Opportunity Driven Development

Opportunity Driven Development

Wir haben keine Karte des vor uns liegenden Terrains – aber wir können unser Schiff so ausrüsten, dass wir Wind und Strömungen optimal nutzen.

Strategisches Roadmapping– ich bitte das Drama zu entschuldigen – hat ausgedient. Selbst sein aus der Zukunft blickender Verwandter, das Backcasting, wirkt angesichts heutiger Komplexität und Dynamik zunehmend staubig. Beide Methoden setzen auf lineare Kausalitäten und kontrollierbare Umfelder – Bedingungen, die in der realen Welt kaum noch gegeben sind. Unsere Wirklichkeit ist ein unwegsames Gelände über dem meist Nebel liegt. In solchen Situationen sind flexible Routen, Umwege und lernorientiertes Navigieren keine Schwächen – sie sind strategische Notwendigkeiten.

Opportunity Driven Strategy (ODS) – Chancenorientierte Entwicklung – bietet eine agile und ambitionierte Antwort auf diese Realität. Strategie wird hier nicht um Etappenziele herum geplant, sondern – geleitet von einer klar formulierten Strategischen Absicht – um konkrete, sich entwickelnde Chancen. Unterstützt wird diese Chancenorientierung durch die kontinuierliche Stärkung der organisationalen Zugriffs- und Handlungsfähigkeit. ODS löst damit die klassische Dichotomie von Marktorientierung vs. Ressourcenorientierung auf und verbindet Offenheit nach aussen mit innerem Fokus: aufmerksam für neue Chancen, gleichzeitig gezielt in der Entwicklung der organisatorischen Fähigkeiten, um diese Chancen zu nutzen. Das Ergebnis: ein lernorientierter Strategieansatz, der Vision und Pragmatismus vereint.

Bausteine der chancenorientierten Entwicklung

Im Zentrum des ODS Ansatzes stehen vier eng miteinander verzahnte Elemente:

Strategische Absicht

Die Strategische Absicht ist der Kompass der Organisation – eine ambitionierte Vision des Wandels, zu dem sie in den nächsten (+/-) 5 Jahren beitragen will. Sie ist bodennäher als ein klassisches Vision Statement und schafft Orientierung durch drei Dimensionen (nach Hamel & Prahalad 2005):

  • Direction: eine langfristige, klare Richtung;
  • Discovery: eine offene, erkundende Haltung;
  • Destiny: eine emotionale Resonanz, die Engagement weckt.

Die Strategische Absicht kann als Wirkungsnarrativ formuliert werden, konkretisiert durch 3–5 Wirkungsziele, die den angestrebten gesellschaftlichen Impact konkret fassen.

 

Chancen

Chancen entstehen überall – innerhalb wie außerhalb der Organisation. Sie reichen von neuen Förderlinien, politischen Veränderungen oder Markttrends bis hin zu internen Umstrukturierungen, innovativen Ideen oder neuen Allianzen.

Chancen lassen sich nicht langfristig planen, sondern müssen im Moment erkannt und genutzt werden – immer durch die Linse der strategischen Absicht (nicht jede Kirsche muss vom Baum gepflückt werden!). Typische Chancenfelder sind:

  • Marktchancen: Neue oder unzureichend adressierte Bedarfe
  • Technologische Chancen: Innovationen und Disruptionen
  • Regulatorische Chancen: Gesetzesänderungen und Policies
  • Betriebliche Chancen: Effizienz, Prozesse, Innovationen
  • Strategische Partnerschaften: Kooperationen, Allianzen

In der Strategieentwicklung werden zunächst relevante Chancencluster identifiziert. In den laufenden Strategiezyklen erfolgt dann die gezielte Beobachtung und Erschließung konkreter Gelegenheiten.

 Entwicklungsziele 

Die strategische Absicht ist bewusst so ambitioniert formuliert, dass sie die aktuellen Fähigkeiten der Organisation leicht überfordert (ein geplanter Strategic Stretch, im Gegensatz zum klassischen Strategic Fit, der auf das optimale Zusammenspiel vorhandener Kompetenzen mit bestehenden Marktchancen schaut). Aus dieser bewusst erzeugten Lücke zwischen Anspruch und Realität leiten sich Entwicklungsziele ab: sie beziehen sich auf die internen Kompetenzen, Strukturen und Prozesse, die aufgebaut oder transformiert werden müssen, um Chancen gezielter nutzen zu können – etwa schnelle Entscheidungsroutinen und fluide Ressourcenmodelle oder der Aufbau neuer Kompetenzfelder und Beziehungen. Die Entwicklungsziele bilden einen strukturierten Backlog für die Organisationsentwicklung über die gesamte Strategieperiode. In jedem Strategiezyklus werden dabei (+/-) 3 Entwicklungsziele bearbeitet.

Strategische Zyklen

ODS ersetzt fixe Roadmaps durch agile, rollierende Strategiezyklen. Alle 6–9 Monate reflektiert die Organisation:

  • Welche neuen Chancen zeichnen sich ab?
  • Welche Schritte passen zur strategischen Absicht?
  • Welche Fähigkeiten müssen wir jetzt weiterentwickeln?

So entsteht ein kontinuierlicher Lernprozess mit langfristiger Richtungstreue und kurzfristiger Anpassungsfähigkeit. 

Organisationale Ambidextrie

Während Chancenorientierung den ODS Ansatz prägt, werden Routineaufgaben und stabile Backbone Funktionen natürlich nicht abgeschafft. Viele Programme sind zudem durch langfristige Leistungs- und Förderverträge festgeschrieben und können nicht einfach chancenorientiert über den Haufen geschmissen werden. Organisationen brauchen mithin die als Ambidextrie bekannt gewordene Doppelkompetenz zu Exploration und Exploitation (also der innovativen Entwicklung von Neuem und dem effizienten Management des Bestehenden). Strukturell bieten sich dafür zwei Grundarchitekturen an:

  • Zweigleisige Architektur: Ein Teil des Teams sichert Stabilität im Regelbetrieb (mit klassischer strategischer Planung), ein anderer ist in wechselnden Feldern mit Innovation und der Entwicklung von Chancen betraut (im ODS Modell). Ressourcen werden dabei bedarfsgerecht zwischen den Bereichen verschoben. 
  • Integrierte Architektur: Alle Arbeitsbereiche sind chancenorientiert aufgestellt. Aufgaben mit stärkerem Routinecharakter werden v.a. in der Art und Weise der Umsetzung weiterentwickelt (How). Aufgaben mit flexibler Bindung werden entlang der Strategiezyklen auch inhaltlich neu aufgestellt (What).

 

Was ODS ist – und was nicht

ODS ist kein Freifahrtschein für Ad-Hocismus und planloses Reagieren und keine Absage an langfristige Ausrichtungen. ODS ist ein strukturierter Rahmen, um in einer komplexen, dynamischen Umwelt gezielt und mit strategischem Kompass zu handeln.

  • Exploration und Zielorientierung schließen sich nicht aus: Die Strategische Absicht schafft Fokus.
  • Anpassungsfähigkeit ist kein Kleindenken: ODS ermöglicht auch große Entwicklungssprünge.
  • Chancen zu ergreifen ist kein Umweg – es ist der Weg: Strategie entfaltet sich durch konkretes Handeln im Moment.

Viele Organisationen arbeiten längst chancenorientiert – oft mit gemischten Gefühlen zu den überkommenen Roadmaps in der Schublade und ohne die Stringenz kontinuierlicher Entwicklung. ODS gibt dieser strategischen Praxis eine Sprache und Struktur. 

Ein schlüsselfertiges Paket liefert der Ansatz allerdings nicht. Es braucht Adaptierung und Interpretation der zentralen Bausteine. Nicht zuletzt braucht es auch ein Stück Kulturentwicklung: Dazu gehören Risiko- und Fehlerfreundlichkeit, die Fähigkeit, Neues zu erkennen und die Bereitschaft, Etabliertes aufzugeben. 

Ich halte sehr viel von der Opportunity Driven Strategy, baue an verschiedenen Stellen an ihrer Umsetzung und freue mich immer über gute Gespräche dazu!

Weiterführende Literatur

  • Hamel & Prahalad (1994): Competing for the Future
  • Hamel & Prahalad (2005): Strategic Intent – Harvard Business Review
  • Peter Skat-Rørdam (1999): Changing Strategic Direction
  • Witek-Crabb (2022): Stretch and Strategic Misfit
  • Strategy Works: Strategic Opportunity Management

Dieser und weitere Texte in Englisch: Lost Navigator

Autor Andi Knoth

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Better work together

Better work together

How the Power of Community can Transform your Business

Enspiral Foundation

„Whatever the problem, community is the answer!“ Margaret Wheatley (Motto des Enspiral Gatherings Mai 2025 in Stolzenhagen)

Gemeinschaft ist ein Weg, Verbundenheit und Fokus zu vereinen: Zusammen den Ideen- und Handlungsraum zu weiten und zugleich die Komplexität der Welt durch eine Membran und einen gemeinsamen Sinn zu zähmen. SOCIUS ist so eine Community, die mich – auch über den engen Kolleg:innenkreis hinaus – bereichert und hält. Die Gemeinschaft auf dem Gut Stolzenhagen, wo einige unserer Retreats und Fortbildungen stattfinden, ist ein weiterer bedeutungsvoller Rahmen kollektiver Einbindung. Ein für mich relativ neues Bezugsfeld zwischen ideeller Professionalität und persönlicher Entwicklung ist die Enspiral Community.

Enspiral ist eine Gemeinschaft von Menschen, die sich gegenseitig darin unterstützen, sinn- und wirkungsvoll zu arbeiten. 2010 in Neuseeland gegründet, hat die Community mittlerweile über 300 Mitglieder, v.a. im Pazifischen Raum und in Europa. Aus verschiedenen Blickwinkeln – Tech, Entrepreneurship, Aktivismus oder Facilitation – ist der gemeinsame Nenner die Leidenschaft für zukunftsweisende gesellschaftliche Praxis und die Bereitschaft, sich selbst darin zu verorten und mitzuentwickeln. 

Dass sich in so einer Gemeinschaft viel Erfahrung und Wissen für nachhaltige OE findet, liegt auf der Hand. Enspiral hat diesen Schatz auf verschiedenen Wegen zugänglich gemacht – nicht zuletzt mit dem Kompendium „Better work together“.

Das Buch enthält 11 Essays sowie zahlreiche Ressourcen und Reflexionen zum Aufbau Intentionaler Communities, zur Praxis kollektiver Organisation und zu Formen kooperativen Wirtschaftens. Es ist keine geschlossene Konzeptdecke, sondern ein persönlich gerahmtes Mosaik aus Entwicklungsgeschichten und erfahrungsbasiertem Praxiswissen: How to Grow Distributed Leadership, Secrets of the Open Startup, Steps to Unfolding Purpose… die Titel und Unterüberschriften laden ein, inspiriert zu stöbern oder passgenau nach Wegweisern für spezifisches Terrain kollektiven Wirkens zu suchen. Das Buch ist eine gute Ergänzung zur akademisch-reflexiven Fachliteratur: die Enspiral People haben all dies erlebt und teils schmerzlich, teils freudvoll im Gehen entwickelt.

Das Buch ist online unter https://betterworktogether.co zu bestellen.

Fünf Print Exemplare geben wir gerne an Interessierte, die sich schnell bei uns melden, in der SOCIUS brief Community weiter. Schreibt uns einfach eine kurze Nachricht!

Autor Andi Knoth

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The Ministry for the Future

The Ministry for the Future

Eine Climate Fiction Reportage über Wege aus dem Klimakollaps von Kim Stanley Robinson (2020)

Die Beschäftigung mit „Futures“ scheint eines der Next Big Things im Feld Sozialer Entwicklung zu sein. Ich schätze, das kommt nicht daher, dass sich plötzlich sehr viel neuer Spielraum vor uns öffnet, sondern entspringt der Erkenntnis, dass ein rein adaptives „Kommen lassen“ fatal enden wird. Gerade in schicksalshaften Zeiten kommt es auf das Imaginieren und Gestalten wünschbarer Zukünfte an.

The Ministry for the Future ist schon ein paar Tage alt, hat aber nichts an imaginativer Ideen-Wucht verloren. Der SciFi Meister Kim Stanley Robinsons nutzt darin die gleiche U-Journey, die Frederic Laloux‘ Climate Action Programm „The Week“ nimmt: 1. Teil: We are Fucked. 2. Teil: Es gibt Alternativen! 3. Teil: Was hat das mit mir zu tun? 

Die Rahmenstory des Buches ist schnell erzählt: Im Zuge der internationalen Zielverfehlungen zum Pariser Agreement und eskalierenden Auswirkungen des Klimawandels der wird von der COP in den 2030er Jahren eine UN Agentur gegründet, deren Aufgabe nichts Geringeres als die Abwendung des Klimakollaps ist – das „Ministerium für die Zukunft“. Die Geschichte folgt dem Ministry Team durch diese Sisyphusaufgabe und beschreibt das mühsame Anschieben, das persönliche Hadern, das Scheitern und Neudenken und letztendlich die langsam aufscheinende Früchte ihrer Arbeit.

Die 106 kurzen Kapitel des Buches ranken sich dabei je um einen spezifischen Interventionsansatz, der als Erzählung, Augenzeug:innenbericht oder Meetingprotokoll, mitunter auch als nüchterner Fachartikel oder als poetische Allegorie erfahrbar wird. Vor meinem Facilitator-Leser Auge sortiert sich dieses wilde Kompendium der Ideen in drei Cluster – hier also eine kleine Taxonomie der vorgestellten Strategien: 

  • Staatliche und transnationale Regulierung: Progressive Steuerregimes, nachhaltig ausgerichtete volkswirtschaftliche Bewertungssysteme (schonmal vom Discount Faktor gehört?) oder der fiskale Ansatz der Quantitativen Lockerung anhand einer international  emittierten „Carbon Coin“. 
  • Geoengineering: Maßnahmen wie das Austragen von Schwefelpartikeln in die Atmosphäre zur Begrenzung der Sonneneinstrahlung, die physische Abgrenzung bedrohter Ökosysteme oder das Abpumpen von Schmelzwasser unter Gletschern, um deren Abrutschen in die Ozeane zu verlangsamen. 
  • Soziale Bewegung: Die Ausbreitung und Vernetzung regenerativer Modelle und nachhaltiger Konsummuster (z.B. 2000 Watt Society), die Formierung einer spirituellen Bewegung mit ökoreligiösen Zügen bis hin zu Formen des Ökoterrorismus, der durch Anschläge und  Sabotageakte auf Verhaltensänderungen und brandbeschleunigten Wandel im System abzielt.

