Warum ist uns das „Ost-West“-Thema wichtig?

Warum ist uns das „Ost-West“-Thema wichtig?

Joana Ebbinghaus ist intensiv in der Vorbereitung des oe-tages aktiv. In diesem Interview erzählt sie von ihrer Motivation und der Bedeutung, die das Thema auch heute noch hat – für Menschen und Organisationen. 

Wieso ist dir dieses Thema so wichtig, dass es auf einem oe-tag aufgegriffen wird?

Ich könnte hier eine wirklich lange Abhandlung schreiben. Zum einen gibt es für mich biographische Bezüge. In West-Berlin geboren, waren für mich die Kategorien Ost und West mein Leben lang präsent, von Bedeutung, auch mit starken Emotionen und immer mit Neugier verbunden. In Kindheit und Jugend hatte der Osten eher etwas geheimnisvolles für mich, präsent, sichtbar, aber trotzdem für mich verschlossen. Zu Studienzeiten hatte ich eine WG-Mitbewohnerin aus Karl-Marx-Stadt, die ich während der gemeinsamen Zeit viel löcherte, um die Unterschiede im Lebensgefühl zu verstehen. Weit bin ich damals nicht gekommen. Vielleicht weil es auch für meine Mitbewohnerin damals noch zu nah war. Und ich zu unsensibel, um die richtigen Fragen zu stellen. 

So richtig holte mich das Thema dann erst wieder 20 Jahre später ein, als ich nach langer Zeit im Ausland wieder in Deutschland lebte und arbeitete. Ich erinnere mich sehr genau, als ich zum ersten Mal als Organisationsberaterin in einer aufgeladenen Situation innerhalb einer Organisation im Einzelgespräch verstand, dass tiefe Konflikte und Verbitterungen in einem Team, das sich nicht gesehen, wertgeschätzt und angemessen bezahlt fühlte, gleichzeitig auch mit tiefer liegenden Schichten verbunden waren, wo es um Ost- und West Biographien ging, Erfahrungen des Verlusts von sozialem Status im Zuge der Wiedervereinigung sowie unsensiblem Umgang mit deutlichen Rangunterschieden in der Organisation. 

Erst langsam dämmerte mir auch, dass ich selbst nicht wahrgenommen haben, wie stark die Ost-West Dimension noch viele soziale Situationen prägt – in Bezug auf eine schnelle Einordnung und Orientierung (“bist Du aus dem Osten oder aus dem Westen?”), vorschnelle Zuschreibungen und Kategorisierungen sowie ein Erleben von Zugehörigkeit und Fremdheit. 

Zu Beginn des Jahres 2024 organisierten Bea Schramm und ich bei SOCIUS ein 4-stündiges Labor zum Thema “Ost-West in Organisationen”. Was sich in den Gesprächen an diesem Nachmittag zeigte, öffnete für mich noch einmal ganz andere Dimensionen – die mich auch sehr berührten: So viele rohe und auch selten so offen benannte Gefühle standen im Raum (so eine teilnehmende Person damals: “ich war noch nie an einem Ort mit anderen Menschen, wo es explizit nur um die persönlichen Erfahrungen im Kontext Ost-West ging!”). Besonders hängen geblieben sind mir Aussagen, die damit zu tun hatten, wie schwer es offensichtlich noch immer ist, die faktischen Unterschiede, das Erleben von Bewertung oder fehlender Augenhöhe in Wort zu fassen. Sei es, weil das eigene Schmerzerleben als zu niedrig wahrgenommen wird, um Ost-Deutschsein zum Thema machen zu wollen, oder weil man nicht gern der “Jammer-Ossi” ist. Und dass durchaus auch westlich sozialisierte Menschen schmerzliche Erfahrungen mit Ausgrenzung gemacht haben. 

In den letzten 1-2 Jahren ist in meinem Gefühl viel passiert, was den öffentlichen Diskurs über Ost-West Sozialisationen und Erfahrungen angeht, es gab in letzter Zeit viele Veröffentlichungen, Bücher, Workshops und Podcasts. Und trotzdem steht für mich noch immer vor allem der Eindruck im Vordergrund, dass es noch so viel zu sagen gibt!  

Wo wird die Frage von „Biografien Ost und West“ in Organisationen heute konkret lebendig?

Die nach der Wiedervereinigung in vielen Bereichen entstandene Situation, dass die Leitungsebene größtenteils westdeutsch sozialisiert war, während die Teams eher ostdeutsch waren, hat sich im letzten Jahrzehnt sicherlich aufgeweicht – und ist trotzdem in manchen Bereichen tendenziell immer noch zu beobachten. Aber ich denke, es ist insgesamt sehr differenziert, vielfältig und auch ambivalent. Ost-West als Kategorien reichen oft nicht aus. Hier überlagern sich inzwischen verschiedene Kategorien der Diversität: Generationenunterschiede, Geschlechter und Prägungen aufgrund von vermeintlichen “Klassenunterschieden”. Ich nehme aber zum Beispiel durchaus Unterschiede wahr in Führungs- und Kommunikationsstilen zwischen ost und west.

Und was macht es manchmal schwer, darüber zu reden?

Ich denke, wir leben in einer Zeit und bewegen uns in sozialen und in sinn-getriebenen Organisationen oft in einem Feld, wo die Menschen überwiegend sensibilisiert sind für Themen von Privilegien, Diskriminierung und Rassismus. Die Dimension ost-deutsch – west-deutsch-sozialisiert wird, glaube ich, zum Teil als nicht gewichtig genug erlebt, um es zum Thema zu machen. Wir sind hier noch zu wenig geübt, Sprache zu finden, für etwas, das sich meistens sehr subtil abspielt. Und wenn ich von meiner eigenen Erfahrung her komme, würde ich sagen, dass gerade west-deutsch geprägte Menschen – wie es so oft der Fall ist im Kontext von Privilegien –  zu weiten Teilen wenig Bewusstsein dafür haben, dass sich dieselbe Situation für eine ost-deutsch sozialisierte Person anders anfühlen kann. Dass es biographische Unterschiede geben kann, z.b. in der eigenen Bildungsbiographie, in den Auswirkungen, wie die eigene Familie von den Transformationen der Wendezeit betroffen waren (oder während der DDR Zeit Freiräume genutzt oder zur Anpassung gezwungen wurden) und diese verarbeitet haben, welche noch ins Hier und Jetzt hineinwirken.

Über was würdest Du Dich am oe-tag besonders freuen?

Mich würde sehr freuen, wenn mindestens genauso viele west-deutsch sozialisierte Teilnehmende mit viel Neugier im Rucksack den Weg nach Halle finden, wie ost-deutsche. Denn am Ende geht es ja um Austausch und Dialog und darum, sich gemeinsam auf eine Suche zu begeben, einander Geschichten zu erzählen, Gemeinsames und Unterschiede zu entdecken. Und ich würde mich riesig freuen, wenn viele Teilnehmende am Ende des Tages sagen: Ich habe spannende neue Menschen kennengelernt und viel Neues gelernt! 

Warum seid Ihr dieses Jahr in Halle? Und wird der jährliche oe-tag jetzt häufiger reisen?

Es lag ja auf der Hand, zu diesem Thema die Berlin-Zentrierung, die wir natürlich durch unseren Bürostandort und unser Betätigungs- und Vernetzungsfeld haben, zu verlassen. Aber wenn wir etwas über deutsch-deutsche Geschichte verstehen wollen, müssen wir eben auch die “Hauptstadt-Blase” mal verlassen. Es ist eine Freude, in der Vorbereitung zu erleben, welche neuen Möglichkeiten sich daraus ergeben, an einem ganz anderen Standort zu sein: Die Wege sind überschaubarer, die Kontakte direkter und persönlicher. Meine Kollegin, Lysan, die in Halle lebt, scheint mit fast allen interessanten Menschen in der Region persönlich bekannt zu sein 🙂: Vom Buchladen, den wir mit einbeziehen, zum Kaffee-Feuerwehrauto, das uns mit gutem Kaffee versorgen wird, zu spannenden Referent:innen vor Ort. Ich hoffe, wir können langjährige oe-tags Besucher:innen zusammenbringen mit ganz neuen Menschen, die bisher noch nicht den Weg zu uns gefunden haben! Wenn die Resonanz hoch ist, reisen wir gern das nächste Mal zu einem anderen Ort weiter!

