungen, weil nicht nur die formalen Ergebnisse, sondern auch Sorgen und Perspektiven, die in einem Kreis geäußert werden, durch die Delegierten in den nächsthöheren Kreis mitgenommen werden. 
  • Bei der Einführung soziokratischer Praktiken muss die traditionelle Führung der Organisation mit an Bord sein – sonst hat die Soziokratie keine Chance. Dies gilt interessanterweise insbesondere auch für nicht-hierarchische Organisationen, in denen es auch immer Menschen gibt, die mehr Macht und Einfluss als andere haben. 
  • Sich nicht willenlos an soziokratische Vorgaben binden, sondern den Wechsel von soziokratischem Kreisgespräch und anderen Gesprächformaten zulassen. Formale soziokratische Kreisentscheidung und Konsent, z. B. nur wenn es um zukunftsweisende, essenzielle Entscheidungen geht, die eine hohe Verankerung brauchen.
  • Bei Entscheidungsprozessen immer wieder die Frage ins Bewusstsein holen: „Ist es gut genug für jetzt? Und sicher genug, um es auszuprobieren?“. Sich vor Augen führen, dass Antworten gefunden werden sollen, den nächsten Schritt zu gehen. Nicht Antworten, die 10 Jahre gelten müssen. 
  • Das Format der Entscheidungsrunden will geübt sein, hier ist die knackige und feste Formatierung hilfreich:
  1. Inforunde (1-2 mal)
  2. Meinungsrunde (2-3 mal)
  3. Vorschlag
  4. Einwandrunde
  5. Modifizierung
  6. Konsentrunde
  • Klarheit: Klar festlegen, welche Treffen verpflichtend für wen sind und welche Treffen freiwillig. Z. B. unterscheiden zwischen selbst-organisiertem Arbeitskreis (gibt sich eigene Regeln der Verbindlichkeit) und Leitungskreis (an dem Personen mit Leitungsaufgaben verpflichtend teilnehmen). Eine gute Visualisierungen der Entscheidungsstrukturen sind sehr hilfreich, wie z. B. die folgende Übersicht Offenen Schule Köln:

Neben praktischen Tipps bot das Labor auch Raum für Selbsterfahrung. Es kam unter anderem die Frage auch: “Wie vielen Personen kann ich in einer Kreismoderation zuhören? Was ist meine Obergrenze, bevor ich gedanklich abdrifte?” Die Antwort auf die Frage kann auch davon abhängen, was ich mir und meinen Kolleg:innen im Kreis zutraue. Und das wiederum brachte die Einsicht, dass die Kreisgespräche einen gemeinsamen Lernraum bieten, in dem wir die Praxis einüben, Runden mit 30 Personen ebenso energetisierend zu gestalten, wie mit sieben Personen.

Rückmeldungen aus der Abschlussrunde des Labors waren: 

  • ich habe viel gelernt, vor allem zu erleben, wie toll es ist im Kreis nacheinander zu sprechen, hat deutlich gemacht, dass alle den Raum halten
  • was ich hier lasse: meine Idee, dass Selbstorganisation Leitung überflüssig macht
  • Dass Bedenkenträger:innen in den Kreisen explizit willkommen sind, weil sie auf etwas hinweisen, was noch übersehen wurde, ist ein Mindshift
  • immer wieder: die Kraft des Kreises am eigenen Leib zu erfahren, ist so bereichernd, und auch entspannend. Dadurch kann Neues entstehen.

Insgesamt war die Stimmung nach vier Stunden SOCIUS labor inspiriert und hoffnungsvoll und nicht nur die Teilnehmenden hatten Lust auf mehr Soziokratie bekommen, sondern auch die Einladenden. 

Stay tuned!

Ressourcen

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