Was hat dich geprägt?
- Die Frage nach dem Mythos einer Organisation? Es gibt in jeder Organisation Mythen, die immer und immer wieder erzählt werden. Diese zu entschlüsseln und sich ihrer bewusst zu werden, hat mich geprägt.
- Meine iranische Mitbewohnerin, die eine krasse Feministin ist und im Knast schon gehungert hat, hat mich geprägt, ihre Geschichten und ihre Art in der Welt zu sein.
- Die Idee selbstbestimmt zu leben – hin zu einer Utopie.
- Mich prägen die Themen Klimawandel und Trauer. Welche kollektiven Prozesse brauchen wir um die Zerstörung unseres Planeten zu betrauern?
- Die frühe Politisierung in jungen Jahren, als ich am Rande eines Großflughafens aufwuchs, für dessen Erweiterung quadratkilometerweise Wald gerohdet wurde.
Das sind nur einige der 20 Antworten auf die Frage in der Einstiegsrunde zum SOCIUS labor “intergrative Leitbildentwicklung” mit Jens Hartmann und Josephine Ulrich.
Josephine war interne Multiplikatorin im Leitbildentwicklungsprozess der großstädtischen Verwaltung in der sie arbeitet, Jens ist externer Berater, der eben jene Verwaltung in ihrem Leitbildprozess begleitet hat. Ein spannendes Duo mit unterschiedlichen und sich ergänzenden Perspektiven.
Der Sinn und Zweck von Leitbildern
Und darum geht es bei der Leitbildentwicklung auch immer wieder: verschiedene Perspektiven, unterschiedliche Prägungen, vielfältige Lebenserfahrungen, multiple Professionen – alle versammelt in einer Organisation und im besten Fall mit einer gemeinsamen Idee versehen, wie und aus welchem Grund wer mit welchem Ziel arbeitet. Das gilt für kleine Vereine, Start ups und aktivistische Verbünde genauso wie für Stiftungen, Unternehmen, Wohlfahrtsverbände und eben auch Verwaltungen.
Leitbilder wollen Orientierung bieten. Sie sind eine Richtschnur für Entscheidungen, sie dienen der Identitätsstiftung, sie richten Aktivitäten aus, sie sollen ein Kommunikationsmittel sein und manchmal sollen sie auch eine Meßlatte für Ergebnisse sein.
Der Verwaltungskompass entsteht
In einer Verwaltung mit 2500 Mitarbeitenden erscheint es wie eine Mammutaufgabe, diesen Erwartungen gerecht zu werden.
Zum Glück gibt es Partizipation! Und Delegation.
Josephine war in ihrer Verwaltung eine von 50 Multiplikator*innen, die aus allen Bereichen der Stadtverwaltung kamen und mit den externen Begleiter*innen die Kernarbeit in der Leitbildentwicklung erledigten. Ihre Aufgabe war immer wieder dafür zu sorgen, die Ideen, Bedarfe, Hoffnungen und Erwartungen aus ihren Abteilungen mit in den Prozess einzubringen. Dabei war verabredet immer mit drei Perspektiven zu arbeiten: ökologisch, ökonomisch und sozial.
- Anspruchsgruppen: Für wen und mit wem arbeiten wir?
- Bedarfe: Welche Erfordernisse, Bedürfnisse und Mängel erkennen wir?
- Kompetenzen: Was können wir richtig gut?
- Mission: Was ist unser Auftrag?
- Vision: Wie sieht die ideale Verwaltung aus?
- Rolle: Wer sind wir? Womit identifizieren wir uns?
- Werte & Prinzipien: Wie handeln wir nach innen und nach außen?
In diesem Prozess haben die Multiplikator*innen insgesamt sieben gemeinsame Workshoptage gehabt – für jede Frage einen Tag. Zusätzlich gab es noch mehrere Großveranstaltungen für die Mitarbeitenden, die ihre direkte Beteiligung gewährleisten sollte. Hier haben in der Regel 10% der Mitarbeitenden teilgenommen.