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Zukunftszuversicht

Zukunftszuversicht

Liebe Leser:innen,

vor kurzem war ich Teilnehmerin eines Seminars zu Critical Whiteness. Gleich in der Einstiegsrunde erinnerte uns die Seminarleitung daran, dass wir uns Mutlosigkeit und Klagen über den derzeitigen Zustand der Welt nicht leisten können. Was sich in den drei Tagen entfaltete, war eine berührende Erfahrung dessen, was es braucht, um Dunkelheit und Ohnmacht etwas entgegenzusetzen: gelebte Verletzlichkeit, Vertrauen in Beziehung – und radikale Zuversicht.

Es braucht den Blick für das Widerständige, das Helle, das Mut macht – gerade, wenn es überlagert wird von der Dauerbeschallung des Weltuntergangs. Denn die Aufmerksamkeitsökonomie bevorzugt das Spektakuläre, das Katastrophale – und wir gewöhnen uns daran. So sehr, dass wir das Hoffnungsvolle fast übersehen.

Doch: Zuversicht macht Menschen gut. Und gut gelaunt.

Wenn wir Hoffnung in die Zukunft verlieren, verlieren wir uns selbst. Nur als hoffende, vorfreudige Wesen können wir wachsen, handeln und gestalten. Und somit kann Zuversicht auch eine politische Dimension beinhalten: Sich nicht in die Verzagtheit abgleiten zu lassen und dem Status Quo zuzuschauen, sondern handlungsfähig zu bleiben. Auch Hartmut Rosa spricht im Rahmen seiner Resonanztheorie, dass das aktive mit- der-Welt-in-Beziehung-gehen die Voraussetzung für Zuversicht ist.

Was es dafür braucht? Ich würde sagen, das Erleben eigener Wirksamkeit und Verbundenheit mit anderen. Und gleichzeitig braucht es am Horizont auch deutlich erkennbare Anzeichen von Gegenbewegungen und -entwürfen zum oft entmutigenden Mainstream. 

Die Zukunftsforscher Tristan und Matthias Horx zeigen in ihrem 2024 erschienenen Buch „15 Gegentrends – wie die Zukunft ihre Richtung ändert“ anschaulich auf, dass es zu jedem Megatrend einen Gegentrend gibt. Gegenbewegungen als systemische Muster. Gegentrends erzählen von den Tiefenschichten der Gesellschaft, in denen  Überreife, Sättigung und Erschöpfung entstehen und Signale aussenden. Sie rebellieren gegen das trendhafte „immer weiter“ – und eröffnen Möglichkeitsräume für neue Ausrichtungen. 

In emotional belastenden Situationen braucht es ein aktives Arbeiten gegen Ängste, Zweifel oder Ohnmachtsgefühle. Emotionsregulation kostet Kraft und Energie. Zuversicht ist somit auch Arbeit. Aber besonders spannend sind hier Erkenntnisse der Neurowissenschaften, die zeigen, dass Optimismus in keinster Weise angeboren ist, sondern mit der Aktivierung bestimmter Systeme im Gehirn einhergeht, was wiederum trainiert werden kann, z.B. durch soziale Interaktion oder das bewußte Imaginieren von positiven Zukünften.

Und in einer Talkshow hörte ich neulich den Satz „Zuversicht bildet sich aus, wenn wir in Bodennähe sind. Wenn wir irgendwo unter uns wieder Sicherheit spüren.“ Einen solchen Boden zu bereiten – dazu möchten wir einen Beitrag leisten mit unseren kleinen und großen Veranstaltungen, die Reflexion und Resonanz ermöglichen und gleichzeitig die Präsenz und Unterstützung einer zugewandten Community.

So wollen wir bei unserem diesjährigen oe-tag am 13. Juni in Halle zur Spurensuche von Ost- oder West Prägungen in Organisationen  neugierig, kritisch und achtsam unser Blickfeld und unsere Erfahrungsräume erweitern. Aber vor allem auch einen Raum für Begegnung, Verbindung, Zuversicht und viel gute Laune gestalten!

Ein Beitrag in diesem Newsletter – Nicolas Rezension des Buches „Kinder – Minderheit ohne Schutz“ – inspirierte mich übrigens dazu, meinen 19-jährigen Sohn zu fragen, was ihm Hoffnung macht und wovor er Angst hat, wenn er an die Zukunft denkt.
Seine größte Sorge: dass KI seine Generation überflüssig machen könnte.
Seine größte Hoffnung: dass die Menschheit den Wert von Zusammenarbeit erkennt – über Grenzen und Unterschiede hinweg.

Wir sollten jungen Menschen häufiger zuhören. Und genau das wollen wir tun:
Für den oe-tag am 13. Juni vergeben wir 10 Freitickets an junge Menschen, die sich am dialogischen Erkunden der Auswirkungen der deutsch-deutschen Geschichte in Organisationen beteiligen möchten.

👉 Wenn ein solcher junger Mensch gerade neben Dir sitzt und beim Lesen dieses Textes über Deine Schulter hinweg zustimmend nickt – dann meldet euch gern bei uns!

Joana Ebbinghaus

Autorin Joana Ebbinghaus

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„Gesunde Kranke“ – Ein Rückblick auf drei Salons

„Gesunde Kranke“ – Ein Rückblick auf drei Salons

Als wir im Oktober 2024 die Salon-Reihe „Krankheit in Organisationen“ starteten, hatten wir uns bereits seit einem Jahr regelmäßig einmal im Monat zu dritt mit unserer Kollegin und Freundin Monia ausgetauscht zu persönlichen Erfahrungen und Erkenntnissen, was es bedeutet, mit einer chronischen Krankheit arbeiten und wirksam sein zu wollen. Im Verlauf dieser Gespräche wurde immer deutlicher, wie groß und wichtig das Thema ist und gleichzeitig wie unterrepräsentiert und undiskutiert es ist in der Welt der Organisationen: Laut einer Studie der Kassenärztlichen Bundesvereinigung In Deutschland sind 41% der Männer und 48% der Frauen im Alter zwischen 35 und 59 Jahren von mindestens einer lang andauernden Krankheit betroffen, die regelmäßig medizinisch behandelt werden muss. 

Die theoretische Ausgangsbasis lautete außerdem: Chronische Erkrankungen können mit zahlreichen Einschränkungen und Belastungen einhergehen, die das Leben der Betroffenen erheblich beeinflussen. Neben dauerhaften oder schubweise auftretenden Schmerzen, die den Alltag erschweren, geht oft auch viel Zeit für Therapien, medizinische Behandlungen, Besuche bei Ärzt:innen oder Krankenhausaufenthalte verloren. Besonders herausfordernd ist, dass viele Symptome chronischer Erkrankungen unsichtbar sind. Sie bleiben für Außenstehende verborgen, obwohl sie die Leistungsfähigkeit im Alltag und insbesondere am Arbeitsplatz erheblich einschränken können. Diese Unsichtbarkeit führt oft zu Scham, Unsicherheit und der Angst vor negativen Reaktionen aus dem sozialen Umfeld, wie zum Beispiel von Kolleg:innen oder Vorgesetzten. Diese Ängste können zusätzliche psychische Belastungen hervorrufen. Tatsächlich ist das Risiko, an einer Depression oder Angststörung zu erkranken, bei Menschen mit chronischen körperlichen Erkrankungen deutlich erhöht: Rund 40 % von ihnen sind davon betroffen – ein signifikant höherer Anteil im Vergleich zu gesunden Menschen. Die psychischen Belastungen zeigen sich oft schon in alltäglichen Situationen:. Beispielsweise können häufige Ausfälle bei der Arbeit zu Schuldgefühlen gegenüber Kolleg:innen führen, insbesondere wenn diese nicht über die Hintergründe informiert sind. Viele Betroffene haben wiederum Sorge vor den möglichen Konsequenzen einer Offenlegung ihrer Krankheit. Sie fürchten einen Karriereknick oder gar den Verlust ihres Arbeitsplatzes. Arbeitssuche nach einer längeren Zeit der Arbeitsunfähigkeit infolge einer chronischen Krankheit, ist wiederum extrem herausfordernd, da Lücken im Lebenslauf erklärt werden müssen und das Gegenüber von der eigenen Arbeitsfähigkeit überzeugt werden muss. Gleichzeitig wirft die Erkrankung Fragen darüber auf, wie sie die Beziehungen zu Kolleg:innen, Vorgesetzten und anderen Menschen im persönlichen Umfeld beeinflusst.