Die Erkenntnis, dass systemische Veränderung sich aus einem Zusammenspiel aller drei Ebenen speist, liegt auf der Hand. Die ethische Frage, welche Mittel und Nebenwirkungen zur Rettung der Menschheit und der uns umgebenden Ökosysteme recht sind, bleibt dabei in ebendieser Hand als Stachel hängen. Es gibt keine einfachen Antworten. Klar ist nur: Es braucht nicht nur neue Wege, sondern auch neue Maßstäbe.

Trotz seiner düsteren Hintergrundbeleuchtung ist das Buch für mich ein Upper – ich habe lange nicht mehr eine so spannende Fiktion und ein so hoffnungsvolles Zukunftsbild zu den Krisen unserer Zeit gefunden. Wenn wir uns durch radikale soziale Transformation und beherzte Global Governance von unserem selbstgestrickten Schicksal emanzipieren wollen, dann brauchen wir mehr von dieser Art der Imagination.

Erschienen auf deutsch am 13.09.2023
Originaltitel: Ministry for the Future erschienen am 6.10.2020
Übersetzung: Aus dem Amerikanischen von Paul Bär
ISBN: 978-3-453-32286-8

Autor Andi Knoth

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Shared Leadership im Superpower-Kollektiv

Shared Leadership im Superpower-Kollektiv

Der Weg von hierarchischer zu gemeinsamer & geteilter Führung verläuft durch zerklüftetes Terrain. Wo Gründer:innen und langjährige Führungspersönlichkeiten die zentrale Steuerung „ihrer“ Organisation (freiwillig oder unfreiwillig) abgeben, wird im Anblick des verlassenen Chefsessels oft der Wunsch nach einer Post-Heroischen Kultur laut. Niemand soll in die Fußstapfen der alten Zentralfigur treten, niemand soll als Führung auf der Bühne stehen. Der Ball darf nicht zurückrollen… keine Macht für niemand!

Dabei gerät schnell aus dem Blick, dass Selbstorganisation nicht auf weniger Führung, sondern vor allem auf anderer – dezentraler und dynamischer – Führung basiert. Wenn wir den Hero-Begriff auf ein „Showing Up“ beziehen, das das Alltägliche überragt – auf die Bereitschaft, mit einer Superkraft in Verantwortung zu gehen, dann braucht Shared Leadership nicht weniger, sondern mehr Held:innen. 

Statt eines Post-Heroischen Modells könnte hierfür ein Pan-Heroisches Verständnis passend sein: Alle sind Heroes (in ihrer speziellen Art und Weise). 

Ein Team, das sich in dieser Art als Superpower-Kollektiv begreift, kann die besonderen Kräfte und Kompetenzen seiner Mitglieder fördern, nutzen und ins Schaufenster stellen.  Es kann die Beteiligten ermächtigen, ihre Superkräfte zu kultivieren und damit immer wieder – aber niemals dauerhaft – die Impulsbühne zu bespielen. Wenn dies gelingt, ist Macht nicht neutralisiert oder zerteilt, sondern steht der Organisation als Vielfaches und mit unterschiedlichsten Gesichtern zur Verfügung.

Sicher ruft der Pan-Heroismus auch neue Herausforderungen auf den Plan: Der flüssige Wechsel von situativer Führung zu situativem Folgen will gelernt sein. Alignment ist in einem polyzentrischen System kein Selbstläufer. Auch das Spannungsmanagement stellt besondere Anforderungen: Wo Raum ist für starke Persönlichkeiten, ist auch Raum für starke Reibung.   

Aber was wäre das Leben ohne Lern- und Spannungskurven? Wo die post-heroische Welt etwas träge und grau sein kann, ist die pan-heroische Welt so bunt wie ein Avengers Film. Das kann auch mal nerven, bringt aber definitiv Leidenschaft und Bewegung ins Spiel. The hero is gone, long live the heroes!

Wenn du mit deinem Team zum Superpower-Kollektiv werden willst, melde dich an zu unserer Lernexpedition: Selbst:Organisations:Entwicklung und entfalte deine Magie!

Autor Andi Knoth

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Bücher sind Lebensmittel

Bücher sind Lebensmittel

Liebe Leser:innen,

Bücher sind Lebensmittel“ – als der Berliner Prenzlauer Berg in den 90er Jahren noch Schauplatz subkultureller Aufbruchsstimmung war, prangte dieses Zitat an einer Hauswand der heutigen Danziger Straße. Damals galt Berlin als arm und sexy, Letzteres vor allem wegen seiner brodelnden Kulturlandschaft. Auch heute prägen leere Kassen das Stadtprofil, nur der Stellenwert der Kultur ist nicht mehr so eindeutig hoch: Mit einem haushalterischen Topfschnitt werden Kulturprojekte eingestellt, Kulturschaffende verlieren ihre Arbeit, und – der Cut geht diesmal auch an den etablierten Häusern nicht vorbei – Bühnen und Ensembles droht die Insolvenz. Ja, und im sozialen Bereich sieht es nicht rosiger aus. Ja, und…

Schulden sind nie gut und sparen ist nie lustig. Wir werden den kommenden Generationen sicher keine blühenden Landschaften vererben – unsere Probleme werden in jedem Fall weitergereicht, ob als Staatsschulden oder als löchrige Infrastruktur. Die Frage ist, was unsere Gesellschaft jetzt braucht, um mit sich selbst handlungsfähig zu bleiben. Es macht wenig Sinn, Kultur gegen Bildung, Soziales oder Klimaschutz auszuspielen. Aber an dieser Stelle sei mal eine Antwort durch die OE Tüte geflüstert: Kultur frisst alle anderen Dinge zum Frühstück. Ohne Kultur können wir uns eine andere Zukunft nicht einmal mehr vorstellen.

Und weil also Bücher Lebensmittel sind, trifft es sich, dass wir mit SOCIUS publishing heute einen neuen Verlag und ein erstes Werk ankündigen können, das viele Fragen an die Zukunft der Arbeit stellt: „Die chronisch Kranke und die Organisation“ von Monia Ben Larbi, illustriert von Julia Hoffmann.

Und bevor es in die besinnliche Eskalation der Feiertage geht, findet sich in diesem Brief auch noch einmal einiges an Trägersubstanz für gute Vorsätze im Neuen Jahr: vom Reflexionsraum mit dem Zürcher Ressourcen Modell bis zum neuen Durchlauf unserer jährlichen OE Fortbildung „gemeinnützige Organisationen entwickeln“! 

Wir wünschen Euch lichte Tage zwischen den Jahren und freuen uns auf ein Wiedersehen in 2025.

Andi Knoth 

Nicola Kriesel, Julia Hoffmann, Yi-Cong Lu, Denise Nörenberg, Hannah Kalhorn, Christian Baier, Lysan Escher, Joana Ebbinghaus

Autor Andi Knoth

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Kulturwandel von der Peripherie 

Kulturwandel von der Peripherie 

Organisationskultur ist ein schillerndes Wesen, das die Geister scheidet. Auf der einen Seite herrscht die Überzeugung, dass sich Kultur kaum bis gar nicht verändern lässt. Aus dieser Perspektive müssen wir sie akzeptieren wie die Klimazone, in der wir leben (und wo das unbefriedigend ist, greift die gute alte Hamburger Weisheit „Es gibt kein schlechtes Wetter, nur falsche Kleidung). 

Auf der anderen Seite finden sich ausgefeilte Gestaltungsansätze des Cultural Engineering, das die Veränderung prägender Denk- und Handlungsmuster durch systemische Interventionen verfolgt, und der Transformationalen Führung, die eine Ausrichtung durch Werte und Visionen ins Zentrum stellt. Vielfach wird dabei auf die „transformative Kraft der Symbole“ gesetzt: Hisse neue Flaggen, bring neue Geschichten ins Spiel, Konferenztisch raus, Bällebad rein und siehe da: auf dem Nährboden solcher Artefakte wächst eine neue Kultur. 

So einfach? Die Geschichtsbücher lassen es einfach erscheinen, denn in den 4000 Jahren organisierter Führungspraxis finden wir hunderte von Beispielen solch transformativer Veränderungen – ein beeindruckender Case. Was wir dort nicht finden, sind die Millionen Fälle, in denen Kulturwandel durch die Hintertür kam. Wenn wir den Haupteingang als Bühne der Transformation nutzen, müssen wir einen robusten Auftritt hinlegen. Das Problem mit robusten Auftritten ist, dass sie Sensibilität in gewisser Weise ausschließen. Proklamieren und Zuhören sind nicht gut unter einen Hut zu bringen. Wenn nun aber das Zuhören wichtig ist, um den Untergrund zu verstehen, könnte die Hintertür für den Kulturwandel durchaus eine interessante Alternative sein.

Meine erste Begegnung mit der Metapher des Guerilla Gardening im Kontext der Organisationsentwicklung war 2011 beim „oe-tag“, einer Fachkonferenz, die SOCIUS jährlich in Berlin ausrichtet. Im Fokus der Tagung standen Fragen der Organisationskultur. Zwei Kolleginnen, Anna Krewani und Kerstin Giebel, stellten in ihrem Workshop einen subversiven Ansatz der Kulturentwicklung vor, deren Kernidee lautet: statt Kultur mit großer Geste von oben zu verändern, suche nach den peripheren Räumen der Organisation und etabliere dort praktische Beispiele der gewünschten Zukunft, die ausstrahlen und inspirieren. Schöne kleine Dinge – Blumen im Beton. Ich habe in den letzten Jahren viel mit dieser Idee gespielt und experimentiert, war begeistert und frustriert und bin mittlerweile ein überzeugter Anhänger.

Die Wurzeln des Guerilla Gardenings liegen in der aneignenden Raumentwicklung. Die folgende Anleitung von reset illustriert das einfache Grundprinzip des Ansatzes in der urbanen Praxis:

 

  • Finde ein ungepflegtes peripheres Stück Land, eine Mauer, einen Baum – am besten in Deiner eigenen Nachbarschaft.
  • Entscheide, was Du pflanzen möchtest, und prüfe, ob Deine Wahl sinnvoll ist. Robuste Pflanzen und schnell wachsende Blumen sind ein guter Anfang.
  • Gemeinsam macht es mehr Spaß – finde Partner. Sprich mit Freund:innen und Nachbar:innen.
  • Baue Deinen Garten. Möglicherweise musst Du etwas fruchtbaren Boden mitbringen und die Gewächse nach dem Pflanzen unbedingt gießen.
  • Es kann ratsam sein, Deinen Garten vor den Herausforderungen des Stadtlebens zu schützen, möglicherweise mit einem improvisierten kleinen Zaun gegen Hunde und Füße.
  • Pflege Deinen Garten mit Liebe! Geh regelmäßig und gieße ihn.
  • Wenn die Dinge anders laufen als geplant, lass Dich nicht entmutigen! Sprich mit den Bewohner:innen! Die meisten von ihnen sind auf Deiner Seite und werden Dir zumindest moralische Unterstützung geben. Einige werden sich Dir vielleicht sogar anschließen!
  •  (Quelle: reset.org)

Das Guerilla Gardening Prinzip in der Organisationsentwicklung

Ich glaube nicht, dass ich diese kleine Anleitung in die OE-Sprache übersetzen muss – der Transfer fällt leicht. Und doch ist die Umsetzung in die Praxis der Entwicklung von Organisationen alles andere als trivial. Sie erfordert zunächst einmal viel Geduld.

Eine meiner ersten Erfahrungen mit dem Ansatz war in der Begleitung einer Bildungseinrichtung mit 50 Mitarbeiter:innen. Die Kultur der Organisation war auf allen Ebenen von Misstrauen und Angst geprägt und das Anliegen an uns, im Rahmen einer Leitbildentwicklung eine neue Qualität von Führung und Zusammenarbeit zu etablieren. Wir stellten der Leitungsrunde das Konzept des Guerilla Gardenings vor: Gemeinsamer Auftakt zum Sammeln von Druck- und Leidenspunkten; Erkundung der wiederkehrenden Muster und tieferliegenden Prägungen; und schließlich: Bildung von kleinen Gruppen zur Entwicklung dezentraler Experimente einer neuen Kultur der Zusammenarbeit. Trotz einiger Skepsis wurde der Vorgehensvorschlag angenommen. Wir waren zuversichtlich und bereit für ein kleines Wirkungswunder.

Der Prozess der Entdeckung dysfunktionaler Muster und möglicher Bausteine einer positiven Zukunft kam in Schwung. Doch als es dann an die Entwicklung der Guerilla-Gardening-Initiativen ging, blieb der Prozess ein wenig stecken. Die Leute waren vom Umfang der Dinge enttäuscht: ein regelmäßiges Team-Picknick im Park, eine Arbeitsgruppe, die neue Konfliktlösungsstrategien erkundet, ein Feedback-Fragebogen zu Erfahrungen guter Führungspraxis – die Ideen schienen wie Nadelstiche; einige der Pflanzen verdorrten, einige wurden zertrampelt; und doch überlebten einige. Erst viel später wurde uns klar, wie sehr der Prozess uns alle dazu gebracht hatte, die Muster, die Schwierigkeiten und die Visionen in der Organisation besser zu verstehen. Eine zweite Schleife führte zu noch besseren Ergebnissen, die Initiativen wurden mutiger und erhielten mehr Aufmerksamkeit. Im dritten Jahr formulierte die Organisation ein neues Leitbild, bei dem es nicht darum ging, politisch korrekte Schlagworte zu präsentieren, sondern die inhärenten Probleme zu umreißen, zu deren Bewältigung sich das Team und die Führung in ihrer Zusammenarbeit verpflichteten. Die Kultur hatte sich verändert – nicht durch zentrale Proklamation, sondern durch kleine, harmlose Experimente an der Peripherie.

Was passiert dann? Wie verändert das Experiment das ganze System? 

Die Guerilla Theory of Change gibt es in einer Reihe von Versionen.