Hier hat Jens sich von den Kolleg*innen des Terra-Instituts inspirieren lassen.
In einem Austausch unter den Laborteilnehmenden zu ihren Erfahrungen in der Arbeit mit Multiplikator*innen – insbesondere in der kommunalen Verwaltung – kam heraus:
- Es gibt oft Angst und Widerstände vor Partizipation in den Leitungen, Partizipation wird mit dem Abbau von Hierarchien verwechselt
- Wir brauchen ganz viel Storylistening, in Gruppen- und Einzelinterviews, Geschichten wollen nicht nur erzählt werden, sondern vor allem gehört.
- Kleine Gruppen laden ein, dass alle was sagen, aber es gibt auch mehr sozialen Druck etwas sagen zu müssen.
- Meistens wird der Entwicklungsbedarf in Notsituationen gesehen, ohne Not werden solche Prozesse als “Störungen im Betriebsablauf wahrgenommen.
- Gerade in Kommunen und Verwaltungen gibt es verbriefte Rechte für Bürger:innen, über die wird viel zu wenig gesprochen oder sich darauf bezogen, stattdessen wird die Energie in Auflösung von Widerstand aufgebracht. Die Haltung in der Verwaltung müsste doch “Dienstleistung für Bürger:innen” sein
- kaum so etwas ist so umkämpft wie Personal, auch in der Verwaltung, Welches Amt hat wieviele Planstellen?
Wer sind wir?
Ein weiterer Schritt im SOCIUS labor war eine narrative Übung, die in Leitbildentwicklungsprozessen angewandt werden kann:
Ich hatte das große Vergnügen, diese Übung mit Wera und Amelie aus der Wigwam eG machen zu dürfen und Geschichten über SOCIUS erzählen zu dürfen. Die Stichworte die Wera als Beobachterin/Zuhörerin mitschrieb und uns zurückmeldete, waren
Socius ist
- verrückt
- authentisch
- vertrauensvoll
- transparent
- tief und ernsthaft
- hat schmerzhafte, trennende und stärkende Transformation hinter sich
- aufmerksam
- nachhaltig
Mit dieser Rückmeldung entstand quasi eine neue Geschichte, die wiederum Amelie in ganze Sätze fasste. Dabei kam heraus:
“Socius ist Fan langer Prozesse – dafür sind sie nachhaltig. Wir sind mehr als Kolleginnen, wir sind Weggefährtinnen und Freundinnen. Wir sind eine Genossenschaft und haften alle gemeinsam. Egal wer von uns berät, trägt Socius in sich. Wir gehen in die Tiefe und sind einfühlsam – wir hören zu. Wir vertrauen uns und in eine gemeinsame Zukunft.“
Diese kleine Beschreibung schickte ich noch am selben Abend in unseren Teamchat. Die Reaktionen waren: 😍🤩💫🙌
Diese Übung hat uns allen im Labor sehr gefallen und wir waren uns einig, die dass wir sie in diversen anderen Settings nutzen werden.
Und warum jetzt integrativ?
Jens hat hier verschiedene Ansätze der Leitbildentwicklung zusammengebracht. Der stets notwendige systemische Blick wird kombiniert mit ebenso nötigen partizipativen Settings und angereichert durch narrativen Übung mit Perspektive auf einen erweiterten Nachhaltigkeitsbegriff.
Insbesondere um Nachhaltigkeit zu gewährleisten bedarf es auch nach Abschluss des Leitbildentwicklungsprozesses Aktivitäten, die das Leitbild zu einem lebendigen Instrument der Organisation werden lassen. Hierfür kann es z.B. einmal jährlich einen organisationsweiten Leitbildtag geben (mir ist in den 20 Jahren meiner Arbeit bei SOCIUS erst einmal eine Organisation begegnet, die das tatsächlich macht), es könnten aber auch Patenschaft für die Themen des Leitbildes verteilt werden, die den Auftrag haben, das jeweilige Thema organisationsintern wach zu halten. Auch der Guerilla Gardening Prozess kann hier von Nutzen sein.