Wie kann es also sein, dass wir so selten über (chronische) Krankheiten in der Arbeit sprechen und wissen?

Unsere Grundannahme war von daher, dass insbesondere Führungskräfte, aber letztendlich wir alle nicht umhin können, handlungs- und sprechfähig zu werden und sich damit auseinandersetzen müssen, was es – weit über Formate und Ansätze des Betrieblichen Gesundheitsmanagements hinaus – in der Arbeitswelt bedeutet, von einer chronischen Krankheit betroffen zu sein und wie eine Arbeitsfähigkeit ermöglicht werden kann. 

So war die Idee mit dem neuen Format SOCIUS salon einen offenen Austauschraum anzubieten zum Thema “Gesunde Kranke” anzubieten, um uns gemeinsam mit den Teilnehmenden dem Thema anzunähern, uns über Erfahrungen auszutauschen und gemeinsam über Lösungsmöglichkeiten nachzudenken.  Das Echo auf diese drei3 zweistündigen Veranstaltungen entlang der Überschriften „Besprechbarkeit“, „Sichtbarkeit“ und „Rücksichtnahme“ überstieg bei weitem unsere Erwartungen und war zutiefst berührend. Selten hatte ich das Gefühl, dass ein so zentrales gesellschaftliches Thema so tabuisiert ist und es so wenig Selbstverständlichkeit, Neugier und Verantwortungsbereitschaft gibt, eine offene Kommunikation zu ermöglichen und gemeinsam angemessene Lösungen zu finden!

In sehr persönlichen Austauschrunden trugen wir die folgenden Erfahrungen und Einsichten zusammen:

Besprechbarkeit: Über Krankheiten reden – aber wie?

Eine Teilnehmerin brachte es auf den Punkt: „Ich spreche so viel darüber, aber am nächsten Tag ist es wie weg. Wie können wir Formen der Kommunikation finden, die nachhaltig sind, wo wir nicht immer wieder bei Null anfangen zu erklären, was wir brauchen?“ Hier wurde klar, dass es nicht nur Mut braucht, um über Krankheiten zu sprechen, sondern auch Strukturen, die ein solches Gespräch erleichtern und in regelmäßigen Abständen wiederholt werden.

Scham spielt dabei eine zentrale Rolle. Viele Teilnehmende berichteten, dass sie sich verletzlich und unsicher fühlen, wenn sie über ihre Erkrankung sprechen. Eine Teilnehmerin erklärte: „Ich will mich nicht verantwortlich fühlen für das, was andere fühlen, wenn ich über Krankheit spreche.“ Um solche Gespräche zu enttabuisieren, brauche es sowohl Co-Regulation in Gruppen als auch mehr gesellschaftliche Offenheit. Gleichzeitig sprachen andere Teilnehmende auch über die Unsicherheit und Hilflosigkeit der Nicht-Kranken, ein offenes Gespräch zu beginnen. Ein wichtiger Aspekt war dabei der Umgang mit Scham: „Der einzige Weg raus aus der Scham ist, sich verletzlich zu zeigen – aber dazu braucht es auch ein verletzliches Gegenüber.“

Die Diskussion verdeutlichte, dass es oft an Werkzeugen fehlt, um über Krankheiten zu sprechen. Eine inklusivere Sprache und Formate wie Deep-Listening-Räume können helfen, Kommunikation auf Augenhöhe zu ermöglichen. Solche Räume schaffen die Möglichkeit, ohne Unterbrechungen und ohne Wertung über die eigenen Herausforderungen zu sprechen – ein Ansatz, der in Organisationen etabliert werden könnte.

Sichtbarkeit: Krankheiten sichtbar machen und anerkennen

Genau diese Unsichtbarkeit chronischer Krankheiten stellt Betroffene vor große Herausforderungen. „Wenn die Krankheit nicht sichtbar ist, wird sie schnell vergessen“, beschrieb eine Teilnehmerin ihre Erfahrungen. Es braucht Symbole und klare Signale, um das Bewusstsein für chronische Erkrankungen in Teams und Organisationen zu verankern. 

Doch Sichtbarkeit birgt auch Risiken: Sich sichtbar zu machen, ohne dass darauf reagiert wird, wird als besonders verletzend empfunden. „Menschen brauchen Symbole, um sich daran zu erinnern, dass jemand krank ist. Wenn dann aber nichts passiert, ist es das Schlimmste“, so eine Teilnehmerin. Auch die Art der Erkrankung spielt eine Rolle: „Mit einem Hirntumor bekommt man mehr Sympathie als mit Depression. Das bringt auch einen Raum zum Schweigen.“ In Anlehnung an die Diversity-Arbeit wurde als Wunsch an die Nicht-Kranken formuliert: „Vergiss, wenn Du mit mir sprichst, dass ich eine kranke [schwarze] Person bin. Und vergiss nie, dass ich eine kranke [schwarze] Frau bin!“. Dies setzt also eine Bereitschaft zu einer tieferen Auseinandersetzung und zu persönlichen Lernprozessen voraus. 

 

Gleichzeitig berichteten viele Betroffene unter den Teilnehmenden von vielfachen Diskriminierungserfahrungen am Arbeitsplatz durch Vorgesetzte, die auch den vorsichtigen Umgang mit der Selbstoffenbarung rechtfertigen

Eine offene Sichtbarkeit kann nicht nur Betroffene entlasten, sondern auch Organisationen bereichern. Eine Teilnehmerin berichtete, dass ihre Organisation sich bei ihr für das Wissen bedankt habe, das ihre Krankheit dem Team gebracht habe. Diese Haltung ermöglicht es, chronische Erkrankungen nicht nur als Belastung, sondern auch als Quelle von Reflexion und Transformation zu sehen.

Rücksichtnahme: Zwischen Empathie und Veränderung

Rücksichtnahme ist ein vielschichtiger Begriff. Für viele bedeutet er eine Balance zwischen individueller Fürsorge und der Forderung nach Veränderungen in Organisationen. „Verlässlichkeit ist zentral. Versprechen, die nicht gehalten werden, sind die echte Katastrophe“, wurde betont. Hier liegt eine große Verantwortung bei Führungskräften und Teams, um eine Kultur der Verbindlichkeit zu schaffen.

Im Umgang mit chronischen Erkrankungen ist wiederum ein Perspektivwechsel essentiell: Statt auf Heilung zu fokussieren, geht es darum, ein gutes Leben mit der Krankheit zu führen und sie in den Alltag zu integrieren. Gut gemeinte Ratschläge wie „Probier doch mal…“ helfen nicht, da sie die Realität chronischer Erkrankungen verkennen. Wichtiger ist es, Betroffenen zuzuhören, ihre individuelle Bewältigung und Kompetenz im Umgang mit ihrer Krankheit anzuerkennen und passgenaue Aufgabenzuschnitte zu ermöglichen. „Wenn mir Aufgaben übergeben werden, die nicht passgenau ausgerichtet sind auf das, was ich leisten kann, wird mein Leben nicht einfach nur etwas anstrengender, sondern es ist eher ein Rausschmiss oder komplette Exklusion für mich!“, lautete eine Aussage. 

Doch Rücksichtnahme darf nicht in Bevormundung ausarten. Betroffene berichteten, dass sie sich oft unter Druck gesetzt fühlen, dadurch, dass sich ein riesiger „sozialer Schuldenberg“ auftürmt. Eine Teilnehmerin plädierte dafür, klare Strukturen zu schaffen: „Ich brauche die Macht, selbst zu bestimmen, was ich tue und was ich nicht tue. Andererseits ist es oft viel einfacher, Verantwortung für andere zu übernehmen, als für sich selbst einzustehen.“

Auch für Teams ist es wichtig, eine klare Differenzierung zwischen akuten und chronischen Erkrankungen vorzunehmen. In einem Beispiel aus einem kleinen Team mit zwei chronisch Kranken und einer gesunden Person wurde deutlich, wie belastend unklare Rollen und Erwartungen sein können, dass bei aller Offenheit im Umgang sich auch leicht Ungleichgewicht einschleichen kann zwischen dem, was geleistet werden will und kann. „Es braucht viel Weichheit und Flexibilität im Umgang miteinander“, lautete ein Fazit. 