Keimform – Lehren aus dem Neomarxismus

Die neomarxistische Theorie hat den Begriff „Keimform“ als eine soziale Praxis geprägt, die innerhalb der funktionalen Logik oder „Grammatik“ des dominanten Systems wirkt, aber dessen soziale Logik und Wertebasis untergräbt. Peer Commons und Share Economies sind Beispiele dafür: Sie funktionieren reibungslos innerhalb der Marktlogik von Angebot und Nachfrage, untergraben jedoch die Idee des Privateigentums an Produktionsmitteln (zumindest war das mal ihr Anspruch). Wenn sie in einer Krise des dominanten Systems aus ihrer Nische kommen, haben sie das Potenzial, sich in dominante Praxis zu verwandeln – der Prozess dazu führt vom Funktionswechsel über den Dominanzwechsel bis hin zur vollständigen Umstrukturierung des Systems. Im Organisations-Kontext lassen sich agile Modelle als solche „Trojanischen Pferde“ beschreiben, da sie unter der Voraussetzung eines schlanken und effizienten Managements funktionieren und dabei zugleich Ansätze von Selbstorganisation und Autonomie einführen (natürlich ist das ein zweischneidiges Schwert: es kann auch sein, dass Agile Methoden mit dem Ziel importiert werden, Selbstmanagement zu stärken und dabei „als Nebenwirkung“ neuen Leistungsdruck aufbauen).

Nischen-Regime-Interaktion – Lehren aus dem Transition Management

Eine zweite Variante den Impact lokaler Experimente zu beschreiben, ist die im Transition Management vorgestellte Nischen-Regime-Interaktion – ein Denk-Rahmen, der im Kontext des Nachhaltigkeitsdiskurses entwickelt wurde, um die Dynamik der „Großen Transformation“ zu beschreiben. Die Multi Level Perspektive des Transition Management Modells umfasst drei aufeinander bezogene Systemebenen:

  • die Landschafts-Ebene (Makro: breitere gesellschaftliche Trends und das relevante Systemumfeld),
  • die Regime-Ebene (Meso: dominante Strukturen, Kulturen und etablierte Praktiken des Systems selbst) und
  • die Nischen-Ebene (Mico: Experimente und innovative alternative Praktiken).

Bild: J. Broerse, VU Universität Amsterdam (https://slideplayer.com/slide/9791473/)

Das Transition Management geht davon aus, dass Regime mit einer evolutionären Logik funktionieren, erfolglose Experimente herausfiltern und nach und nach nützliche Innovationen auswählen und in ihre bestehenden Praktiken integrieren. Nischen sind sichere Umgebungen, in denen solche Innovationen wachsen können, geschützt vor dem Selektionsprozess. Der Druck aus der Landschaft ist der Schlüsselfaktor dafür, wie empfänglich (oder anfällig) das Regime für Nischeninnovationen ist (wird die Innovation das Regime ergänzen, reparieren, kitzeln oder stören?). Momente hoher Aufnahmefähigkeit sind Opportunitäts-Fenster, in denen radikale Innovationen zu Treibern des Wandels werden können. Wenn sie zu einer kritischen Masse akkumuliert und über verschiedene Subsysteme hinweg ausgerichtet werden, können sie das Regime transformieren oder sogar ersetzen (F. W. Geels, J. Schot / Research Policy 36 (2007) 399–417).

Der Guerilla Gardening-Ansatz kann durch die Linse dieses Modells als Nischen-Regime-Interaktion analysiert werden. Um als Veränderungsimpuls wirksamer zu sein, müssen dabei drei Bedingungen erfüllt sein:

  • Das lokale Experiment muss lange genug vor Leistungs- und Kontrolldruck geschützt werden, um eine kohärente neue Modellpraxis mit einem „bewährten“ Anstrich zu werden.
  • Der Moment, in dem die neue Praxis als Modelllösung vorgestellt wird, muss in ein Opportunitäts-Fenster fallen (z.B. eine etablierte Praxis liefert keine Antworten auf eine neue Herausforderung oder einen externen Druck mehr).
  • Die neue Praxis muss mit anderen innovativen Praktiken integriert und akkumuliert werden, um einen kritischen Impuls für die Transformation (zumindest eines Teils) des Systems zu bewirken.

Two Loops – Lehren aus der Living Systems Theorie

Eine weitere Landkarte der Systemveränderung, die zur Guerilla-Gardening-Idee passt, ist das Modell der Two Loops, das von Margaret Wheatley und Deborah Frieze am Berkana Institute entwickelt wurde. Das Modell beschreibt die Dynamik und die Rollen beim Übergang von einem System (in Transition Management-Begriffen: einem „Regime“) zu einem anderen. Wheatley und Frieze gehen davon aus, dass alle Systeme eine Aufbauphase, eine Hoch-Zeit und eine Abstiegsphase durchlaufen – in größeren gesellschaftlichen Systemen mag dies über einen Zeitraum von 250 Jahren geschehen, in Organisationen können Episoden, die von einem bestimmten Paradigma geprägt sind, auch mal nur ein paar Jahre andauern. Ein System am Anfang seines Lebenszyklus wird von „Stewards“ gepflegt. Unter der Decke seiner Hoch-Zeit (in Transition Management Sprache: in den „Nischen“) treten Pioniere auf den Plan, die Innovationen voranbringen. Werden diese Inseln verbunden und gestärkt, bilden sie den Nährboden eines neuen Systems. Dessen Aufstieg kann mit dem Niedergang des alten Systems zusammenfallen (wie in der Nachspielzeit des Römischen Kaiserreiches zu sehen: nicht immer ein schöner Anblick). Um zu vermeiden, dass das alte System einfach in sich zusammenbricht und verschwindet, ist Hospiz- und Kompostierungsarbeit erforderlich. Für den geordneten Übergang vom alten zum neuen Regime müssen die Landeplätze des neuen Systems beleuchtet und der geordnete Umzug gesteuert werden.

Bild: Berkana Institute

In Organisationen erleben wir die Two Loops Dynamik in Zeiten von Umweltstörungen, aber auch in Krisen, die mit Phasenübergängen einhergehen. So entsteht zum Beispiel beim Übergang von der Pionier- zur Kollektivphase der kollektive Impuls als (manchmal rebellische, manchmal reformistische) Subkultur, während das etablierte Führungsmodell möglicherweise noch fest im Sattel ist. Der fortschreitende Niedergang des Alten und die Stärkung des Neuen sind miteinander verflochtene Prozesse, die sich gegenseitig nähren. Irgendwann, wenn das neue Modell stark und kohärent genug ist, um vertrauenswürdig zu sein, ist das System bereit für den Übergang.

Allen drei Modelle gehen davon aus, dass Veränderungsimpulse im Untergrund des Systems entstehen. Sie zeigen auch, dass es sorgsame Praktiken und Adapterstückle braucht, damit diese subversiven Impulse im richtigen Moment ihre transformative Wirkung im System entfalten können.  

Autor Andi Knoth

(Original und mehr auf https://lost-navigator.net)

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Auf die Straße, die Insel oder ins Kloster?

Auf die Straße, die Insel oder ins Kloster?

Strategiediskussionen in Organisationen, die wir begleiten, sind zunehmend von Spannungen gezeichnet. Wo um den „richtigen“ Wirkungsansatz gerungen wird, werden Diskussionen dabei leidenschaftlich und beherzt: Oft ist längst klar wogegen wir sind, aber wofür sind wir eigentlich? Und was genau braucht es, um das zu erreichen?

Während Wirkungsorientierung in den 2010er Jahren vor allem ein von großen Stiftungen getriebenes Thema war, gewinnt die Frage nach sozialen und gesellschaftspolitischen Wirkungen mit der zugespitzten Wahrnehmung der Polykrise neue Wucht. Wenn es fünf vor zwölf ist, sollten wir wissen, was sich durch unser bescheidenes Tun wirklich verändert. Und wenn alles mit allem zusammenknäult, müssen wir uns immer wieder vergewissern, was unsere Rolle und unser Beitrag auf dem Weg zu einer besseren Zukunft ist – wie auch immer wir sie definieren.

Verbinden wir die Linse der Wirkungsorientierung mit der Agenda gesellschaftlicher Transformation, öffnet sich der Blick auf die strategische Praxis sozialer Bewegungen – und damit auch auf das Dilemma ihrer konkurrierenden Komplementarität.

Tiefgreifender gesellschaftlicher Wandel erfordert Veränderung auf drei Ebenen:

  • Auf der Makroebene wird der Wandel des bestehenden Systems – neben der beharrlichen reformatorischen Arbeit in und an Strukturen – durch Widerstand und engagierten Kampf gegen etablierte Verhältnisse erwirkt – die „Straße“.
  • Auf der Mesoebene bieten gesellschaftliche Nischen Raum für ganzheitliche Experimente zur Entwicklung und Erprobung neuer sozialer Praxis – sei es in Conscious Communities, utopischen „Gewächshäusern“ oder Reallaboren – die „Insel“.
  • Auf der Mikroebene braucht es Räume persönlicher Entwicklung, um gesellschaftliche Transformation in neuen Praktiken und Haltungen individuell vorzubereiten und zu verankern – das „Kloster“.

Die drei Ansätze gehören zusammen: die Veränderung des Bestehenden macht ohne erprobte Alternativen keinen Sinn. Eine utopische Insel hat auf Dauer keinen Wert, wenn die Welt um sie herum in Flammen steht. Und eine neue Praxis, die mit überkommenen Gewohnheiten und (Schon)Haltungen ausgelebt wird, bleibt im Alten stecken. 

Das Zusammenspiel von Nischen und etablierten Systemen (Regimes) ist in der Multi-Level Perspektive gut beschreiben (Geels, 2022). Auch, wie Entwicklung auf individueller Ebene gesellschaftliche Entwicklung befruchten kann, liegt auf der Hand: Sowohl der Kampf als auch das Engagement in sozialen Innovationsräumen sind Booster persönlicher Entwicklung. Und: Kampagnen für systemischen Wandel brauchen einen Call to Action, der alle Akteur:innen in die Verantwortung nimmt, die soziale Reproduktion gesellschaftlicher Realität zu unterbrechen.

Die Forschung zu sozialen Bewegungen bestätigt diese Forderung nach integrierten Strategien: Bewegungen, die alle drei Ebenen verbinden, erwirken nachhaltigere Transformationen, als solche, die sich auf nur eine Ebene beschränken.

  • Als positives Beispiel integrierter Transformation lässt sich die von Gandhi geführte Indische Unabhängigkeitsbewegung betrachten. Sie wurzelt in der Grundhaltung der Satyagraha, deren Prinzipien in spirituellen Gemeinschaften (Ashrams) entwickelt und erprobt, dann innerhalb der Bewegung verbreitet und schließlich beharrlich in Kampagnen und Aktionen des gewaltfreien Widerstands ins System getragen wurden. 

  • Ein ähnliches Ineinandergreifen findet sich bei der Brasilianischen Landlosenbewegung (Movimento dos Sem Terra), die sich für radikale Landreformen einsetzt. Im Rahmen von Landbesetzungen werden neue kooperative Arbeits- und Lebensformen erprobt. Zugleich werden Aktivist:innen in Schulungszentren ausgebildet und auf die befreiungstheologisch und marxistisch inspirierten Haltungen der Bewegung orientiert. Mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen tritt die Movimento schließlich landesweit für Agrarreformen, gerechtere ländliche Entwicklung und rechtsstaatliche Prinzipien ein.
  • Auch die globale Umweltbewegung vereint alle drei Ebenen: Protestkontexte wie Fridays for Future auf der Straße, Ökodörfer und Regenerative Gemeinschaften als Inseln der Erprobung neuer Praxis und Nachhaltigkeits- und Umweltbildungsprogramme wie etwa „The Week“ als Ansätze von Bewusstseinsbildung und tiefgreifender Selbsttransformation (dabei sind die Ebenen nicht immer stringent miteinander verbunden: mitunter ist die Substrukturierung der Bewegung so stark, dass die Ansätze eigene Attraktorenbassins für unterschiedliche Zielgruppen bilden).  

In freier Wildbahn geraten die unterschiedlichen Transformations-Ansätze immer wieder in Konkurrenz: Conscious Communities lehnen den Kampf im System oft als verbitterte Selbstzerstörung ab, die in der Anti-Haltung auf das Bestehende fokussiert bleibt und im schlimmsten Fall durch politische Kompromisse von ihm korrumpiert wird. Widerstandsbewegungen beäugen utopische Projekte gerne als Eskapismus und Selbsttransformation als pseudo-aktivistisches Wellness-Programm. Menschen, die sich mit tiefer Transformation befassen, neigen dazu, Inner Work als wesentlicher zu betrachten, als die strukturellen Rahmen, die individuelle Entwicklung prägen. 

Die eingangs genannten Spannungen der Selbstverständigung werden von dieser Konkurrenz befeuert. Der Blick für das systemische Ineinandergreifen der drei Ebenen geht dabei oft verloren. Ja, Strategie ist die Kunst das Unwesentliche wegzulassen und einen klaren Fokus zu finden. Und-aber-auch: Nachhaltige Wirkungen in komplexen Systemen erfordern vielschichtige Interventionsansätze

Und wenn wir schon nicht alles alleine können, brauchen wir zumindest Ökosysteme oder Collective Impact Partnerschaften, in denen die Komplementarität der strategischen Ebenen zum Tragen kommt. Es geht nicht um die Alternative von Protest auf der Straße, Utopie auf der Insel oder Selbstentwicklung im Kloster – sondern um ihre sinnvolle Verbindung.

Autor Andi Knoth

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Strategische Improvisation  –  Der oe-tag als Spielplatz der Veränderung

Strategische Improvisation – Der oe-tag als Spielplatz der Veränderung

  • Trägt Otto Scharmer eine Clowns-Nase? Nein, aber er lädt uns ein, eine kreative oder kontemplative Praxis zu pflegen, die uns am unteren Ende des U die Tür öffnet.
  • Schreibt Karl Weick Poesie? Eher nicht, aber er lenkt den Blick auf die poetische Bedingtheit unserer Rationalität, bei der Sinn immer erst im Rückspiegel entsteht.
  • Stellt adrienne maree brown die Ästhetik der Emergenz über den Willen zur Gestaltung der Welt? Nein, aber sie weist uns darauf hin, dass strategische Wirkung nicht ohne den Respekt für die Schönheit von Eigenlogiken zu haben ist.

