Spurensuche zur jüngeren deutsch-deutschen Geschichte in Organisationen

Schon die Einstiegsrunde ließ erahnen, dass dies ein besonderer Abend werden würde. Eine kleine feine Gruppe von 6 Personen hatte sich zum SOCIUS labor live mit anschließendem Ausklang am Kaminfeuer eingefunden, um zu erkunden, wo und wie uns eigentlich das Thema Ost-West in unseren Organisationen heute noch beschäftigt. 

Bei der Sammlung der Fragen, welche die Teilnehmenden in Bezug auf das Thema mitbrachten, fand sich nichts an üblichen Allgemeinplätzen, sondern sofort ein Vorstoß in die Tiefen persönlichster Geschichten, Verletzungen und fundamentaler Auseinandersetzungen.

„Wie kann ich dem Schmerz begegnen?“

 „Was wäre gewesen, hätten wir verschiedene Sprachen gesprochen?“ 

„Warum werden Einigungsprozesse, die auf Augenhöhe liefen, nicht erzählt?“ 

„Hat es irgendetwas verändert im übernehmenden System West?“ 

„Wie und wo können wir uns (endlich?) (wieder?) wirklich begegnen, in Kontakt kommen und damit vielleicht besser verstehen?“

Falls wir uns bis dato gefragt haben sollten, ob das Thema 35 Jahre nach der Wiedervereinigung wirklich noch eine Relevanz hat, wurden wir unmittelbar eines Besseren belehrt. Dabei war es nicht das Anliegen und schien auch nicht notwendig, als Ausgangspunkt des Austausches die persönlichen Geschichten voreinander auszubreiten. Es war wie ein stilles Einverständnis und Wissen umeinander: Natürlich gibt es schmerzhafte Erfahrungen, Prägungen von Verlust, Entwurzelung und Abwertung. Und Schulter an Schulter reihen sich gleichfalls auch Erfahrungen von Freiheit, Glück und nie dagewesenen Chancen. 

Schnell kamen wir zu dem Schluss, dass die biographischen Prägungen in Ost und West noch immer allgegenwärtig sind und unser Miteinander im Privaten wie im Arbeitsalltag prägen. Dabei gibt es auch 2024 noch Tendenzen, zu meinen, stereotypes Verhalten zu entdecken und daraufhin Personen vorschnell in die Schublade Ossi-Wessi zu stecken. Biographischen Prägungen begegneten uns dabei über alle Alterskohorten hinweg und führte uns zu der Frage, ob diese zum Teil innerhalb von Familien weiter reproduziert werden oder ob es so etwas wie vererbte Identitäten gibt? So war die zum Teil noch immer erfolgende (wenn auch manchmal eher unterbewusst vorgenommene) Kategorisierung bei der Bekanntschaft mit neuen Menschen „Ist sie/er aus dem Osten oder Westen?“, durchaus ein vertrautes und noch immer beobachtbares Phänomen. Eine Schlussfolgerung unserer Diskussion war, dass die wahrgenommenen Unterschiede – ob über Stereotypisierung überhöht oder nicht –in der eigenen Wahrnehmung oft zu Unsicherheiten im Umgang mit den unterschiedlichen biographischen Prägungen führen.

Die zunächst neutrale Benennung von Unterschieden fand laut der Teilnehmenden einen Ausdruck in Erfahrungen von einerseits stereotypen Zuschreibungen ostdeutschen Identitäten gegenüber, Erfahrungen von Verlust, Zurücksetzung, Herabwürdigung, Chancenungleichheit und Diskriminierung. Verletzungen zeigten sich dabei aber durchaus auch auf beiden Seiten – ohne dass es darum ging, die Erfahrungen auf der einen Seite gegen die auf der Anderen gegenrechnen zu wollen. Es wurden auch Erfahrungen des otherings benannt von Personen in eindeutig anders-deutsch sozialisiert-dominierten Settings. Im Vordergrund stand dabei vor allem das als gescheitert erlebte Bemühen um echte Begegnung, Verstehen und am Ende auch um Zugehörigkeit. 