Transformation der Arbeitswelt

Die Veranstaltungen zeigten, dass chronische Erkrankungen in der Arbeitswelt eine Vielzahl von Herausforderungen mit sich bringen, für die wir bislang noch wenig Räume, Instrumente und angemessene Sprache besitzen. Angesichts der Entwicklungen in der Gesellschaft und auf dem Arbeitsmarkt können wir es uns nicht leisten, weiter in der Unbeholfenheit und Unwissenheit zu verharren. Es geht darum, in Organisationen eine Kultur des Austauschs zu schaffen, in der Menschen über ihre Krankheit sprechen können, ohne sich schämen oder rechtfertigen zu müssen. Sichtbarkeit und Rücksichtnahme sollten keine Ausnahmen sein, sondern selbstverständliche Elemente inklusiver Arbeitswelten. Gleichzeitig braucht es eine gesellschaftliche Debatte auf Augenhöhe darüber, was echte Inklusion bedeutet. 

In einem angemessenen Umgang mit chronischen Krankheiten in Organisationen stecken allerdings nicht nur Herausforderungen, sondern auch große Potenziale. Chronisch Kranke sind oft Vorreiter einer Transformation, wenn wir sie als Seismographen verstehen für das, was falsch läuft und zu Stress und Überlastung in gesamten Teams führt. „Ständige Meetings sind mir unmöglich – aber auch für andere Kolleg:innen oft sehr anstrengend. Letztendlich sind es Auswüchse von Bequemlichkeit, sich selbst Informationen zusammen zu suchen“. „Wir brauchen chronisch Kranke, um die Arbeitswelt zu verändern“, hieß es in der Diskussion. Mit kreativen Lösungen wie flexiblen Arbeitszeiten, Buddy-Systemen und Reflektionsräumen können Organisationen ein Umfeld schaffen, in dem alle – ob gesund oder krank – produktiv im Rahmen ihrer Möglichkeiten und zufrieden arbeiten können. 

Am Ende der drei Veranstaltungen hatten wir das Gefühl, gerade nur ein wenig an der Oberfläche gekratzt zu haben. „Wir brauchen eine Bewegung!“, lautete eines unserer Fazits. Genau deswegen und weil wir mehrfach gehört haben „dies ist das erste Mal, dass ich mich so offen austauschen konnte“, werden wir 2025 weitermachen. Von Januar bis Juni haben wir sechs weitere SOCIUS salons geplant:

Autorin Joana Ebbinghaus

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„Was hat Dich dazu gebracht, heute genau hier in dieser Fortbildung zu sein?“

„Was hat Dich dazu gebracht, heute genau hier in dieser Fortbildung zu sein?“

Claudia Fix ist Beraterin auf Zeit (BaZ) für Fundraising und Kommunikation in der Entwicklungszusammenarbeit, gelegentlich ist sie auch freiberuflich tätig. 2021 hat sie bei unserer Fortbildung „gOe! – gemeinnützige Organisationen entwickeln“ teilgenommen. Drei Jahre später haben wir sie interviewt: 

Was war für Dich ausschlaggebend, dass Du Dich für gOe! entschieden hast?

Ich hatte schon länger eine Weiterbildung in Organisationsentwicklung gesucht, weil ich einerseits ohne viele theoretische Grundlagen bereits in diesem Bereich gearbeitet habe und andererseits an neuen Perspektiven auf meine Arbeit interessiert war. Es gab dazu aber deutlich weniger interessante Fortbildungsangebote als im Bereich Coaching. Empfohlen hat mir Socius dann eine Freundin, deren Kollege an gOe teilgenommen hatte und sehr zufrieden war. Ich fand die Inhalte des Kurses interessant, das Format mit den vier Wochenenden innerhalb eines halben Jahres gut machbar und den Preis sehr fair (mit Frühbucherrabatt und Bildungsgutschein auch noch potentiell reduzierbar). Die beiden Referent*innen, Joana Ebbinghaus und Christian Baier, wirkten sowohl kompetent als auch sympathisch. Joana hat sich vorab noch fast zwei Stunden Zeit für ein persönliches Gespräch genommen, manches genauer erklärt und meine letzten Bedenken ausgeräumt, bei denen es um die Bezüge zur Gestalttherapie ging. Dass wir beide lange in der Entwicklungszusammenarbeit arbeiten, hat natürlich auch gleich eine Verbindung geschaffen.

Was war für Dich „das Highlight“ in der Fortbildung?

Das ist eine schwierige Frage, weil es eigentlich an jedem Wochenende mehrere Highlights gab. Ein echter Aha-Moment war die Einheit zu „Organisationskultur“: Wie sie definiert ist, wie man sie beschreiben kann und eine praktische Übung dazu. Ich hatte schon häufiger die Organisationskultur unterschiedlicher NRO analysiert, ohne jedoch eine klare Vorstellung des theoretischen Rahmens zu haben. Das hat mir sehr geholfen, meine eigenen Erfahrungen nachträglich einzuordnen und die Analysen, die ich nach gOe gemacht habe, zu schärfen.

Ein anderes Highlight war definitiv eine biografische Arbeit unter der Fragestellung „Was hat Dich dazu gebracht, heute genau hier in dieser Fortbildung zu sein?“ Wir haben das mit unterschiedlichen Materialien, mit Figuren, Knete, Stoffen, Fäden und noch einigem mehr, auf einem Brett visualisiert. Faszinierend fand ich nicht nur, dass mein eigener Berufsweg bis zu dem Punkt über diese Methode sehr viel klarer wurde, sondern auch, dass die Bretter sooooo unterschiedlich aussahen. Bis heute, also fast drei Jahre später, kann ich mich an die einzelnen Gestaltungen und viele Einzelheiten erinnern, die andere Teilnehmende zu ihren Lebenswegen erzählt haben.

Wirklich aufregend war natürlich auch das Praxisprojekt, das ich bei einer Berliner NRO gemacht habe, die ich vorher nur dem Namen nach kannte. Das Team gab uns ein sehr positives Feedback und hat mich zwei Jahren später angefragt, um eine Vorstandsklausur zu gestalten und zu moderieren.

Wie profitierst Du – hoffentlich – anschließend davon?

Ich profitiere ganz deutlich bei meiner Arbeit davon, auch wenn diese nur teilweise mit Organisationsentwicklung zu tun hat. Insgesamt ist mir sehr viel klarer, was für Organisationen wichtig ist, wie sie strukturiert sind, welches die häufigsten Fragestellungen und möglichen Konflikte sind.

Rund fünf Monate nach gOe hat ein Netzwerk, das ich schon kannte, mich gebeten, die dreitägige Klausurtagung zur Jahresplanung zu moderieren. Das war ziemlich anspruchsvoll, mit verschiedenen Konflikten auf unterschiedlichen Ebenen, aber am Ende waren wir alle mit dem Ergebnis zufrieden. Diese Gruppe war sehr dankbar für die verschiedenen Methoden, die sie vorher nicht genutzt hatte und die einige festgefahrene Diskussionen auf neue Gleise brachte. Die große Vielfalt an Methoden, die wir bei gOe zusätzlich zu den Inhalten gelernt haben, ist auf jeden Fall eine große Bereicherung für meine Arbeit. Leider habe ich im Moment zu wenig Zeit, um meine neuen Kenntnisse häufiger freiberuflich zu nutzen, aber ich hätte große Lust dazu.

Wem würdest Du gOe! empfehlen und warum?

Ich würde gOe zuallererst allen empfehlen, die in der Organisationsentwicklung arbeiten und auf der Suche nach neuen Erkenntnissen, Methoden und Inspirationen sind. Oder denen, die gerne in diesem Bereich arbeiten möchten, und ein solides Grundwissen brauchen. Ich halte gOe auch für Menschen in Leitungsfunktionen von gemeinnützigen Organisationen für sinnvoll, wenn sie neue Perspektiven auf die betriebliche Situation gewinnen möchten. Nicht zuletzt kann ich mir vorstellen, dass gOe auch für Ehrenamtliche in Vereinen eine gute Sache ist, gerade wenn es um Team-Entwicklung geht.