Organisationsentwicklung als Technik geplanter Veränderung in Systemen ist mehr oder weniger passé. Die Krise wird auch dadurch zur Krise, dass der Plan nicht mehr greift. Die Kunst der Stunde ist der kollektive Tanz mit dem Unplanbaren. Dass das nicht nur anstrengend und heavy sein muss, zeigt uns neben dem Kinderspiel nicht zuletzt die performative Praxis der Improvisation. 

Welche Tugenden der Improvisation sind für die OE unserer Zeit besonders relevant?

  • Handeln in Unsicherheit: Navigieren im Nebel, Experiment und Entdeckung.
  • Kollektive Kreativität: Co-Creation, Schöpferische Resonanz und spontane Kommunikation.
  • Minimale Strukturierung: Die Eleganz schlanker Regeln, Vertrauen in emergente Ordnungen, Loslassen, um gemeinsam handlungsfähig zu werden

 

Der oe-tag wirft das Scheinwerferlicht in diesem Jahr auf die Kunst der Improvisation: Welche Erfahrungen und Essenzen der künstlerischen und performativen Praxis können wir für die Organisationsentwicklung nutzbar machen? Welches Potential der Problemlösung und kollektiven Entwicklung steckt im Modus des Improvisierens? Welche Rahmen, Kompetenzen und Haltungen braucht es, damit Improvisation gelingt?

Dich erwarten im Haus der Statistik am 31.5.: 

  • eine Reihe kreativer Impulse und ungewöhnlicher Impro-Erfahrungen in Workshops am Vormittag. 
  • Einblicke und Austausche zum Transfer von Konzepten und Praktiken der Improvisation in die Organisationsentwicklung bei den Nachmittagsworkshops. 
  • Inspirierende Gespräche und neue Begegnungen dazwischen und zum Ausklang bei kühlen Drinks im Urban Forest.

Autor Andi Knoth

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Desire Path – Das Informelle System als Entwicklungsanker

Desire Path – Das Informelle System als Entwicklungsanker

Für die Organisationsentwicklung sind Anleihen in anderen Disziplinen das Salz in der Sensemaking-Suppe: Sei es das zwischen Karte und Terrain aufgespannte Navigieren in der Nautik, das Geheimnis des kreativen Flows in der Kunst, das Zusammenwirken von Selbstheilung und Behandlung in der Medizin oder die Entwicklung von Betriebssysteme und Apps im Software-Engineering – mit jedem Bild öffnet sich ein anderes Fenster und eine andere Perspektive auf die Organisation. Dabei sind alle Metaphern – das hat Gareth Morgan eindrücklich beschrieben – immer hilfreich und unzulänglich zugleich.

Die Organisation der Stadt 

Für mich liegen einige der spannendsten Inspirationen für die OE in der Stadtentwicklung. Das Zusammenspiel von Design und Eigendynamik einer Stadt ist ein faszinierender Dialog. Städte und Organisationen sind sich vor allem in Bezug auf diese doppelte Natur recht ähnlich: Sie sind strukturierte Systeme von Regeln und Ressourcen und zugleich Organismen, die sich in ihrer eigenen Logik entwickeln und entfalten. 

Aus Sicht der Stadtplanung zeigt sich die Eigendynamik dabei oft von der widerspenstigen Seite: Man kann einen Flächennutzungsplan erstellen und eine Verkehrsinfrastruktur bauen, aber es ist deutlich schwieriger, die tatsächliche Nutzung von Räumen und Flächen zu steuern. Welche Art von Menschen und Unternehmen zuziehen und abwandern und damit Wachstum, Gentrifizierung oder Verfall einzelner Stadtteile bewirken, ist kaum zu kontrollieren. Man kann Wege durch einen Park anlegen, aber welche Pfade die Menschen tatsächlich einschlagen, zeigt sich erst mit der Zeit. Das Gleiche gilt für Organisationen: Man kann jemanden zur Leitung machen, aber wie stellt man sicher, dass er oder sie tatsächlich als Führungskraft akzeptiert wird? Man kann eine Wissens-Datenbank aufbauen, aber wie bringt man Leute dazu, ihr Wissen wirklich einzuspeisen? Man kann ein Qualitätshandbuch schreiben, aber wie wird ein Prozess verbindlich? Allzu oft weicht der tatsächliche Lauf der Dinge vom Formalen ab. Und das hat seinen Grund.

Die Dualität der Struktur

Stell Dir vor, Du gehst durch den Park. Es ist ein sonniger Tag und Du hast nichts weiter vor, als frische Luft zu schnappen. Der gepflasterte Weg, den Du entlangspazierst, mündet in eine Kreuzung mit einem anderen Weg, den Du nehmen willst. Im Normalfall gehst Du bis zur Kreuzung, nimmst die Kurve und spazierst auf dem neuen Weg weiter. 

Stell Dir nun die gleiche Szene an einem kalten Morgen vor, du bist auf dem Weg zur Arbeit. Du näherst Dich der Wegkreuzung und wirst vielleicht schon an der frühestmöglichen Stelle eine Abkürzung über den Rasen nehmen – das ist ökonomisch (was übrigens nicht dasselbe ist wie „menschlich“). Wenn Du die erste und einzige Person bist, die diese Abkürzung wählt, wird das Gras unter Deinen Schritten nachgeben und sich nach einigen Augenblicken wieder aufrichten. Wenn zehn andere am selben Tag diese Abkürzung wählen, wird eine kleine erdige Spur im Gras sichtbar. Diese Linie wirkt als Attraktor, als Einladung für andere, den Weg ebenfalls zu gehen, und sehr bald entsteht ein Trampelpfad.

 Die Mechanismen dieses Zusammenspiels werden von Anthony Giddens in seiner „Theorie der Strukturation“ beschrieben. Giddens verortet soziale Praktiken an der „untrennbaren Schnittstelle von Strukturen und Akteur:innen“. Gemäß der rekursiven Natur sozialen Lebens sind Strukturen dabei sowohl Medium als auch Ergebnis der Reproduktion sozialer Praktiken: Der Weg formt sich, wenn die Akteur:innen ihn gehen. Sie gehen ihn, weil sein struktureller Niederschlag als Attraktor wirkt. Giddens nennt dies die „Dualität der Struktur“.

Das Konzept erklärt, wie soziale Praktiken verstärkt werden, und wie sich dadurch Struktur bildet (die schlussendlich zu formalen Institutionen gerinnt). Es erklärt auch, wie diese Struktur untergraben wird, wenn Akteur:innen beschließen, sie zu ignorieren, zu ersetzen oder in Variation zu reproduzieren. Beide Bewegungen vollziehen sich schrittweise und fließend. Das Modell stellt dabei keinen spezifischen Moment in den Fokus, zu dem eine Regel oder Praxis formalisiert (oder aufgegeben) wird. Alle Ordnungen sind vorläufige Ordnungen. 

Segen und Fluch der Pfadabhängigkeit

Ein interessanter Aspekt der Entstehung von Pfaden ist das Zusammenspiel von individuellen und kollektiven Entscheidungen. In einer Tabula-Raza-Situation, in der ein System keine sinnvolle Substrukturierung, keine relevanten Attraktoren und keine etablierten Interaktionsmuster aufweist, handeln die Mitglieder allein gemäß ihrer individuellen Agenda. Im Jazz ist dies entweder das kakophone Chaos oder der Moment, in der alle darauf warten, mit was die anderen aufwarten. In der Gruppendynamik ist dies die Phase des Forming, in der Unsicherheit und mangelnder gemeinsamer Fokus durch einen klaren äußeren Rahmen ausgeglichen werden muss. Im Laufe der Zeit entwickeln die Akteur:innen dann Interaktionsmuster – im besten Fall „finden“ sie einen dynamischen Groove. Das System bildet dabei Substrukturierungen aus, die seinen Mitgliedern als Kontext gegenübertreten. Einige der entstehenden Muster verstärken sich, andere verschwinden schnell wieder oder werden unterdrückt. In dieser Phase ist das Verhalten sowohl individuell als auch systemisch bestimmt – die Akteur:innen bewegen sich mit ihren individuellen Absichten, werden aber auch von der Anziehungskraft verstärkter Muster beeinflusst. 

Der Moment emergenter Musterentstehung ist so kostbar, weil er nicht ewig andauert. Die auf ihn folgende Entwicklung ist in der Regel von fortschreitender Pfadabhängigkeit gekennzeichnet, bei der sich einzelne Bahnen der Interaktion zunehmend verfestigen. Handlungs- und Denkmuster, die eben noch im dynamischen Groove miteinander standen, bilden stabile, dominante Zonen aus, die Entwicklung nimmt feste Formen an, das System findet sein Flussbett und sein Fließgleichgewicht. Im extremen Fall wird die Homöostase zum „Lock-in“– das System friert ein und erstarrt. Wer schon einmal so ein Lock In auf einer Jam Session erlebt hat, weiß, dass die Fixierung auf eine Harmoniefolge für Spieler:innen und Publikum zum Fluch werden kann, der manchmal nur durch einen fast gewaltsamen modalen Bruch gestört wird, wenn jemand es nicht mehr aushält. 

Wenn wir in einem eingefrorenen System mit den Kräften der Emergenz arbeiten wollen, müssen wir Gruppen und Organisationen an den Punkt der relativen Offenheit und des dynamischen Fließens zurückzuführen (im obigen Bild Phase II). Hierfür stehen uns zwei Wege offen: Entweder wir warten, bis das System in eine Krise gerät, an seiner eigenen Starrheit zerbricht und sich nach kreativer Zerstörung neu zusammensetzt (eine Progression, die im Ecocycle beschrieben ist); oder es gelingt uns, es – in den Worten von Kurt Lewin – im laufenden Betrieb „aufzutauen“. Im Idealfall etablieren wir ein Modus, der es nie zur vollen Erstarrung kommen lässt: Keep the ground soft.

Exkurs: Kollektive Intelligenz (oder Makrointelligenz, die sich aus lokalem Wissen ableitet) lebt vom Zusammentreffen individuell motivierten Verhaltens mit sozialem Feedback. Eine Simulationssequenz veranschaulicht diesen Zusammenhang:

 Bild 1 zeigt eine virtuelle Parkanlage mit gekreuzten Gehwegen. Computergenerierte Avatare (schwarze Punkte), sind so programmiert, dass sie zufälligen individuellen Motiven folgen (z.B. von Ecke A nach C gehen; zur Mitte schlendern, dann zu Ecke B gehen usw.). Sie haben zudem eine Neigung dazu, Wegen zu folgen, die zuvor viel begangen wurden. Eine Nutzung führt zur Vertiefung des jeweiligen Weges, ein nicht genutzter Weg verschwindet mit der Zeit. Die Auswirkungen dieser Programmierung sind in den Bildern 2-4 zu sehen. Das Weg-System wandelt sich mit der Zeit zu einer neuen kompakteren Form. Für die einzelnen Avatare bedingt das resultierende Wegesystem in Abbildung 4 individuell minimale Umwege. Für das Gesamtsystem stellt es gegenüber der Ausgangsform eine verbesserte Variante dar, da es in Bezug auf die Gesamtweglänge optimiert ist. 

Die Simulation illustriert, wie individuelle Handlungen, die durch direkte oder indirekte Rückkopplung verbunden sind, ein kollektiv intelligentes System hervorbringen können. 

Weiterführende Einblicke hierzu finden sich in Steven Johnsons „Emergence – The Connected Lives of Ants, Brains, Cities, and Software“.

Der Pfad als Ausdruck von Bedürfnissen

Das deutsche Wort „Trampelpfad“ ist als Bezeichnung für einen informellen Fußweg eine etwas hässliche Erscheinung. Mir gefällt der poetische Begriff „Desire Path“ im Englischen deutlich besser. Er transportiert die Idee, dass jede Subversion ein Motiv markiert, das das formale System noch nicht berücksichtigt hat. Ein Desire Path deutet nicht auf Widerstand gegen das formale System an sich hin, sondern auf ein noch unentdecktes Potential des Systems. Ein Pfad sollte mithin kein Ärgernis, sondern eine wertvolle und willkommene Informationsquelle für Systemdesigner:innen sein. 

Zurück in den Park: Es kann sein, dass es dem Parkservice nicht recht ist, dass Du die Abkürzung über die Wiese nimmst. Man stellt also ein Schild oder eine Barriere auf. Das mag den einen oder die andere vom Rasen fernhalten, aber Schilder und Barrieren funktionieren nicht wirklich, wenn eine Abkürzung oder eine Attraktion stark genug ist. Also geht es einen Schritt weiter: man zieht einen Zaun oder stellt Park Security ein und verstärkt die Regulierungsmaßnahmen durch Sanktionen. Regulierung hat einen relativ geringen Wirkungsgrad, wenn es darum geht, intrinsische Motivation und kreative Dynamik in sozialen Systemen freizusetzen. Sie ist zudem auch psychologisch kostspielig, weil sie signalisiert, dass dies hier nicht wirklich Dein Park ist. Warum also solltest Du ihn pfleglich behandeln? 

Bilder: Applause for Design, Rienk Mebius

Alternativ lässt sich die Logik umdrehen: So wie in der Bionik technische Entwicklungen von der Natur inspiriert werden, lässt sich auch eine „Strukturbionik“ denken, bei der Entwickler:innen von in Pfaden abgebildetem Verhalten lernen. Wenn über eine unbefestigte Abkürzung zum Hauseingang immer wieder Dreck ins Treppenhaus gebracht wird, verlangt das eine Antwort. Die Antwort muss aber nicht darin bestehen, die Leute dazu zu bringen, die unpraktisch asphaltierte Zuwegung zu benutzen. Wir können ebenso gut die Abkürzung pflastern, um sie funktional zu machen.  Das informelle System wird so zum Anker der formalen Strukturierung. 

Dieser Design Ansatz lässt sich auch im größerem Maßstab denken: Wenn Du ein System von Gehwegen entwerfen willst, warte einige Zeit, um herauszufinden, wo die Menschen tatsächlich gehen, und lege aufgrund dieser Bewegungen das formale Wegsystem fest. Große Campusanlagen wie die Ohio State University oder die University of Toledo, Teile des Central Park New York sowie einige Wohnsiedlungen in Moskau wurden auf diese Weise gestaltet (letztere, indem man auf den ersten Schnee wartete, um festzustellen, wo die Bewohner:innen tatsächlich zwischen den Gebäuden und Zugängen laufen). Trampelfade als Ausdruck von Bedürfnissen ernst zu nehmen, kann durchaus sinnvolle Ergebnisse liefern.