Schmerzhaften biographischen Erfahrungen und Wut über gesellschaftliche Ungleichheiten stand gleichzeitig ein Erleben einer gewissen eigenen, aber auch gesellschaftlichen Sprachlosigkeit gegenüber. Im Raum stand die Aussage, sich nicht einreihen zu wollen in eine „Olympiade des Betroffenseins von Diskriminierung“, was in der Tendenz dazu führen kann, persönliche Triggerpunkte als nicht „angemessen genug“ einzustufen, um das Ostdeutschsein wirklich zum Thema zu machen. 

Die große Frage, die dabei benannt wurde, lautete: Wie hindern uns die Erfahrungen der letzten 30 Jahre, uns vorbehaltlos zu begegnen? Wie kann echte Begegnung auf Augenhöhe aussehen?

Als eine zentrale Voraussetzung machten wir hier einerseits eine Artikulationsfähigkeit zu erlebten Verletzungen aus, ohne dabei dem als stereotyp erlebten Bild des „Jammer-Ossis“ zu entsprechen. Auf der anderen Seite wurde aber auch ein tiefes Bedürfnis benannt, dass in politischen und gesellschaftlichen Kontexten Anerkennung und auch Bedauern über die gemachten Erfahrungen von Abwertung und Diskriminierung vieler Ostdeutscher angemessen artikuliert wird. Eine symbolträchtige Handlung mit Strahlkraft könnte hier einen Beitrag leisten, alte Wunden zu heilen. 

Zu welchen Schlussfolgerungen führte uns der tiefgehende Austausch am Ende des Abends? 

Die fundamentalste Erkenntnis lautete dabei: Wir sind alle Menschen mit einer unterschiedlichen Geschichte. Es braucht immer wieder Gewahrsein darüber, es braucht Neugier zu verstehen und Mut, dafür Sprache zu finden. Um in ein offenes Gespräch zu kommen, wäre eine Voraussetzung, Nicht-Augenhöhe als Ausgangsbasis anzuerkennen. Denn sowohl gesamtgesellschaftlich als auch im unmittelbaren zwischenmenschlichen Kontakt fällt es den Privilegierteren (den Besserverdienenden, den durch ererbten Wohlstand Abgesicherten, Menschen in Top-Positionen, Rang-Höherstehenden etc.) immer schwerer, die Größe soziale Ungleichheiten wahrzunehmen. Aber auch untere Einkommensschichten haben eine verzerrte Wahrnehmung gegenüber besserverdienenden Berufsgruppen (siehe: Christoph Butterwege, Aus Politik und Zeitgeschichte: Ungleichheit in der Klassengesellschaft, 37-38, 2022. Siehe auch den Blogbeitrag von Nicola Kriesel zur Machtkritik). Vielleicht bräuchte es perspektivisch irgendwann so etwas wie „Critical West-ness“? Oder zumindest die Integration des Ostdeutschseins in die Diversitätskategorien (die Zuordnung zur Diversitätskategorie Ethnische Herkunft und Nationalität ließe sich argumentieren, wenn es eine Anerkennung der Tatsache gäbe, dass auch Ostdeutsche über eine Migrationserfahrung ohne Ortswechsel verfügen). Um zwischenmenschliche Gespräche, Reflektion und Austausch in Teams oder auch politische Debatten fruchtbar zu gestalten, bräuchte es vor allem eine Bereitschaft zu mehr Differenziertheit – um die Ambivalenz der unterschiedlichen Gefühls- und Gemengelagen navigieren zu können. „Wir müssen wieder lernen, viel mehr zu fragen, ohne bereits zu glauben, die Antwort zu wissen“, lautete ein persönliches Fazit. 

Und das auch ernüchterte Resümee am Ende lautete: Was wir heute angerissen haben, hat höchste politische Relevanz, ist integraler Teil der großen Debatten! 

Autorin Joana Ebbinghaus

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