In unserer Achtergruppe kamen die Teilnehmer*innen aus ganz unterschiedlichen Arbeitssituationen – Freiberuflerinnen mit viel Erfahrung oder bei den ersten Schritten in die Selbstständigkeit, Angestellte mit und ohne Leitungsfunktion, ehemalige Geschäftsführende in einer beruflichen Umorientierung – und soweit ich weiß, waren wir alle sehr zufrieden mit den Inhalten von gOe.

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Inklusion chronisch Kranker

Inklusion chronisch Kranker

Liebe Leser:innen,

bevor ihr euch an den See oder die Hängematte zurückzieht, möchten wir euch mit diesem prall gefüllten Veranstaltungskalender schon einmal Lust auf die Rückkehr aus dem Urlaub machen!

Ein Blick auf unseren Veranstaltungskalender ist nicht nur ein Spiegel der Themen, die uns bei SOCIUS interessieren. Unsere Veranstaltungen sind auch das Ergebnis eines Resonanzverhältnisses mit dem Feld, in dem wir unterwegs sind. 

Umgang mit komplexen gesellschaftlichen Transformationen könnte als Titel über allem stehen. Es geht um Haltungsfragen wie Machtkritik und Diversitätssensibilität, individuelle leadership Praktiken, Kompetenzen wie Kreativität und darum, Momente von Verbindung sowie transformierender Erfahrung zu gestalten und um grundlegende Ansätze wie Soziokratie und Selbstorganisation. Unsere Fortbildung „gOe!- gemeinnützige Organisationen entwickeln!“ vermittelt die Grundlagen, um mit Organisationen in Kontakt zu treten, gemeinschaftlich getragene Prozesse der Veränderung zu initiieren und zu begleiten. 

Ein Thema sticht in der Vorschau vermeintlich ein wenig aus der Reihe: Krankheit in Organisationen. Wichtig ist uns das Thema aus der Perspektive von Diversitätssensibilität und dem achtsamen Umgang mit Privilegien. Dass der Zustand „krank“ keine eindeutige Definition ist, sondern ein relativer Ort auf einem Kontinuum zwischen krank und gesund und mehr mit dem individuellen Erleben als einer ärztlichen Diagnose nach ICD-10 zu tun hat, ist kein neuer Gedanke. Jeder gesunde Mensch hat kranke Anteile in sich, jeder kranke Mensch gesunde. Die gesunden Kranken, denen wir in den Portraits von Monia Ben Larbi auf der von ihr aufgebauten Plattform www.gesunde-kranke.de/ begegnen, nehmen für sich in Anspruch, in diesem Sinne zwar krank, und gleichzeitig auch gesund zu sein. Zu einem Verstehen der eigenen Krankheit zu kommen, Strategien zu entwickeln für ein gutes Arbeitsleben im Einklang mit der individuellen Situation sowie sich dabei mit einem Gefühl der Sinnhaftigkeit zu verbinden, ist ein harter mit steten Rückschlägen gepflasterter Weg. 

Ein Fazit von Monia aus der Auseinandersetzung mit dem Thema Chronische Krankheit lautet unerwarteterweise: Kranke Menschen können eine hilfreiche Ressource sein für Organisationen. Denn sie sind Seismograph:innen und können zugleich  Motor für Organisationsentwicklung sein. Die Grenzen, an die sie stoßen, treiben in der Regel auch gesunde Kolleg:innen in Erschöpfung und Überforderung. Nur erleben Menschen mit Krankheit diese Faktoren meist deutlicher und frühzeitiger. 

Um nicht den Anschein des Schönredens zu erwecken: Was gesunde Menschen von kranken mit Sicherheit lernen können, ist der Umgang mit und die Akzeptanz eigener Ohnmacht.

Klaus Eidenschink (Coach, Berater und Therapeut) beschreibt “Ohnmachtskompetenz” als unerlässliche Komplementärfähigkeit für Menschen in Führungsposition: Die Grenzen der eigenen Macht akzeptieren lernen und sich mit der eigenen Ohnmacht  anfreunden können. Worum es geht? Nicht alles, was geschieht, muss sinnhaft sein; es ist nicht immer möglich, Gutes zu bewirken und wir müssen hinnehmen, dass alles, was passiert vergänglich ist. Lernen wir, die eigene Ohnmacht wahr- und anzunehmen, eröffnet uns das vielleicht ein alternatives Handlungsspektrum jenseits der limbischen Reaktionsmuster von „flight, fight or freeze“. 

Deswegen haben wir ab dem 14. Oktober drei SOCIUS salon Abende ins Leben gerufen: (Ebenfalls) unter dem Titel „Gesunde Kranke“ wollen wir gemeinsam mit Monia eine Brücke in den Echoraum schlagen, den gesunde Kranke erleben und die Tabuzone ein wenig verschieben. Besprechbarkeit, Rücksichtnahme und Sichtbarkeit sind die Hauptthemen, die uns durch die Abende leiten werden. Wir freuen uns über euer Interesse. 

Bis dahin wünschen wir euch Sommerwochen mit Leichtigkeit, Sonnenschein und viel Erholung!

Joana Ebbinghaus

Christian Baier, Kerstin Engelhardt, Lysan Escher, Julia Hoffmann, Hannah Kalhorn, Andi Knoth, Nicola Kriesel, Yi-Cong Lu, Denise Nörenberg 

Autorin Joana Ebbinghaus

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Noch längst nicht alles gesagt

Noch längst nicht alles gesagt

Spurensuche zur jüngeren deutsch-deutschen Geschichte in Organisationen

Schon die Einstiegsrunde ließ erahnen, dass dies ein besonderer Abend werden würde. Eine kleine feine Gruppe von 6 Personen hatte sich zum SOCIUS labor live mit anschließendem Ausklang am Kaminfeuer eingefunden, um zu erkunden, wo und wie uns eigentlich das Thema Ost-West in unseren Organisationen heute noch beschäftigt. 

Bei der Sammlung der Fragen, welche die Teilnehmenden in Bezug auf das Thema mitbrachten, fand sich nichts an üblichen Allgemeinplätzen, sondern sofort ein Vorstoß in die Tiefen persönlichster Geschichten, Verletzungen und fundamentaler Auseinandersetzungen.

„Wie kann ich dem Schmerz begegnen?“

 „Was wäre gewesen, hätten wir verschiedene Sprachen gesprochen?“ 

„Warum werden Einigungsprozesse, die auf Augenhöhe liefen, nicht erzählt?“ 

„Hat es irgendetwas verändert im übernehmenden System West?“ 

„Wie und wo können wir uns (endlich?) (wieder?) wirklich begegnen, in Kontakt kommen und damit vielleicht besser verstehen?“

Falls wir uns bis dato gefragt haben sollten, ob das Thema 35 Jahre nach der Wiedervereinigung wirklich noch eine Relevanz hat, wurden wir unmittelbar eines Besseren belehrt. Dabei war es nicht das Anliegen und schien auch nicht notwendig, als Ausgangspunkt des Austausches die persönlichen Geschichten voreinander auszubreiten. Es war wie ein stilles Einverständnis und Wissen umeinander: Natürlich gibt es schmerzhafte Erfahrungen, Prägungen von Verlust, Entwurzelung und Abwertung. Und Schulter an Schulter reihen sich gleichfalls auch Erfahrungen von Freiheit, Glück und nie dagewesenen Chancen. 

Schnell kamen wir zu dem Schluss, dass die biographischen Prägungen in Ost und West noch immer allgegenwärtig sind und unser Miteinander im Privaten wie im Arbeitsalltag prägen. Dabei gibt es auch 2024 noch Tendenzen, zu meinen, stereotypes Verhalten zu entdecken und daraufhin Personen vorschnell in die Schublade Ossi-Wessi zu stecken. Biographischen Prägungen begegneten uns dabei über alle Alterskohorten hinweg und führte uns zu der Frage, ob diese zum Teil innerhalb von Familien weiter reproduziert werden oder ob es so etwas wie vererbte Identitäten gibt? So war die zum Teil noch immer erfolgende (wenn auch manchmal eher unterbewusst vorgenommene) Kategorisierung bei der Bekanntschaft mit neuen Menschen „Ist sie/er aus dem Osten oder Westen?“, durchaus ein vertrautes und noch immer beobachtbares Phänomen. Eine Schlussfolgerung unserer Diskussion war, dass die wahrgenommenen Unterschiede – ob über Stereotypisierung überhöht oder nicht –in der eigenen Wahrnehmung oft zu Unsicherheiten im Umgang mit den unterschiedlichen biographischen Prägungen führen.