Allerdings können wir dabei auch immer über das Ziel hinaus schießen. Ungeregelte Emergenz ist vor allem in interessenspluralen Systemen problematisch: nicht jede Entwicklung ist für alle Mitglieder der Organisation gleichermaßen vorteilhaft und nicht jeder Impuls mit dem Gesamtbild vereinbar. Nicht jeder ökonomische Trampelpfad ist dem übergeordneten Ziel dienlich, vor allem dann nicht wenn er eine Abkürzung darstellt, deren Kosten andere im System ausgleichen müssen. Insofern ist Emergenz nicht die alleinige Antwort, wir müssen die Aufgabe der Kuratierung ernst nehmen. Dies kann bedeuten, übergreifende Rahmen und Container zu schaffen, in dem die verschiedenen Impulse zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfließen. Es kann auch bedeuten, transparente Wege zu finden, Optionen gegeneinander abzuwägen und auszuhandeln. 

Desire Path Praxis in der OE

Wie lässt sich das Desire Path Prinzip auf den Bereich der Organisationsentwicklung übertragen? Was können wir konkret tun, um diesem Ansatz Raum zu geben?

In der einfachsten Version einer Strukturentwicklung geht es darum, den Prozess für eine bestimmte Aufgabe (neu) zu gestalten. Der Desire Path Ansatzes so einer Prozessentwicklung läßt sich in fünf Schritten beschreiben:

1. Mapping der Formalstruktur: Identifiziere die bestehenden Regelungen (oder auch die Standard Operating Procedures) für die spezifische Funktion oder den fokussierten Prozess (Prozessbeschreibungen, Manuals, Regelungen zu Abläufen und Verantwortlichkeiten).

2. Mapping der Informellen Abläufe: Führe ethnographische und teilnehmende Beobachtungen durch, um zu erfassen, wie der fokussierte Prozess tatsächlich im Alltag ausgeführt wird.  

3. Interpretation: Identifiziere Faktoren, die die informellen Praktiken motivieren. Erkläre die Abweichungen zwischen formellen Regelungen und informellen Praktiken (z.B. in Bezug auf Attraktoren und Bedürfnislagen).

4. Bewertung: Unterscheide zwischen funktionalen und dysfunktionalen informellen Praktiken. Wo handelt es sich um eine Abweichung von der Formalstruktur, die das Ergebnis besser macht? Wo unterlaufen Akteur:innen mit den informellen Praktiken die übergeordneten Ziele des Systems? Wie kann damit umgegangen werden?

5. Integration: Etabliere einer neue Formalstruktur, die die funktionalen informellen Praktiken einbezieht und praktikable Alternativen zu den dysfunktionalen Praktiken bietet, bei denen die zugrundeliegenden Motive berücksichtigt werden.

Dieses Vorgehen muss dabei nicht auf Prozesse beschränkt bleiben, sondern kann in ähnlicher Weise auf mikropolitische Felder und Rollengefüge (wer sind die tatsächlich Führenden?) oder emergente Strategien (was „tut“ die Organisation wirklich?) angewandt werden. 

In jedem Fall wird dabei das klassische Vorgehen auf den Kopf gestellt: Es geht nicht mehr darum, wie wir Strukturen durch Verhaltensregulierung festigen können, sondern wie wir durch Beobachtung von Verhalten sinnvolle Strukturen gestalten und etablieren.

Während eine so gefundene neue Formalstruktur das kollektive Handeln hoffentlich besser und reibungsloser kanalisiert, ist auch sie vorerst auch nur ein zartes Pflänzchen und zugleich nur eine vorläufige Ordnung. Die klassische Organisationsentwicklung fokussiert den Akt der pointierten Formalisierung. Irgendwann fällt die Entscheidung über erin Modell und damit ist es besiegelt. Es ist durchaus denkbar, dass diese Faszination mit formaler Strukturierung am Kern der Sache vorbei geht: Eine Struktur kommt nicht dadurch ins Leben, dass wir sie in einem Organigramm festhalten. Eine Struktur existiert, wenn sie durch wiederholte Praxis reproduziert wird. 

Meiner Erfahrung nach sind die meisten Organisationen, die Unterstützung in der Organisationsentwicklung suchen, bereit, in die Entwicklung neuer Strukturen zu investieren, gehen aber davon aus, dass der Umsetzungsprozess quasi von alleine funktioniert. Die Annahme dahinter lautet: Wenn die Mitarbeitenden in den Gestaltungsprozess eingebunden sind, haben sie Ownership und werden bei der Umsetzung mit voller Kraft mitziehen. Zwar ist die Einbeziehung der von einer Entwicklung Betroffenen sicher alternativlos, aber Beteiligung allein garantiert nicht die reibungslose Umsetzung. Es braucht einen unterstützten Prozess der Einübung neuer Praktiken. Neue Pfade müssen sich eintreten und können sich dabei auch noch verändern.

Autor Andi Knoth

 

 

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Entspannt unter Spannung

Entspannt unter Spannung

Laborbericht: Selbstnavigation in rauen Gewässern, 23. Januar 2024

Spannung ist ein schillernder Begriff: auf der hellen Seite die spannende Geschichte, das gespannte Hinleben auf ein schönes Ereignis, die knisternde Spannung des Flirts mit der Welt… auf der dunkleren Seite die (Ver)Spannung bei Stress, die (An)Spannung bei Gefahr, die spannungsgeladene Stimmung vor dem Ausbrechen eines Konflikts. Spannung ist dabei vor allem eins: Energie. Ein System und ein Organismus ohne Spannungen ist tot

Im Kontext von Selbstorganisation wird Spannung oft als Veränderungskraft beschrieben, die sich aus der Lücke zwischen dem, was wir wahrnehmen und dem, was wir als Potential empfinden, speist. Die Bearbeitung von Spannungen ist in dieser Hinsicht ein notwendiger Akt von Entwicklung.

So richtig wohlig – das wird auch im Sieben Muskeln Labor deutlich – ist es uns in der Regel nicht, wenn Spannungen den Raum aufladen. Denn in jeder Spannung liegt auch Unsicherheit, und mit ihr die Wahrnehmung von Gefahr, die automatisierte Reaktionen wie Flucht, Kampf oder Erstarrung hervorruft. Wir können diese Unsicherheit nicht ausschalten, aber wir können lernen, das Unbehagen ihr gegenüber abzubauen. Und wir können trainieren, unsere automatischen Reaktionen unter Spannung durch bewusste Handlungen zu ersetzen. Das erfordert drei Schritte:

Wahrnehmen

Zunächst geht es darum, meine emotionalen und körperlichen Signale wahrzunehmen (Werde ich irgendwo eng? Geht mein Puls hoch? Fließt mein Atem noch? Schlägt mir etwas auf den Magen?). Wenn ich diese Signale frühzeitig aufnehme, habe ich die Chance, meinen Autopiloten zu unterbrechen – also nicht automatisch in eine Abwehr- oder Kampfhaltung zu gehen, sondern mich der Spannung neugierig hinzuwenden. Die Stärkung der Wahrnehmung innerer Signale funktioniert über Praktiken der Achtsamkeit – im Labor nutzen wir hierfür einen Bodyscan und eine somatische Übung zum „Auftauen“ erstarrter Haltungen.

Explorieren

Auf die Hinwendung folgt die Exploration. Um mit einer Spannung produktiv umzugehen, muss ich verstehen, wo sie herkommt, und was sie mir erzählt. Denkbar ist etwa, dass sie 

    • in mir durch widersprüchliche Ansprüche oder Impulse entsteht, die von aussen angestoßen werden, aber vor allem innen aufzulösen sind; 
    • in einer Beziehungskonstellation angelegt ist, in der Bedürfnisse oder Rollenanforderungen im Konflikt zueinander stehen, oder 
    • aus dem Feld kommt, etwa in Form struktureller Spannungen, die ich wahrnehme, die aber letztlich ihren Ursprung im System haben. 

Beitragen

Die Bewusstheit über die Natur der Spannung ermöglicht es mir, geklärt mit ihr umzugehen und effektiv zu ihrer Bearbeitung im Innen oder Aussen beizutragen. Wenn die Spannung primär in meinen inneren Widersprüchen liegt, können Coachingmethoden wie das Tetralemma oder Immunity to Change unterstützen. Wenn sie in einer Beziehungskonstellation verankert ist, sind Praktiken wie rollenbasiertes Tension Processing oder GFK hilfreich. Bei einer Spannungs-Übertragung aus dem Feld, muss ich mich entscheiden, ob ich mich der Spannung entziehe, oder meine Resonanz nutze, um ihre Ursachen im System zu bearbeiten.

Viele Menschen neigen dazu, innere Anspruchskonflikte nach außen zu projizieren und Feldspannungen als eigene Konflikte zu verinnerlichen. Die saubere Sortierung fällt dabei leichter, wenn ich zu diesen Deutungen mit Dritten in reflexiven Austausch gehen kann.

Der Dreischritt lässt sich als Grundlage gelingender Selbstnavigation verallgemeinern: Was spüre ich? Was bedeutet das? Was mache ich damit? In der Navigation rauer Gewässer (die oft schnelle und beherzte Reaktionen erfordert), ist er dabei besonders relevant und besonders herausfordernd. Das Einüben der Progression – so das Fazit des Labors –  ist ein Akt, der sich nicht im Rahmen eines Trainings, sondern über eine längere Zeit im achtsamen und reflektierten Alltagshandeln vollzieht.

Die Sieben Muskeln der Selbstorganisation (7M)

bilden die Eckpunkte eines Trainingskonzeptes zur Stärkung individueller Fähigkeiten und Haltungen für die Arbeit in selbstorganisierten Teams. Im Januar Labor wurden die beiden Muskeln Selbstnavigation und Souveränität im Umgang mit Spannungen beleuchtet. Im kommenden 7M labor geht es um die Handlungsfähigkeit in Komplexität und um Alignment Ability.

Autor Andi Knoth

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Facilitate Belonging – Wie halten wir Räume der Zugehörigkeit?

Facilitate Belonging – Wie halten wir Räume der Zugehörigkeit?

Liebe Kolleg:innen,

wir wenden uns an euch als Menschen, die in unterschiedlichsten Kontexten Begleitungsarbeit tun – beraten, moderieren, mediieren, facilitieren und wie auch immer ihr es im Einzelnen nennt – und laden euch ein, uns gemeinsam zu fragen:

Was ist UNSER professioneller Beitrag in dieser Zeit? Aktuell werden Positionen  mehrheitsfähig, die Spaltung und Ent-Menschlichung erfolgreich als Lösung anbieten für eine Vielfachkrise aus Kriegen, Klimawandel, Hunger, Flucht. 

  • Was wird in solchen Zeiten aus unserer neutralen Rolle?  
  • Was stärken wir bewusst oder unbewusst, wenn wir mit Systemen arbeiten? 
  • Welche Narrative prägen uns und welche Wirkung haben sie in diesen Zeiten? 
  • Wie sieht Begleitungsarbeit aus, die Diskriminierung und Privilegierung adressiert und Menschen unterschiedlicher Positionierung Zugehörigkeit anbietet? 
  • Wie laden wir eine Balance aus Hinschauen, Wahrnehmen und Zuversicht ein?  

Fragen dieser Art möchten wir mit euch auf kognitiven und somatischen Wegen erkunden. Das Treffen am 22.02.24 von 17-20h (Online) ist der Beginn eines Prozesses, der sich unserer Haltung, unseren Möglichkeiten und schließlich unserer konkreten Praxis widmet. Wir setzen die Reihe im April und Juni fort und unterstützen eine Verstetigung als Community mit gemeinsamer Wissens- und Reflexionsbasis.

Wir freuen uns sehr auf die erste Begegnung in dieser Runde!

Britta Loschke, Christian Baier, Nicola Kriesel, Andreas Knoth, Joana Ebbinghaus, Hannah Kalhorn, Lysan Escher, Julia Hoffmann, Yi-Cong Lu und Denise Nörenberg

Solltest du Interesse haben, aber den Termin nicht ermöglichen können, dann sag uns auch gern Bescheid und wir halten dich auf dem Laufenden. 

Autorin Britta Loschke

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Brave New Work – Episode 143

Brave New Work – Episode 143

Mit Neuroleadership zur Geschenk-Idee 

Die Brave New Work Episode “How to think well at work” mit David Rock  

Alle Jahre wieder klopft so ungefähr um diese Zeit die spannende Frage an die Tür: Was schenke ich meinem Bruder zu Weihnachten? Ich bin Berater – ich sollte mit solchen Herausforderungen klar kommen. Ich grab mir eine Pausenloch zwischen zwei Calls, hol mir ein Stück Papier und lasse den Gedankensturm darauf los. Anything goes. Aber der Sturm bleibt ein Stürmchen, nichts Sinnvolles will sich zeigen. Ich werde nervös – ich will nichts Belangloses schenken und auch kein last Minute Dingsbums vom Grabbeltisch bei GIfts & Co. Mit dem gestählten Anspruch wird die Sache aber auch nicht besser, da ist eher noch mehr Blockade im Kopf. Die Pause ist vorbei. Ich geh vielleicht doch dann am Samstag nochmal bei Gifts & Co vorbei…

Dann fällt mir die Episode aus dem Brave New Work Podcast ein, die ich neulich beim Laufen gehört habe: Neuroleadership – How to think well at work“. Vielleicht hilft da was weiter?

Neuroleadership befasst sich damit, Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften für die Führungspraxis fruchtbar zu machen: Sie fragt etwa, wie wir die instinktive Abwehr in Feedbackprozessen umschiffen können, welche Anforderungen Veränderung an unser Nervensystem stellt oder wie sich Aufmerksamkeit wirkungsvoll fokussieren lässt; nicht zuletzt erkundet sie, wie wir Kreativität und Innovation befeuern können. 

Im Podcast erklärt David Rock, Berater und Vordenker im Neuroleadership Feld, wie wir mit der richtigen kognitiven Ergonomie von 1-2 Big Ideas im Monat zu 1-2 Big Ideas am Tag kommen können. Klassische Beraterverheißung, denke ich mir – aber nicht nur zur Weihnachtszeit eine recht attraktive. 

