Ich sitze am Hangzhou International Airport nach einer Akademie-Woche an der Zhejiang University. Die 9 Millionen Metropole Hangzhou liegt 190 km südwestlich von Shanghai und gilt als eine der schönsten Städte Chinas. Wie überall im Land wird auch hier mit großer Entschlossenheit die bauliche und kulturelle Entwicklung der Stadt vorangetrieben. China wandelt sich in atemberaubendem Tempo.

Im Flieger die üblichen Sicherheits-Hinweise von aus dem Bildschirm lächelnden Stewardessen: nicht rauchen, Handys aus, anschnallen bitte. Der Film endet mit der freundlich intonierten Ermahnung: „Please be aware that violations are recorded on video and will be prosecuted and in severe case may result in imprisonment“. Der Satz bringt es auf den Punkt: 1. Hier sind sinnvolle Spielregeln, es wäre gut sich daran zu halten. 2. Nichts bleibt unentdeckt (die rund 180 Millionen Überwachungskameras im Land führen übrigens auch dazu, dass man sich in China auf eine Weise recht sicher fühlt – Wim Wenders’ „Ende der Gewalt“ lässt grüßen). Und 3: Im schlimmsten Fall ist da immer noch das Gewaltmonopol des Staates. Der gedankliche Blick schweift in die Nord-West Regionen des Landes.

Wie schön: Soziales Feedback!

Ich bin nicht der einzige, der hier oft an „Black Mirror“ denken muss. Ich sehe diese Serie düsterer Szenarien der nahen digitalen Zukunft mit einer Faszination, die Balint „Angst-Lust“ nennen würde. Social Fiction ist nun mal in der Regel dystopisch, warum also nicht gleich in die Vollen gehen? Dabei scheint mir immer öfter hier in China die Wirklichkeit der Fiktion bereits ein paar Schritte voraus. Als ich die Black Mirror Folge „Nosedive“ zum ersten Mal sah, schien mir die dort beschriebene soziale Verhaltenskontrolle als düstere Projektion. Das seit ein paar Jahren in der Erprobung befindliche System der Social Credit Points steht dem in nichts nach.

Es basiert auf einer Währung gesellschaftlicher Anerkennung, die durch Wohlverhalten aufgeladen und durch „Verfehlungen“ mit Abzügen belegt wird. Der Credit Score bestimmt den Zugang zu Rechten und Privilegien – von der Kreditwürdigkeit, Vergabe von Ausbildungsplätzen und öffentlichen Jobs bis hin zu schnellem Internet, dem Erwerb von Flugtickets oder dem Kauf von Autos. Als Wohlverhalten sind zum Beispiel soziales Engagement, gesundheitsförderlicher Lebenswandel, der Kauf inländischer Waren und weitere Akte einer „positiven Gesinnung“ eingestuft. Abzüge gibt es für Regelverstöße (von Ordnungswidrigkeiten bis hin zu falscher Mülltrennung) und politisch nicht-konformes Verhalten im öffentlichen Raum, zuvorderst in den Sozialen Medien. Bislang ist das ganze halbwegs freiwillig und spielt sich in Pilotregionen und auf der Bezahlplattform AliPay ab. Ab 2020 wird das System auf einem hochintegrierten digitalen Rückgrat flächig implementiert.

Was tut ein Spiegel? Er spiegelt!

Unverkennbar steckt ein Stück Konfuzius in diesem ausgeklügelten Modell der Micro Governance. Dennoch liegt die besondere Qualität des chinesischen Ansatzes eher in der perfektionierten Form als in einer unerhört neuen Zielstellung. Wie die Ausrichtung von Verhalten funktioniert, ist seit jeher eine Lieblingsfrage der angewandten Psychologie, auch und gerade im aufgeklärten Abendland. Punktesysteme kennt man ja bereits aus der Schule, wo es fürs Tafel-Abwischen Bienchen und fürs Stören Punktabzüge gibt (mir schien das immer eher unbeholfen, und irgendwie tun einem Lehrer*innen ja auch ein bisschen Leid). Die gepunktete Linie zieht sich ins Arbeitsleben in Form der Personalbeurteilung fort, die v.a. über monetäre Anreizsysteme Alignment und Leistung des *der einzelnen Mitarbeiter*in sichern soll. Das ist zwar alles oft noch etwas hölzern, aber die Digitalisierung kommt auch hier langsam um die Ecke. Das gerade erschienene Heft der Zeitschrift für Organisationsentwicklung preist die glorreichen Chancen der Big Data Analytik für Management und OE (übrigens ohne einen Funken kritischer Reflexion, was mit Daten sonst noch so alles angestellt werden kann. Shohana Zuboff hat den verstörenden Begriff des „Surveillance Capitalism“ geprägt – der ist hier noch nicht angekommen). Nicht zuletzt findet sich auch jede Menge Verhaltenssteuerung im institutionellen Alltag unserer schönen Demokratie: von den Punkten in Flensburg als nicht-monetäre Verkehrsdisziplinierung über die Bewertungs-Scores der Schufa bis zu den Bonuspunkten, mit denen meine Krankenkassenbeiträge sinken, wenn ich zum Sportverein oder zur regelmäßigen Zahnprophylaxe gehe. Das finde ich alles ganz ok. Man könnte sagen, China ist in diesem Punkt nicht moralisch hinterher, sondern lediglich technisch vorneweg. Wenn da nicht diese „letzte Konsequenz“ wäre.

Heiligt der Zweck auch diese Mittel?

Wir haben Flughöhe mit Kurs Berlin erreicht. Nüchternes Fazit in der Luft: Ich möchte unter einer zentral gesteuerten Verhaltensmodellierung ebenso wenig leben, wie im anschwellenden Micro-Targeting Dauerfeuer des Zuboff’schen Überwachungs-Kapitalismus oder der ökonomisierten Teilhabe, wie sie Jeremy Rifkin in „Access“ beschreibt. Wie bei allen (Sozial)Technologien lässt sich jeweils fragen, ob es die Formen oder die Ziele sind, die hier problematisch wirken? Und wie das überhaupt analytisch zu trennen ist?

Gedankenexperiment: Was, wenn all dies für einen ganz unzweifelhaft guten Zweck eingesetzt würde? Green Credit Points und Climate Analytica als Schnellwaschgang der Großen Transformation; Access-Steuerung als Policy Instrumentarium des Klimanotstands. Wäre das akzeptabel? Eigentlich nicht, aber „eigentlich“ frisst sich bekanntlich immer selbst… Schwarz-weiß ist das alles nicht – düster allemal.

Sinnvoll zusammen wirken

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