Die zunächst neutrale Benennung von Unterschieden fand laut der Teilnehmenden einen Ausdruck in Erfahrungen von einerseits stereotypen Zuschreibungen ostdeutschen Identitäten gegenüber, Erfahrungen von Verlust, Zurücksetzung, Herabwürdigung, Chancenungleichheit und Diskriminierung. Verletzungen zeigten sich dabei aber durchaus auch auf beiden Seiten – ohne dass es darum ging, die Erfahrungen auf der einen Seite gegen die auf der Anderen gegenrechnen zu wollen. Es wurden auch Erfahrungen des otherings benannt von Personen in eindeutig anders-deutsch sozialisiert-dominierten Settings. Im Vordergrund stand dabei vor allem das als gescheitert erlebte Bemühen um echte Begegnung, Verstehen und am Ende auch um Zugehörigkeit. 

Schmerzhaften biographischen Erfahrungen und Wut über gesellschaftliche Ungleichheiten stand gleichzeitig ein Erleben einer gewissen eigenen, aber auch gesellschaftlichen Sprachlosigkeit gegenüber. Im Raum stand die Aussage, sich nicht einreihen zu wollen in eine „Olympiade des Betroffenseins von Diskriminierung“, was in der Tendenz dazu führen kann, persönliche Triggerpunkte als nicht „angemessen genug“ einzustufen, um das Ostdeutschsein wirklich zum Thema zu machen. 

Die große Frage, die dabei benannt wurde, lautete: Wie hindern uns die Erfahrungen der letzten 30 Jahre, uns vorbehaltlos zu begegnen? Wie kann echte Begegnung auf Augenhöhe aussehen?

Als eine zentrale Voraussetzung machten wir hier einerseits eine Artikulationsfähigkeit zu erlebten Verletzungen aus, ohne dabei dem als stereotyp erlebten Bild des „Jammer-Ossis“ zu entsprechen. Auf der anderen Seite wurde aber auch ein tiefes Bedürfnis benannt, dass in politischen und gesellschaftlichen Kontexten Anerkennung und auch Bedauern über die gemachten Erfahrungen von Abwertung und Diskriminierung vieler Ostdeutscher angemessen artikuliert wird. Eine symbolträchtige Handlung mit Strahlkraft könnte hier einen Beitrag leisten, alte Wunden zu heilen. 

Zu welchen Schlussfolgerungen führte uns der tiefgehende Austausch am Ende des Abends? 

Die fundamentalste Erkenntnis lautete dabei: Wir sind alle Menschen mit einer unterschiedlichen Geschichte. Es braucht immer wieder Gewahrsein darüber, es braucht Neugier zu verstehen und Mut, dafür Sprache zu finden. Um in ein offenes Gespräch zu kommen, wäre eine Voraussetzung, Nicht-Augenhöhe als Ausgangsbasis anzuerkennen. Denn sowohl gesamtgesellschaftlich als auch im unmittelbaren zwischenmenschlichen Kontakt fällt es den Privilegierteren (den Besserverdienenden, den durch ererbten Wohlstand Abgesicherten, Menschen in Top-Positionen, Rang-Höherstehenden etc.) immer schwerer, die Größe soziale Ungleichheiten wahrzunehmen. Aber auch untere Einkommensschichten haben eine verzerrte Wahrnehmung gegenüber besserverdienenden Berufsgruppen (siehe: Christoph Butterwege, Aus Politik und Zeitgeschichte: Ungleichheit in der Klassengesellschaft, 37-38, 2022. Siehe auch den Blogbeitrag von Nicola Kriesel zur Machtkritik). Vielleicht bräuchte es perspektivisch irgendwann so etwas wie „Critical West-ness“? Oder zumindest die Integration des Ostdeutschseins in die Diversitätskategorien (die Zuordnung zur Diversitätskategorie Ethnische Herkunft und Nationalität ließe sich argumentieren, wenn es eine Anerkennung der Tatsache gäbe, dass auch Ostdeutsche über eine Migrationserfahrung ohne Ortswechsel verfügen). Um zwischenmenschliche Gespräche, Reflektion und Austausch in Teams oder auch politische Debatten fruchtbar zu gestalten, bräuchte es vor allem eine Bereitschaft zu mehr Differenziertheit – um die Ambivalenz der unterschiedlichen Gefühls- und Gemengelagen navigieren zu können. „Wir müssen wieder lernen, viel mehr zu fragen, ohne bereits zu glauben, die Antwort zu wissen“, lautete ein persönliches Fazit. 

Und das auch ernüchterte Resümee am Ende lautete: Was wir heute angerissen haben, hat höchste politische Relevanz, ist integraler Teil der großen Debatten! 

Autorin Joana Ebbinghaus

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Sehnsucht nach Verbundenheit

Sehnsucht nach Verbundenheit

Die gestalttherapeutische Selbsterfahrungsgruppe bietet Raum eigene Grenzen, Gefühle und Haltungen in Beziehung zu erforschen. Die Gruppe von max. zehn Teilnehmer:innen bietet dabei einen überschaubaren und intimen Rahmen. Die Teilnehmenden bringen eigene Themen ein und stellen sich der Gruppe mit ihrer Resonanz zur Verfügung. Voraussetzung ist Interesse am Austausch mit Anderen und die Bereitschaft sich auf neue Erfahrungen einzulassen.

Die Kraft der analogen Begegnung ist unersetzlich und lässt uns unsere Lebendigkeit spüren.

Gestalttherapie ist ein humanistisches Psychotherapieverfahren. Wir arbeiten kreativ mit Sprache, Körperwahrnehmung, Musik – und Humor.

Die Begleiterinnen

Termine

Die Gruppe findet ab 14. Mai 2024 fortlaufend 14-tägig, dienstags von 18.30 – 21Uhr statt.

 

Ort

SOCIUS, Tempelhofer Ufer 21, 10963 Berlin

Mehr Info und Anmeldung

Weitere Informationen und Anmeldung nach persönlichem Vorgespräch.

Kontakt: mail@ullablix.de und kontakt@bbuehler.de

Kosten

100 € monatlich

Autorin Joana Ebbinghaus

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Inklusion chronisch Kranker

Machtdynamiken navigieren

Liebe Leser:innen,

wenn wir früher Anfragen für die Begleitung eines Teams in einem Entwicklungsprozess erhielten, ging es dabei um Themen von Rollenklärung, gemeinsamer Ausrichtung oder auch dem Entwicklungsstand der Organisation im Sinne eines nachvollziehbaren Entwicklungspfades („Seid ihr schon in den Niederungen der Differenzierungsphase angekommen… ?“).

Die Welt wird weiter immer komplexer. Die vielfältigen Krisen sind nicht mehr nur ein Hintergrundrauschen in unserem Arbeitsalltag, sondern sitzen praktisch mit am Tisch – sowohl am Meeting- als auch am Familientisch.

In den Anfragen, die uns dieser Tage erreichen, spielen fast ausnahmslos individuelle und kollektive Navigationsfähigkeiten eine Rolle, um mit komplexen gesellschaftlichen, aber auch organisationsinternen Entwicklungen umgehen zu können. Immer wieder geht es um Fragen wie zum Beispiel:

  • Wie können wir Kritik und Schwieriges ansprechen und insgesamt besser werden darin, konstruktiv mit Konflikten umzugehen?
  • Wie können wir neue Umgangsformen und eine Sprache finden für informelle Machtdynamiken?
  • Wie können wir sensibler werden im Umgang mit Privilegien und unsere Strukturen und Prozesse so entwickeln, dass sie vorhandene strukturelle Benachteiligungen mehr ausgleichen?

Die großen Themen, die uns als Gesellschaft und auf der politischen Weltbühne beschäftigen, bestimmen im Sinne der Feldwirkung immer offensichtlicher das Miteinander in Organisationen. Ängste, nicht dazu zugehören, unverbunden zu sein, Kolleg:innen gegen sich aufzubringen, wiegen stärker in Zeiten grundlegender Verunsicherung. Und hoffnungsvoll umgedreht lautet eine mögliche Frage dann:

  • Wie schaffen wir uns Lernfelder in unseren Organisationen für die Kompetenzen, welche so dringend gebraucht werden, um gesellschaftliche Fragmentierung, Polarisierung und auf Eskalation ausgerichtete Manipulation zu überwinden?