Laufen wir also ein Stück mit David Rock durchs Neuroland: Erkenntnisse (Insights), entstehen immer dann, wenn die weniger bewussten Areale unseres Hirns das Problem für uns lösen. Neuronale Ereignisse in diesen Arealen haben eine geringere elektrische Erregung, mit weniger beteiligten Hirnzellen in tieferen Schichten. Wenn wir sie „hören“ wollen, müssen wir sehr aufmerksam sein. Rock zählt auf vier einfache Regeln, die uns die leisen Signale aus der Tiefe besser hören lassen. Manche von ihnen sind eher intuitiv, andere recht spannend:

1. Sorge für eine geringe Bewusstseinsaktivierung. Denk-Aufgaben, fachliche Gespräche, Calls oder Emailbearbeitung direkt vor dem kreativen Prozess führen zu einem kognitiven Grundrauschen, das die leisten Signale übertönt. Am besten platziert ist Kreativität gleich morgens oder nach einer längeren Pause – am besten mit Bewegung oder frischer Luft.

3. Finde ein positives Framing: Wenn wir uns einem Problem gegenübersehen, ist unser Bewusstsein aktivierter (bzw. in dem Maße wie das Problem als Gefahr interpretiert wird auch alarmierter) und damit „lauter“, als wenn wir über Chancen und Möglichkeiten nachdenken. Ein positiver Frame lässt somit mehr schwache Signale ins Spiel.

2. Schaffe ein störungsfreies Umfeld. Externe Signale sind Störfaktoren, die unwillkürlich inneren Alarm-Bereitschaft auslösen. Akustische Reize und kommunikative Erreichbarkeit sollten nach Möglichkeit ausgeschaltet sein. 

Soweit so klar.

4. Fokussiere nicht direkt auf die Frage. Die besten Erkenntnisse warten an den Rändern unserer Aufmerksamkeit. Wenn wir anfangs einmal klar die Fragestellung fokussieren und dann um sie herum spazierdenken, sind die Chancen auf einen Fang höher, als wenn wir mit kristalliner Laserkraftkraft auf das Problem braten. „Brainstorming the hell out of a question does nothing“, mahnt David Rock.

Oh je Brüderchen, alles falsch gemacht! Die nächste Runde Geschenk-Brainstorming mach ich dann also morgens beim Spaziergang im Park. Ich denk nicht über Belanglosigkeit und Last Minute Panik nach, sondern über Dein freudiges Gesicht beim Auspacken. Und eigentlich denk ich überhaupt nicht nach, sondern summe ein Liedchen und lausche in mich hinein, ob irgendwo von ganz tief innen etwas Spannendes zurückschwappt. Ich bin gespannt!

Brave New Work Episode 143. How to think well at work w/ David Rock  

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Minimum Viable Structure

Minimum Viable Structure

Wieviel Struktur braucht gelingende Selbstorganisation?

Jazz ist eine in vieler Hinsicht faszinierende Angelegenheit: Als Gegenstück zum symphonischen Korsett gefügter Partituren und dem Streben nach standardisierter Präzision ist er Sinnbild für den emergenten Fluss gemeinsamer Entwicklung. Die schillernde Jazz-Metapher hat Arbeiten von Karl Weick, Mary Jo Hatch und anderen inspiriert und den rationalistischen Managementdiskurs des letzten Jahrhunderts nachhaltig aufgemischt. Aktuell wird Jazz gerne als Bild gelingender spontaner Interaktion im Diskurs der Selbstorganisation bemüht. Wo Freiheitsgrade dabei in Antithese zur Struktur gestellt werden, schießt die Metapher manchmal auch über ihr Ziel hinaus.

Dass Jazz in besonderer Weise auf freien Formen des Zusammenwirkens und Improvisation basiert, trifft in jedem Fall zu. Aber natürlich hat er Strukturen – wenn auch manchmal nur in minimaler Form. Zu ihnen gehören Rhythmen, Tonarten und Akkordfolgen mit ihren Skalen als Bezugsrahmen der Improvisation. Jenseits des Free Jazz stellt dabei der Fundus an Jazz-Standards, den die meisten erfahrenen Jazzmusiker:innen zumindest teilweise inhaliert haben, eine gemeinsame Spielfläche dar. Die Interaktions- und Impulsdynamik regelt schließlich ein Codex, der beschreibt, wie in einer Session individueller Lead (Solo) und Background-Support (Comping) sequenziert werden, und wie sich Präsenz auf der Bühne flüssig und gleichgewichtig verteilt. Wenn sich alle dieser Spielregeln und Bezugspunkte bewusst sind (oder zumindest für sie sensibilisiert sind) und auch im experimentellen Modus auf sie zurückgreifen können, fließt Jazz. Wenn die Spielenden diese Konventionen nicht kennen oder ignorieren, wenn die strukturelle Offenheit für Ego-Shooting, exzessive Musterunterbrechungen oder Stimmen-Konkurrenz missbraucht wird, bricht der Flow schnell zusammen.

DIE TYRANNEI DER STRUKTURLOSIGKEIT 

Abgesehen von solchen Rahmungen und Soft Structures gibt es in jedem System informelle Strukturen. In den frühen 1970er Jahren brachte Jo Freeman eine kontroverse Kritik am Modell der „strukturlosen Gruppe“ innerhalb der feministischen Bewegung vor. In ihrem Aufsatz The Tyranny of Structurelessness argumentiert sie, dass das Fehlen formaler Strukturen und Hierarchien die unvermeidliche informelle Machtdynamik nur verschleiert.

 „Eine ‚laissez faire‘-Gruppe ist ungefähr so realistisch wie eine ‚laissez faire‘-Gesellschaft; die Idee wird zum Deckmantel für die Starken oder die Glücklichen, um eine unangefochtene Hegemonie über andere zu etablieren. Diese Hegemonie lässt sich so leicht errichten, weil die Idee der ‚Strukturlosigkeit‘ die nicht Bildung informeller Strukturen, sondern nur die formeller Strukturen verhindert. (…) Solange die Struktur der Gruppe informell ist, sind die Regeln, nach denen Entscheidungen getroffen werden, nur einigen wenigen bekannt, und das Herrschaftswissen ist auf diejenigen beschränkt, die die Regeln kennen“. (Freeman, 1971)

Das Hauptargument von Freeman ist klar und bestechend: Während informelle Macht keine Verpflichtung zur Verantwortung gegenüber der Gruppe als Ganzes beinhaltet, geht formalisierte Autorität immer mit ihrer Kehrseite einher – der Rechenschaftspflicht. Insofern ist es vorzuziehen, eine transparente formale Hierarchie zu etablieren (gerne auch themenbezogen oder in Rotation), als eine intransparente informelle Hierarchie entstehen zu lassen. Ein ähnliches Argument hat Max Weber in Bezug auf die Bürokratie gemacht: Der Fortschritt der Bürokratie besteht darin, dass sie willkürliche Herrschaft aufhebt und durch rationale Macht ersetzt, wodurch der Missbrauch von Macht, Privilegien und Diskriminierung eingeschränkt wird. Im besten Fall verbindet ein gut strukturiertes System also Macht mit Verantwortlichkeit.

In weiten Kreisen des liberalen und linken Spektrums herrscht trotz dieser Erkenntnis ein Misstrauen gegenüber formalisierten Strukturen: Struktur engt Freiheit ein, erstickt Initiative und erscheint generell als Gegenteil von Selbstbestimmtheit. Diese Position kommt prägnant in einem Artikel zum Ausdruck, der als Reaktion auf Freemans Position in der Anarchistischen Bibliothek unter der Überschrift Die Tyrannei der Tyrannei veröffentlicht wurde:

„Was wir definitiv nicht brauchen, sind noch mehr Strukturen und Regeln, die uns einfache Antworten und vorgefertigte Alternativen liefern, aber keinen Raum bieten, in dem wir unser Leben selbst gestalten können“ (Levine, 1979).

So sehr sich hier Resonanz zur Klaustrophobie der symphonischen Welt einstellt, so deutlich klingt die wichtige Rolle der minimalen Strukturen im Jazz nach. Gelingende Interaktion – auch im Kontext von Selbstorganisation – erfordert strukturelle Rahmen und Rollengerüste. Ralph Stacey stellt hierzu treffend fest: 

„Die Bedeutung von Selbstorganisation und der daraus entstehenden kollektiven Ordnung wird leicht missverstanden. Im Kontext von Organisationen neigen wir dazu, Selbstorganisation mit Selbstermächtigung oder schlimmer noch mit Regellosigkeit gleichzusetzen, in der jeder alles tun kann – was zu Anarchie führt… Selbstorganisation ist keine Regellosigkeit, sie ist genau das Gegenteil davon“. (Stacey, 2010)

ATTRAKTOREN IN SELBSTORGANISIERENDEN SYSTEMEN

Systemdynamisch gesehen hat Struktur zwei Gesichter: Strukturen stabilisieren ein System und machen es resilient gegen Umweltstörungen; gleichzeitig hemmen sie als stetig wachsende Betondecke (Struktur brütet mehr Struktur) zunehmend seine Anpassungs- und Entwicklungsfähigkeit. Als emergente Muster sind sie das Ergebnis von Selbstorganisation, als sedimentierte Konfigurationen sind sie ihr Feind. Was genau passiert dazwischen? Ein kleiner Ausflug in die Systemdynamik.

Selbstorganisation ist der Prozess, durch den Ordnung aus lokalen Wechselwirkungen zwischen Teilen eines ursprünglich ungeordneten offenen Systems entsteht. Wie diese Definition zeigt, geht es hier weder um einen absichtlichen oder gar zielgerichteten Gestaltungsakt noch um eine bestimmte resultierende Konstellation. Egal, ob im Kontext natürlicher oder sozialer Phänomene, der Prozess der Selbstorganisation folgt den Mechanismen der Systemdynamik: In dem Maße, wie ein offenes System Energie mit seiner Umwelt austauscht, erhält es Impulse, die seine Ordnung in Frage stellen und stören. Interne Rückkopplungsschleifen des Systems wirken sich dabei auf unterschiedliche Weise auf diese Störungen aus: Während negative Rückkopplungsschleifen das Gleichgewicht des Systems schützen (indem sie äußere Impulse dämpfen), verstärken positive Rückkopplungsschleifen sie und laden so zu einer eskalierenden Systemveränderung ein. Es kann dabei entweder zur systemweiten Transformation oder zur internen Differenzierung kommen.

Die Wirksamkeit dieser Gesetzmäßigkeiten in Systemen bedeutet nicht, dass sie nicht von außen manipuliert werden können: So wie die angewandte Physik Selbstorganisation in Energie- und Materiesystemen zu lenken sucht (z. B. um Laserstrahlen zu erzeugen), ist die Biologie bemüht, die Musterbildung in Bakterienkolonien zu steuern, während ein Teil der angewandten Sozialwissenschaft nach Wegen sucht, Diskurse und kollektives Handeln in Gruppen und Gesellschaften zu beeinflussen. Wenn wir gelingende Selbstorganisation befördern wollen, müssen wir in ähnlicher Weise die Musterbildung im System moderieren.

Um die Entstehung von Verhaltensmustern in offenen nichtlinearen Systemen zu verstehen, ist es hilfreich, sich mit dem Konzept von Attraktoren vertraut zu machen. Ein Attraktor markiert einen bestimmten Bereich in der Karte möglicher Systemzustände. Die vollständige Karte wird als „Zustandsraum“ bezeichnet. Der Attraktor beschreibt die Menge der Zustände innerhalb dieses Raums, zu denen das System auf natürliche Weise tendiert. Dabei kann es sich um einen einzelnen Gleichgewichtspunkt (z.B. den tiefsten Punkt eines Wasserbasins), eine Linie (z.B. die Umlaufbahn eines Planeten um die Sonne) oder sogar um einen sich ständig ändernden Pfad handeln (z.B. ein Eiswagen, der sich durch ein Stadtviertel bewegt – in der Systemtheorie poetisch Strange Attractor genannt).

Je nach Stärke der Attraktoren weist das System mehr oder weniger „Rauschen“ auf, also Systemzustände, die nicht zum Attraktorensatz gehören und somit das „Mainstream“-Verhaltensmuster verwischen (nebenbei bemerkt: dieses Rauschen ist eine der Voraussetzungen für Innovation). Im Jazz ist einer der Hauptattraktoren die verwendete Akkordfolge – sie definiert eine Reihe von Skalen mit Tönen, die das Rückgrat der Musik bilden. Die Spieler:innen können von diesem Pfad abweichen und Töne außerhalb der Skala verwenden, um kreative Spannung aufzubauen. Wenn dies überstrapaziert wird, schlägt die Spannung in dissonantes Chaos um. Womit wir wieder bei den minimalen Strukturen sind…

STÜTZSTRUKTUREN

Die Idee der Minimum Viability geht auf Eric Ries‘ Konzept des Minimum Viable Product (MVP) zurück, das „nur die Merkmale aufweist, die den Release des Produkts ermöglichen, und nicht mehr“. Eine Übertragung auf die Gestaltung sozialer Systeme wurde im Rahmen des Agilitätsdiskurses etwa mit der Idee der Minimum Viable Bureaucracy (MVB) vorgestellt. Hierbei geht es darum, genau so viele Prozesse zu etablieren, dass Systeme funktionieren, aber nicht so viele, dass sie schwerfällig werden.  Das Konzept der Minimum Viable Structures bezieht sich nicht auf Produktfeatures oder Prozesse, sondern auf stabile Konfigurationen überhaupt. Es fragt, mit wie viel Fluidität wir leben können und wollen und wo Rankgitter nötig sind, um eine bestimmte Ordnung oder ein bestimmtes Handlungspotenzial aufrechtzuerhalten. 

So wie Tonleitern nicht vorschreiben, welche Note zu welchem Zeitpunkt zu spielen ist, schreiben Rankgitter nicht vor, wie Pflanzen wachsen – sie bieten lediglich einen unterstützenden Rahmen für fruchtbares und produktives Wachstum. Sie sind Stützstrukturen (Scaffolding Structures), die sich in den Worten der Forschungsgruppe MD als „Design höherer Ordnung bezeichnen lassen.

Sie ermöglichen es, „Emergenz zu nutzen, anstatt zu versuchen, sie entweder wegzuplanen oder sie als Unvollkommenheit unserer Vorhersagetechniken zu betrachten. Wir sind mit Emergenz konfrontiert, also sollten wir herausfinden, wie wir sie nutzen können! Die Idee ist, das Design auf die Strukturen auszurichten, die die Dynamik des Systems steuern, und nicht auf die Ergebnisse selbst: Wir bezeichnen solche Strukturen als Stützstrukturen“. (MD-Manifest/Emergencebydesign, 2018)

Ich stelle im Folgenden zwei relevante Arten solcher Stützstrukturen vor: Gestaltungsprinzipien, die die Grundlage für Praktiken im Einklang mit der gemeinsamen Wertebasis bilden; und Adapterpraktiken, die auf Vereinbarungen und Standards beruhen, mit denen Kompatibilität und reibungslose Zusammenarbeit innerhalb des Systems gewährleistet wird.

GESTALTUNGSPRINZIPIEN

Die erste Art von Stützstrukturen sichert die Integrität der kollektiven Wertebasis und die Abgrenzung zur Umwelt, mithin die Identität des Systems. 

Attraktoren sind nicht notwendigerweise das Ergebnis bewusster Organisationsgestaltung. Sie ergeben sich häufig auch aus der Einbettung in Systeme höherer Ordnung. So können beispielsweise kulturelle Normen oder auf einem Markt vorherrschende Strategien die Verhaltensdynamik auf Organisationsebene prägen. Bewusst gestaltete Strukturen schirmen Organisationen vor solchen Umwelteinflüssen ab und schaffen neue Attraktoren, die eine gewünschte interne Entwicklung fördern. Ein praktisches Handwerkszeug für diese Gestaltungsarbeit findet sich in der Operating System Canvas, die von The Ready entwickelt wurde. Sie fußt auf folgender Logik: Für jede Funktion, die wir nicht bewusst gestalten, werden wir höchstwahrscheinlich die dominante Lösung unserer Umwelt „erben“. Wenn wir unser Vergütungsmodell nicht bewusst (zum Beispiel bedarfsorientiert) gestalten, werden wir wahrscheinlich auf die „normalen“ leistungsbezogenen Vergütungsmodelle zurückgreifen. Wenn wir nicht bewusst eine rotierende oder verteilte Machtstruktur etablieren, werden wir höchstwahrscheinlich die klassischen Führungskonstellationen (und mit ihnen die bekannten Verantwortungsengpässe und Machtkonflikte) erben. Gleiches gilt für Entscheidungsmodelle und vieles mehr. Es ist dabei sinnvoll, sich auf die Aspekte zu konzentrieren, die für unseren Purpose und unsere Wertebasis von besonderer Bedeutung sind. Die Grundlagen dieser Aspekte werden in den Gestaltungsprinzipien (Core Principles) kodifiziert.

ADAPTERPRAKTIKEN

Die zweite Gruppe relevanter Stützstrukturen in selbstorganisierten Systemen ist eher funktional: Sie bezieht sich auf die Kompatibilität der Beiträge innerhalb des Systems. Da eine der Kerneigenschaften der Selbstorganisation ein hohes Maß an Autonomie der Untereinheiten ist, sind Standards und Prozesse, die das Zusammenspiel dieser Einheiten strukturieren, unabdingbar

  • Wo werden Informationen gespeichert?
  • Was sind Koordinationspunkte und Gefäße der gemeinsamen Abstimmung?
  • Wie werden die Einheiten und Rollen beauftragt und wie werden sie für ihre Aufgabenerfüllung zur Rechenschaft gezogen?
  • Welche Standards muss ein interner Service oder ein internes Produkt erfüllen, um nutzbar zu sein?
  • Wie sehen Entscheidungsprozesse aus, wenn mehr als eine Einheit beteiligt ist?
  • Wie definieren wir gemeinsame Schlüsselkonzepte und Metriken?

Diese und weitere Fragen wollen beantwortet werden, damit ein lose gekoppeltes System von Einheiten synergetisch und reibungslos zusammenarbeiten kann. Auch hier geht es nicht darum, alles zu standardisieren, sondern die kritischen Punkte herauszuarbeiten, die das Zusammenwirken befördern. Methodisch findet sich für diese Arbeit einiges im Handwerkskasten der Prozessentwicklung, z.B. im Bereich der Smart Structured Workflows, die ad hoc dezentral getriebene und verbindlich strukturierte Prozesselemente verbinden.

Wo landen wir nun? Strukturlosigkeit ist eigentlich nicht denkbar – Struktur ist einfach immer da, in der Musik wie in der Organisation. Wir können uns lediglich bewusst zu machen, wie wir Strukturen hilfreich gestalten und wie wir uns souverän in ihnen bewegen. Dass dabei nicht möglichst viel, sondern möglichst wenig regulierte Verbindlichkeit ins Spiel kommt – gerade genug, um das strategisches Zusammenwirken zu garantieren, aber so wenig, dass Improvisation und Emergenz ihre Magie entfalten können – dies ist der Grundgedanke von Minimal Viable Structures. 

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Durchlässigkeit und Wandel

Durchlässigkeit und Wandel

Liebe Leser:innen,

wer sich derzeit im Norden an die frischer werdende Luft wagt, sieht am Himmel beeindruckende Formationen von Wildgänsen auf ihrem Weg ins Winterquartier. Was nach hierarchischer Führungsstruktur aussieht, ist dabei ein eingespieltes Rotationsprinzip, bei dem immer wieder andere Tiere den anstrengenden Part an der Spitze übernehmen, um sich dann nach kurzer Abstimmung in die aerodynamisch günstigeren Positionen im Keil zurückfallen zu lassen. Die Leitposition ist hier weniger eine mächtige Führungsrolle als eher ein Schicht-Dienst zur effizienten Bewältigung der gemeinsamen Reise. 

Zugegeben: Schwärme müssen oft als postheroische Metapher herhalten und werden dabei gerne romantisch überzeichnet. Aber Führung dynamisch und aufgabenbezogen – anstatt statisch und statusbezogen – zu denken, macht schon Sinn. Wer da tiefer einsteigen möchte, findet in unserem Herbst-Kalender jede Menge Angebote zu Selbstorganisation, Shared Leadership sowie zu den Tools und „Muskeln“, die gemeinsam verantwortliche Formen des Arbeitens ermöglichen. Und wenn gar mal wieder eine fundierte Fortbildung ansteht, sind vielleicht unser etablierter Werkstattzyklus  „gOe! – gemeinnützige Organisationen entwickeln“, die Jahresfortbildung „Führen mit Haltung“ oder unsere neue Lernexpedition „Selbst:Organisations:Entwicklung“ in 2024 einen Blick wert.

Dynamische Strukturierung impliziert auch Durchlässigkeit und Wandel: Auf unserem diesjährigen Retreat an der Adria haben wir dieser Tatsache Respekt gezollt und unseren Kollegen Ralph aus dem Kernteam von SOCIUS verabschiedet. Es ist nicht ganz unwahrscheinlich, dass sich unsere tiefe Verbundenheit fortsetzt und dass wir unsere Gedanken zu Zugvögeln und anderen Dingen weiter in gemeinsame Formate gießen.

Wir freuen uns auch auf gemeinsame Wege, Austausch und gute Entwicklung mit Euch! 

Andreas Knoth

Christian Baier, Denise Nörenberg, Hannah Kalhorn, Joana Ebbinghaus, Julia Hoffmann, Kerstin Engelhardt, Lysan Escher und Nicola Kriesel 

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Die sieben Muskeln der Selbstorganisation – Next Steps!

Die sieben Muskeln der Selbstorganisation – Next Steps!

Save the date für die SOCIUS labore am 11. Januar, 21. März und 16. Mai 2024

Wenn sich eins gezeigt hat in den Monaten, die wir nun schon an den Sieben Muskeln der Selbstorganisation laborieren, ist es dies: Die Idee hat eine Menge Potential. Und da Potential mitunter eine feine Ausrede dafür ist, nicht zu früh zu viel festzuklopfen, müssen wir uns selbst immer wieder auf die Schiene setzen. Es geht also weiter mit den 7 Muskeln, nicht zuletzt in einer Laborreihe von Januar bis Mai 2024. 

Was hat es auf sich mit den Muskeln?

Die Praxis der Selbstorganisation, die uns in unserer Arbeit viel umtreibt, erfordert nicht nur smarte Tools und Modelle, sondern auch und vor allem persönliche Skills und Haltungen. Für diese nutzen wir das Bild der Muskeln. Sie können verkürzt oder verkümmert sein, lassen sich aber individuell wie auch gemeinsam trainieren und aufbauen. Die Auswahl der aus unserer Sicht relevantesten persönlichen Qualitäten für die Praxis der Selbstorganisation haben wir wie folgt benannt:

  • Showing Up – Präsenz in geteilter Führung
  • Resonanz in Beziehungen
  • Selbstnavigation – Bewusstheit für den eigenen Innenraum
  • Kultivierung von Vertrauen
  • Systemischer Blick – Handlungsfähigkeit in Komplexität
  • Alignment Ability – Sensibilität für Impulsdynamik
  • Rough Waters – Souveränität im Umgang mit Spannungen

Das Training dieser Muskeln wird durch erfahrungsbasierte Team-Workshops angestoßen, die in der Regel etwa einen halben Tag dauern. Anhand individueller „Hausaufgaben“ entwickeln Teilnehmende daraufhin in ihrem Arbeitsalltag Schritt für Schritt neue Fähigkeiten und Routinen. Wo sinnvoll, gibt ihnen das 7 Muskeln Programm dazu auch konkrete Werkzeuge und Praktiken an die Hand. Ein solches Tool aus dem Alignment Modul ist das Impuls Pitchdeck.

Selbstorganisations-Tools: Das Impuls Pitchdeck

Selbstorganisation läuft nicht immer rund. Manchmal rumpelt es, Impulse und Commitments bleiben unklar oder überlagern sich. Im besten Fall lernen wir daraus, im schlechtesten, sind wir frustriert, ziehen uns zurück und die Dinge versanden. Das SOCIUS Impuls Pitchdeck ist ein Kartenset zum Einspeisen von Ideen und zur Aushandlung von Commitments in selbstorganisierten Teams. 

 Die Nutzung des Decks funktioniert so: Eine Person teilt ihren Vorschlag bzw. Entwicklungsimpuls und spielt dabei eine Karte aus, die bezeichnet, ob sie sich in diesem Zusammenhang einfache Rückendeckung, einzelne Mitstreitende oder sogar ein Commitment aller Beteiligten in der Runde wünscht. Die Teamkolleg:innen spielen daraufhin Karten aus, die anzeigen wie hoch sie das Potential der Idee und ihre aktuelle eigene Beteiligungsmöglichkeit einschätzen. Aus dem Abgleich der gelegten Karten ergibt sich ein schneller Eindruck, welche Resonanz und Chancen auf Realisierung der Impuls hat, und was es braucht, um ihn gut zu versorgen. Sobald sich über die Karten ein gemeinsames Vokabular und eine Rückmeldungsroutine schärft, braucht es u.U. das Tool selbst gar nicht mehr.

Neugierig geworden? Dann sprich uns an und werde „Pitchdeck Prototypen Tester:in“

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Civil Society Toolbox – DE!

Civil Society Toolbox – DE!

Die Toolbox hat eine magische Story: begonnen 2018 zur Unterstützung von Bürger- und Menschenrechtsorganisationen in der Türkei und Griechenland ist diese Sammlung von Werkzeugen zur Do It Yourself Organisationsentwicklung heute in mehr als 10 Sprachen übersetzt und wird von einer internationalen Community genutzt und weiterentwickelt. SOCIUS hat diese Geschichte zusammen mit MitOst und weiteren Partner:innen seit Beginn inhaltlich mitgeprägt. Seit kurzem nun liegt die Toolbox dank einer Kooperation mit dem Programm „Engagierte Stadt“ auch in Deutsch vor. 

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Unverfügbarkeit von Hartmut Rosa

Unverfügbarkeit von Hartmut Rosa

„Erinnern Sie sich noch an den ersten Schneefall in einem Spätherbst oder Winter Ihrer Kindheit? Es war wie der Einbruch einer anderen Realität…“ – mit diesen Sätzen beginnt das Buch Unverfügbarkeit – und ich muss schnell mal den Buchdeckel umdrehen, ob es wirklich Hartmut Rosa ist, der da schreibt… (hat ihm jemand was über die Resonanzmechanik des Schreibens geflüstert?)

Der Schnee ist eine Illustration von Rosas Begriff der Unverfügbarkeit: wir können ihn nicht erzwingen, seiner nicht habhaft werden, er zerrinnt zwischen unseren Fingern. Und doch und um so mehr ist er Objekt unseres Begehrens – wir wollen ihn unbedingt verfügbar machen. In diesem Spalt zwischen Wunsch und Möglichkeit lokalisiert Rosa das Grunddilemma unserer Weltbeziehung:

„Indem wir Spätmodernen auf allen genannten Ebenen – individuell, kulturell, institutionell und strukturell – auf die Verfügbarmachung von Welt zielen, begegnet uns die Welt stets als ‚Aggressionspunkt‘ oder als Serie von Aggressionspunkten, das heißt von Objekten, die es zu wissen, zu erreichen, zu erobern, zu beherrschen oder zu nutzen gilt, und genau dadurch scheint sich uns das ‚Leben‘ , das, was die Erfahrung von Lebendigkeit und von Begegnung ausmacht – das, was Resonanz ermöglicht – , zu entziehen, was wiederum zu Angst, Frust, Wut, ja Verzweiflung führt…“.

Die Dinge verfügbar machen heißt, sie sichtbar, zugänglich, beherrschbar, im besten Falle nutzbar zu machen. Der Drang zur Verfügbarmachung ist programmatisch in unserer Kultur und unseren Institutionen festgeschrieben, nicht zuletzt im vorherrschenden Paradigma der dynamischen Stabilisierung (größer, schneller, neuer!). Wir sind mit Erich Fromms Worten aufs Haben, statt aufs Sein ausgerichtet.