Der vorliegende SOCIUS brief zeugt davon, wie sehr auch uns all diese Themen beschäftigen: Im letzten SOCIUS labor ging es in einer neuen Folge der „7 Muskel der Selbstorganisation“ um die Fähigkeit der Selbstnavigation im Umgang mit den in „rauen Gewässern“ erlebter Spannungen. 

Das nächste SOCIUS labor am 15. Februar will erkunden, wo uns in Organisationen Phänomene des Otherings auf der Basis biographischer Prägungen in Ost- und Westdeutschland begegnen. 

Und in eigener Sache sprechen wir eine offene Einladung aus für eine gemeinsame Erkundung: Unter der Überschrift  Facilitate Belonging – wie halten wir Räume der Zugehörigkeit?“ greifen wir den Impuls unserer geschätzten Kollegin Britta Loschke auf, gemeinsam mit anderen beratenden, begleitenden und vor allem kritisch fragenden Personen zu erkunden, welche Rolle unsere Zunft in diesen aufrüttelnden Zeiten spielen kann, Brücken zu schlagen und Trennung zu überwinden bei gleichzeitig klarer Haltung. 

Wir hoffen, ihr findet in unseren Angeboten wertvolle Anregungen und Räume, euch zu verbinden!

Herzliche Grüße aus der SOCIUS Werkstatt,

Joana Ebbinghaus,
Lysan Escher, Nicola Kriesel, Kerstin Engelhardt, Julia Hoffmann, Hannah Kalhorn, Denise Nörenberg, Christian Baier, Andi Knoth

Autorin Joana Ebbinghaus

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Mini-Beratung – wie kann das funktionieren?

Mini-Beratung – wie kann das funktionieren?

Erfahrungsauswertung der Pro Bono Beratungen 2023

Im September 2023 hatten wir unter der Überschrift „Neues im Team anschieben“ drei 4-stündige Pro Bono Beratungen ausgeschrieben. Wir hatten bereits im Vorjahr erste Erfahrungen sammeln können, wie eine zeitlich sehr begrenzte Online-Beratung unter Zuhilfenahme der Online-Module unserer Change Essentials funktionieren kann.

Auch 2023 stieß dieses Angebot auf reges Interesse, so dass wir uns dafür entschieden, vier Beratungen umzusetzen. Die ausgewählten Teams waren ein Personalentwicklungs-Team in der Internationalen Zusammenarbeit, ein Geschäftsstellenteam einer bundesweiten Interessenvertretung, ein ehrenamtlicher Vorstand eines großen Jugendverbandes sowie ein Leitungskreis eines sozialen Vereins. Thematisch spannte sich das Feld zwischen Themen von Führung und Selbstführung, Resilienz, Kultur des Miteinanders bis hin zu Rollen- und Aufgabenverteilung in einem stark selbstorganisierten Team. Nach einem kurzen Vorgespräch bereiteten sich die Teams auf die Beratung dahingehend vor, dass sie eine vorgeschlagene Auswahl an Videos individuell oder zum Teil sogar gemeinschaftlich anschauten, im Nachgang noch miteinander über die Inhalte und ihre Relevanz für sie selbst ins Gespräch kamen und zum Teil erste Reflektionsaufgaben eigenständig ausführten. 

In der anschließenden online Beratung gab es die Möglichkeit, Sichtweisen auszutauschen, grundsätzliche Aspekte der Rollenverteilung neu zu diskutieren und zu vereinbaren, neue Ideen und Impulse aufzugreifen und vor allem auf eine Art ins Gespräch zu kommen, für die im Alltag, insbesondere ohne externe Begleitung, oft wenig Raum ist. So führte zum Beispiel der Austausch über Fragen wie: „Was hilft mir besonders als individuelle Praxis, aber auch in unserem Miteinander im Umgang mit Stress und Belastung?“ oder die Frage nach besonderen Energiefressern selbst in diesem begrenzten Rahmen zu Momenten von tieferem Kontakt, Begegnung und Erstaunen über bisheriges Nichtwissen oder offensichtlich nie überprüfte, implizite Annahmen.

Zum Teil wurde die Beratung auch als eine sehr willkommene Beratung in einer akuten Thematik oder Auseinandersetzung und konnte für unmittelbare Entspannung sorgen. Gleichzeitig war natürlich nicht jeder fachliche Input oder Beratungsimpuls gänzlich neu in Teams, die sich in der Regel bereits länger mit ihrer Selbstfindung und weiteren Entwicklung auseinandersetzen. Aber auch in diesen Fällen wurde die externe Rückspiegelung als hilfreiche Bestätigung aufgenommen. 

Insgesamt ernteten wir viel Respekt und auch Dankbarkeit dafür, dass die SOCIUS change essentials gemeinsam mit der Beratung den Teams wichtige Anstöße geben konnten zu wesentlichen und für sie relevanten Themen. Und wenn ein 4-stündiger online Termin auch keine längerfristige Beratung ersetzt, so konnten wir unserem Eindruck nach einerseits wesentliche Gespräche anstoßen in Teams, die nicht unbedingt in der Position und Lage sind, sich jederzeit Beratungsunterstützung zu suchen. Andererseits löste die Begleitung auch den deutlichen Wunsch nach „mehr“ aus. „Jetzt mit einer regelmäßigen Supervision weiterzumachen, wäre toll!“, lautete das Fazit in einer der vier Schlussrunden. Und eine Organisation konnten wir dahingehend bestärken, sich nun um die Finanzierung einer längerfristigen Beratung über das INQA Coaching  zu bewerben!

Autorin Joana Ebbinghaus

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Gastbeitrag von Jonas Friedrich: Reflexionen zum oe-tag 2023

Gastbeitrag von Jonas Friedrich: Reflexionen zum oe-tag 2023

Zuhören, Wir als Natur und demokratisch-feministisches Organisieren 

Meine Wahrnehmung schweift zu den Seiten hinaus, unter dem Sonnensegel der gesellig-leichtfüßigen Auftaktrede des oe-tag-Teams hervor; die Raben, ihre Verfolgungsjagden, der Wind in den Bäumen, vibrierende Blätter in der Morgensonne. Später frage ich mich, ob eine Art des „horizontalen Fühlens und Hörens“ nicht ein noch weiter zu entwickelnder Baustein von ‚Regenerativen Kulturen‘ und deren Organisation sein mag. Zack, und meine Aufmerksamkeit ist bei den SOCIUS Initiator*innen. Aspekte von Regenerativität, lerne ich, sind sowohl gesundes Arbeiten – konzentrieren, gestalten, wertschätzen, regenerieren, – aber auch eine ökologische Ausrichtung, die über traditionelle Verständnisse von Nachhaltigkeit hinausgehen: Natur wird nicht als getrennt vom Menschen und damit extern, als eine Ressource zu unserem Gebrauch, als anthropozentrisch (durch den anthropos [ἄνθρωπος], griechisch Mensch) kontrolliert verstanden (Gaard, 2021; Oksala, 2018). Mensch und Natur sind untrennbar verschränkt, oder wie der dänisch-französische Soziologe Nicolay Schultz formuliert: in der Klimakatastrophe besitzt die Erde uns, und nicht andersherum.

Wie organisieren wir uns also regenerativ?

„Resonanz erzeugen; Zuhören mit allen Sinnen“ war Teil einer Übung zu „schöpferischer Aufmerksamkeit“, die mir in einem ersten Workshop begegnet. Britta Heine unterstreicht: nicht reagieren, nicht bewerten, kein Ergebnisfokus – einfach 5 Minuten offen zuhören und das Gesagte durch den Körper fließen lassen. Dabei ist Feedback, ein Rat oder eine Meinung – außer es wird ausdrücklich gefragt – nicht das Ziel. Ich verstehe diese Form des generativen Zuhörens als kreativen „Safe Space“, der sich unserer kapitalistischen Logik der Instrumentalität, auf ein Ziel hinzuarbeiten, der „tyranny of success“ wie Jack Halberstram (2011) es nennt, entzieht. Zuhören wird generativ, wenn der*die Zuhörende sich Bewertungen enthält und der sprechenden Person durch aufmerksame Präsenz Räume der Selbst-Exploration ermöglicht – bewertungsarme Reflexion als Re-generation.