Während diese Grundidee schnell erzählt ist, entsteht die Wucht des Buches vor allem durch die Akribik, mit der Rosa die Auswirkungen dieser tragischen Weltbeziehung von unserer Geburt bis zum Tod und durch alle Bereiche des organisierten Lebens in der spätkapitalistischen Gesellschaft nachzeichnet.  Dass es herausfordernd ist, hierzu eine kategorische Haltung einzunehmen, fällt dabei etwa in der Reflexion der Impfdebatte auf: ja, die Impflogik ist ein Stück des problematischen Verfügbarmachungsprogramms, zugleich ermöglicht das Abfedern existentieller Risiken überhaupt erst den Ausblick auf resonantes Leben. Die Antwort auf das Dilemma der Unverfügbarkeit besteht mithin nicht darin, das Streben nach Erkenntnis und Handhabe grundsätzlich über Bord zu werfen. Rosa ist Gesellschaftskritiker, kein Maschinenstürmer.  Und so offeriert er mit dem Resonanzbegriff auch die hoffnungsvolle Seite der Medaille.

Das Verfügbarkeitsverlangen hat seinen Gegenspieler in unserem Begehren nach Resonanz, einer Beziehungsqualität, die Rosa als transformativen Dialog beschreibt: Ich werde von etwas berührt („angerufen“), antworte darauf mit einer inneren Bewegung, die ich veräußere (ich werde „selbstwirksam“) und lasse mich diesem Prozess ein Stück verwandeln. Das mich Berührende kann eine Musik, eine Person oder eine Idee sein, die Resonanzerfahrung kann beim Beten oder Meditieren, auf einem Spaziergang, im Dialog oder ganz beiläufig im Alltag entstehen. Sie lässt sich allerdings – und hier schließt sich der Kreis – nicht herbeiführen oder kontrollieren und ist in diesem Sinne ebenfalls unverfügbar.

 

Hartmut Rosa hat diese Gedanken bereits in seinem vorausgegangenen Büchlein Resonanz auf 800 Seiten ausgeführt – mit keinem geringeren Anspruch, als die Visions-Lücke der kritischen Theorie zu schließen und zu beschreiben, was im positiven Gegenbild zur Entfremdung gelingendes Leben ausmacht (da hätte er natürlich auch die kritische Psychologie befragen können – die Antwort wäre aber etwas unromantischer und weniger spirituell ausgefallen).

Bei  Unverfügbarkeit sind wir im Wesentlichen wieder bei der düsteren Problembeschreibung: In dem Maße wie wir der Welt „auf den Leib rücken“, um sie verfügbar zu machen, zieht sie sich von uns zurück, verstummt und wird auf schmerzhafte Weise unnahbar. Im Grunde verlassen wir das Buch mit der Gewissheit: We‘re fucked! Und dennoch gibt es eine Ahnung, dass das so nicht sein muss, wenn wir es schaffen, die positive Gegendynamik der Resonanz zu kultivieren.

Da sitze ich nun also und frage mich: Wie können wir diese Gedanken für die OE nutzbar machen? Managementprogramme sind ja gewissermaßen Musterbeispiele für die Verfügbarmachung von Welt. Wenn wir den Management-Hut also mal zur Seite legen, was könnte ein auf Resonanz aufgebauter Modus der OE sein? Weg von KPIs und Wirkungsindikatoren, vielleicht weg von operationalisierten Zielen und hin zu Sinn als zentraler Kategorie von Entwicklung?

Das Wesen der Dinge in sozialen Systemen liegt unter der Oberfläche. Nur wenn wir uns darauf einlassen, spüren, wie es uns berührt und ihm antworten, bekommen wir die tieferen Schichten von Transformation zu greifen. Dies gilt auch und besonders für den Umgang mit Komplexität und Unsicherheit, auf die die Antwort nicht immer feingliedrigere Managementpraktiken sondern vor allem eine andere resonante Haltung sein könnte. Im Kosmos der evolutionären Praktiken hat sich hierfür der Ausdruck des sense and respond gefunden – und ich kann mich nicht gegen das aufsteigende Bild wehren, wie mir dieser Begriff wie wunderbar glitzernder Schnee durch die Finger rinnt.

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SOCIUS brief: Konsolidierung hier – Dynamisierung dort.

SOCIUS brief: Konsolidierung hier – Dynamisierung dort.

Liebe Leser:innen

als Kind waren Brief-Anfänge noch einfach: „Liebe Oma, wie geht es Dir? Mir geht es gut!“. Mit heutigem Anspruch braucht es ein wenig höhere Auflösung. Was hast Du erlebt? Was treibt Dich um? Was beschäftigt Dich? 

Uns beschäftigen in unseren Prozessen derzeit zwei recht unterschiedlich wirkende Dinge: Einerseits die Stabilisierung und Regeneration von Systemen, die gebeutelt aus der Kurve kommen und ruhige Zonen suchen. Andererseits das Aufbrechen lange gewachsener Muster von Führung und Zusammenarbeit in neue Rollenverteilungen und gemeinsamer Verantwortung. Konsolidierung hier – Dynamisierung dort. Irgendwie gehören die beiden wohl doch zusammen – denn nachhaltig stabil ist bekanntlich vor allem das dezentrale Wesen. 

Wie immer findet Ihr in diesem kleinen Brief Einblicke und Anregungen zu Dingen, die wir erlebt und gelesen haben und die wir planen, bauen und anbieten. Die SOCIUS change essentials sind mittlerweile ja bekannt (next step: Podcasts). Weitere Impulse gibt’s im März mit einem SOCIUS labor zur Soziokratie und einer Einführung ins Visuelle Moderieren. Wer sich fragt, was unser Ex-Kollege Simon bei Reinventing Society so macht, kann das im April im Lead the Future Seminar rausfinden. Im Mai beginnen dann wieder unsere Fortbildungszyklen „Führen mit Haltung“ und „gOe! – gemeinnützige Organisationen entwickeln“. Und dann natürlich – Save the Date! –  9. Juni ist oe-tag! Dort fragen wir uns und Euch, was regenerative Praktiken und Kulturen ausmacht. 

Ob virtueller Selbstlern-Kurs, Labor, Training, Fortbildungsreihe oder oe-tag, das Spannend-Finden allein macht natürlich nicht satt. Zu jedem Angebot gibt es daher einen praktischen Anmelde-Button, über den Ihr der lebenslangen Entwicklung gleich ein Stück näher kommt.

Wir freuen uns auf inspirierende Austausche und gute Zusammenarbeit!

Andreas Knoth

Christian Baier, Denise Nörenberg, Hannah Kalhorn, Joana Ebbinghaus, Julia Hoffmann, Kerstin Engelhardt, Lysan Escher, Nicola Kriesel und Ralph Piotrowski

P.S. eigentlich sollte Chat GPT dieses Editorial schreiben, das wäre sicher auch ganz cool geworden, aber Chat GPT ist leider gerade out of order, oder besser gesagt: aufgrund der bombastischen Nachfrage im Reorganisationsmodus. Erfolg ermöglicht Wachstum und Wachstum erfordert Umbau. So ist das wohl nicht nur bei Organisationen, sondern auch in der künstlichen Intelligenz. 

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Die Übergänge feiern! Resilient agieren in Krisen und Veränderungsprozessen

Die Übergänge feiern! Resilient agieren in Krisen und Veränderungsprozessen

Es beginnt mit einer unscheinbaren Schreib-Frage: Wo befinde ich mich selbst gerade in Übergängen? Und wie so oft ist es diese kleine initiale Reflexion, die alles weitere dann bedeutungsvoll macht: Transformation und Resilienz kann man auch akademisch abfrühstücken. Oder eben ganz persönlich.

Das virtuelle Januar-Labor ist mit 18 Personen gut gefüllt. Was viele von uns angezogen hat, ist die Einladung, Übergänge zu feiern. Sie nicht nur zu erdulden, als weiteres Wandelwehen im VUCA-Wald sondern tatsächlich freudig zu begehen. Wie kann das gelingen?

Ulrike lädt hierfür ein in die Räume der Veränderung. Dieses von Claes Janssen geprägte Modell beschreibt die psychologische Dynamik von Veränderungsprozessen in vier Phasen: Beginnend im Raum der Zufriedenheit führt der Weg über den Raum der Verleugnung und des Widerstands hin zum Raum von Irritation und Verwirrung, um schließlich im Raum der Veränderung mit der Hinwendung zum Neuen zu münden. Das Modell hilft nachzuvollziehen, dass Transformation nicht einfach ein Wechsel von einer warmen Badewanne in die andere ist, sondern ein Prozess, der auch konfliktreich, beängstigend und schmerzhaft sein kann. Im Labor erkunden wir in vier Breakout Gruppen, was und wie wir in jedem der vier Räume dennoch feiern können. Hier ein paar O-Töne:

Raum der Zufriedenheit

Die Behaglichkeit wahrnehmen, um sich zu wappnen für die nächsten Phasen. Auf dem Sofa Tee oder Wein trinken und Dankbarkeit und Kraft tanken. Wie im Sonnengruß einatmen und sich aufladen. Rituale des Loslassens und des Rückblickens einbauen, wahrnehmen, was sich verändert. Kleine Momente bewusst genießen. 

Raum der Verleugnung und des Widerstands

Den Widerstand zulassen und würdigen. Feststellen, wogegen genau er sich richtet, was er uns anzeigen will, welche Facetten er aufzeigt. Sind wir zu schnell oder zu pauschal? Und wer definiert eigentlich, was Widerstand ist? „Sowohl-als-auch“ Gedanken aufmachen, das Alte würdigen, das Neue sehen. Punk, Techno und Metal aufdrehen, wie in der Jugendzeit den Widerstand genüsslich zelebrieren.

Raum von Chaos und Irritation

Sich geduldig Zeit nehmen, das Ungewisse auszuhalten, ohne es erzwingen zu wollen. Stabilitätsanker setzen – was kann Halt geben im Chaos? Was gibt uns wirklich Sicherheit? Rituale der Verabschiedung finden – loslassen. Wir sind schon einen großen Weg gegangen, alles was wir kannten ist nicht mehr so da, ist schon in Einzelteile zerteilt. Dara

Raum der Veränderung

Sich zeigen, als Schmetterling nach außen gehen, stolz die schönen neuen Flügel vorführen. Im Rückblick dabei auch andere Gefühle wahrnehmen: Melancholie, Traurigkeit, Abschied. Erste Reaktion: ja, das ist der Raum wo gefeiert wird, hier ist das Projekt abgeschlossen. Aber das liegt nicht jedem – vielleicht will man nicht ankommen in einem positiv veränderten Zustand, vielleicht lieber im Jammertal bleiben? Das hat auch mit Verletzlichkeit zu tun. Man muss sich sicher fühlen, um seine ganze Freude auszudrücken.

Nach dieser Runde geht es auf die Suche nach Ritualen, die Übergänge bedeutsam machen. Der Gang zur Klagemauer, der Schritt über die Schwelle, das Loslassen von Altem, das im Fluss weggespült, verbrannt oder mit Himmelslaternen in die Lüfte entlassen wird – das Ausschütteln, rituelle Schulterklopfen oder auch die meditative Einkehr im Moment des Wandels. All dies sind Rituale, die auch in Coaching und Beratungsprozessen genutzt werden können, um Übergänge zu gestalten. Sie sind meist sinnlich und körperlich erfahrbar. Gibt es auch Spielarten, die auf kognitiv beheimatete Menschen und Gruppen zugeschnitten sind? Auf jeden Fall. 

Im dritten Teil des Labors geht es um die Frage, welche Kompetenzen wir brauchen, um Übergänge freudig und erfolgreich zu begehen. Wir streifen die Glückskompetenzen von Ha Vinh Tho (achtsamer Fokus, Dankbarkeit und Beziehungsorientierung), die von Bettina Rollow und Joana Breidenbach vorgestellten Inner Work Qualitäten und landen schließlich beim Bild des Muskeltrainings – dem kontinuierlichen Aufbau von Fähigkeiten, nicht als Vorbedingung, sondern als Resultat unserer Praxis. 

Am Ende dieser vier Stunden ist klar: Das Thema ist reich und erstreckt sich von der ganz persönlichen bis hin zur gesellschaftlichen Makro Ebene. Es war ein anregender Austausch, ein von Ulrike wunderbar leicht aufgespannter und gehaltener Raum und ein schöner Anlass, sich wieder einmal verbunden zu fühlen mit einer Community of Practice. Danke!

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Selbstorganisation heißt nicht Strukturlosigkeit

Selbstorganisation heißt nicht Strukturlosigkeit

Ein Interview mit Andreas Knoth im Rahmen der Konferenz Bildung Digitalisierung zu seiner dortigen Keynote

Die digitale Transformation verändert nicht nur das Rollenverständnis von Schulleitungen, sondern stellt auch alte Denkmuster infrage. Die Schulleiterin Nicole Stockmann und der Organisationsberater Andreas Knoth im Gespräch über die Frage, wie die Kultur der Digitalität ihr Denken prägt – und wie eine zeitgemäße Haltung aussehen könnte.

Aus welcher Haltung heraus wird aktuell im System Schule gearbeitet – und welche Haltung soll die Akteure in Zukunft antreiben? Das Thema Haltung war ein Schwerpunkt am zweiten Tag der Konferenz Bildung Digitalisierung 2022 im Cafe Moskau in Berlin. In seiner Keynote „Aufbruch zu Digital Leadership“ skizzierte der Organisationsberater Andreas Knoth, welches neue Selbstverständnis Akteure im Bildungskontext heute brauchen – und warum Exnovation ein wesentlicher Teil von Innovation werden muss, damit die Organisation Schule keinen Burn-out erleidet.

In der anschließenden Panel-Diskussion debattierte Andreas Knoth mit Eliane Burri von der Pädagogischen Hochschule Zürich, Gabriele Lonz vom Ministerium für Bildung in Rheinland-Pfalz und der Schulleiterin Nicole Stockmann unter dem Titel „Digital Leadership und Kultur des Teilens“, inwiefern neue Formen der Zusammenarbeit Führungskräfte an Schulen darin unterstützt, den Wandel an Schulen zu gestalten. Als Schulleiterin eines deutschlandweit einzigartigen Doppelgymnasiums ist Nicole Stockmann mit dem Thema Kooperation auf ganz besondere Art und Weise vertraut. Im Doppelinterview sprechen Andreas Knoth und Nicole Stockmann über ihren persönlichen Blick auf Digital Leadership und die Kultur des Teilens.

Weiter zum Interview.

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