An diese neue Zuhör-Erfahrung schlossen sich weitere im Verlauf des oe-tags an. Meine derzeitige Forschung spinnt sich um partizipatives, demokratisches Organisieren und Selbst-Management, im Rahmen dessen Austausch, Dialog, Debatte und dabei auch Zuhören eine ganz neue Bedeutung gewinnt. Aber wie können Qualitäten des Zuhörens in neuen, egalitäreren Formen des Zusammenarbeitens, flacheren und demokratisch legitimierten Hierarchien, und Spielarten von ‚new work‘ aussehen?

Im Folgenden versuche ich, Zuhören nach Zeit bzw. Tiefe des Zuhörens und Intensität des Dialogs zu unterscheiden und eine Taxonomie zu erstellen. 

 

(-) Zeit

(+) Zeit

(-) Dialog-Fokus

Direktives Zuhören

Charakter: Zuhören als Gehorsam; die Empfangende soll etwas verstehen. Es geht nicht um Zuhören für einen Dialog, sondern zuhören als Element für Koordination. 

Beispiel: Klassische hierarchische Organisationen e.g. Extrembeispiele: Militär, Kirche, Autokratien. 

Prekaritäten: Koordination und Effizienz im besten und Machtausübung und -missbrauch im schlechtesten Fall können Teil dieser Art des Zuhörens sein. Zuhören ist eingebettet in Hierarchien und Abhängigkeiten, die mögliche Antworten oder Reaktionen (incl. Ausführung) auf das Gesagte rahmen. 

Generierendes Zuhören

Charakter: Verstehen der Zuhörenden tritt in den Hintergrund, während die Selbstexploration der Sprechenden ermöglicht wird. Das Gesagte wird nicht bewertet und nur bei expliziter Nachfrage kommentiert. 

Beispiel: Schöpferische Aufmerksamkeit, achtsames Zuhören (z.B. in der Tradition von Thich Nhat Hanh)

Prekaritäten: Das Grundprinzip des Nicht-bewertens kann schwer umzusetzen sein. Die Auswirkungen des schöpferischen Zuhörens auf die Beziehung der involvierten Personen kann herausfordernd sein, besonders wenn tiefgreifende weltanschauliche Differenzen bestehen, die danach nicht diskutiert werden. 

(+) Dialog- Fokus

Assoziatives Zuhören

Charakter: Zuhören in schnellen, assoziativen, iterativen Austauschzirkeln; Ziel ist die gemeinsame Ideengeneration und der Wissensaustausch.

Beispiel: Eingesetzt oft in kreativen, innovations- oder strategiebezogenen Kontexten z.B. Brainstormings.

Prekaritäten: Zuhören kann zum ‚downloaden‘ der eigenen Ideen verkommen; ein Nicht-zuhören. Dominante Stimmen können in diesen Formaten Überhand nehmen. 

Tiefes Zuhören

Charakter: Interesse an dem Verstehen der Inhalte des anderen, aktiven Zuhörens durch Nachfragen, nachhaken, paraphrasieren.

Beispiel: Entschleunigte Strategieformate, Supervision, tiefe Dialogformate, Mediation.

Prekaritäten: Kann starke emotionale Arbeit bedeuten, die nicht selten unbezahlt von weiblich gelesenen Personen ausgeführt wird. 

 „Direktives Zuhören“ bildet dabei die klassischste Form einer Zuhörqualität, die eher mit hierarchisch gegliederten Organisationen und klaren Arbeits-Abhängigkeiten in Verbindung steht – Überspitzt wird Zuhören zum Befehlsempfang und das akkurate Verstehen der Anweisung zur Voraussetzung, in der Organisation fortbestehen zu können. Eine Vielfalt von Spielarten des Zuhörens versteckt sich hinter dieser weitverbreiteten Kategorie, die sowohl im klassischen Verständnis von Bürokratie effizient, zweckrational und Ordnung-schaffend sein kann, als auch vielfältige Elemente der Über- und Unterordnung und Macht impliziert. Eine Chance demokratischen Organisierens ist, dass solche Hierarchien erst durch ‚alle‘ demokratisch legitimiert werden müssen, und nicht wie in vielen klassischen Unternehmen vornehmlich Kapital-getrieben sind. 

„Assoziatives Zuhören“ und „Tiefes Zuhören“ haben einen stärkeren Dialog- und Austausch-Fokus, da es um gemeinsames Verstehen, Weiterdenken, Informationsweitergabe, aber auch Lösungen finden und Verhandeln geht. 

Besonders spannend finde ich, dass „Generierendes Zuhören“ sowie „Direktives Zuhören“, wenngleich ganz anders gelagert, beides einseitig funktioniert. Dabei verkehren sich jedoch die Dominanzverhältnisse: das Generierende Zuhören wird zur Befähigung einer kreativen Selbst-Exploration im Gegensatz zur direktiven Befehlsannahme. Und dabei soll nicht gesagt sein, dass Hierarchie und direktive Anweisung in bestimmten Momenten des Organisierens nicht nur effizient, sondern auch ethisch vertretbar sein können. Beispiele sind Einsätze von Notärzt:innen oder der Feuerwehr und andere zeit- und verantwortungsintensive Kontexte. In anderen Organisationen mag einseitige Direktion wertvollen Dialog verhindern, besonders bei informationsintensiver Wissensarbeit, in welcher unterschiedliche Perspektiven Grundlage für gute Ergebnisse sind. 

Eine feministische Perspektive auf’s Zuhören

Sich als „Source“ verstehen, sich selbst zuhören, kann feministische Führung in Genossenschaften, aber auch anderen Organisationen stärken. In einem zweiten Workshop von Wera Stein und Amelie Salameh von der Kampagnenagentur und Organisationsberatung WIGWAM lerne ich: Das Betonen von Gleichheit in Eigentums-Strukturen und Gerechtigkeit in demokratischen Prozeduren bedeutet nicht, dass die Unterschiedlichkeit von Mit-Unternehmer*innen immer geachtet ist. In ihrem Workshop beschreiben sie die Gefahr des Glattbügelns vielfältiger Persönlichkeiten in (zu wenig agiler) demokratischer Führung. Damit verbunden seien träge Prozesse und nicht selten fehlende Initiative – Gleichheits-Überschuss kann in kollektiven Organisationen blockieren. Hinzufügen möchte ich gerne, ein Streben nach formaler organisationaler Gleichheit in Organisationen findet stets im Rahmen einer ungleichen Gesellschaft statt. Unsere Gesellschaft verteilt Handlungspotentiale und Macht verschieden. Analysiert man sie anhand von Aspekten wie Geschlecht, Hautfarbe, sozio-ökonomischer Schicht und anderen Merkmalen sowie ihren Schnittstellen, wird deutlich, dass einige im Durchschnitt Privilegien, andere Diskriminierungen mit sich bringen. Diese werden auch in Organisationen sichtbar; auch wenn dort formelle Gleichheit z.B. durch demokratische Strukturen angestrebt wird, vermenget sich dies mit den Ungleichheiten unserer Welt. 

Aber zurück zum feministischen Führen, für welches Wera Stein und Amelie Salameh zwei Konzepte in Dialog bringen. Anhand von Ursula K. Le Guins (2020) „Tragetaschentheorie“ wird spielerisch-poetisch die Menschheitsgeschichte aus weiblich-fürsorgender Perspektive statt über „Speer“, Kampf und Wettbewerb neu erzählt. Damit verbunden sind Forderungen zur „Entmaskulinisierung“ von Führung (Bastida et al., 2020) und dem gerechten Verteilen und Wertschätzen von Fürsorge-Arbeit (Fraser, 2016). Zudem wird das Konzept „Work with Source“ aus Peter König und Tom Nixons (2020) Arbeit vorgestellt. Es richtet die Aufmerksamkeit auf die Kraft von Initiator*innen und das Potential von Ideen. Der eigenen ‚Source‘ zuzuhören, eigene Kräfte und Impulse zu entdecken und diese mutig nach außen zu kommunizieren, kann als Moment des Selbst-Zuhörens und kraftvoll unternehmerisch zu sein, verstanden werden. Ich lerne: im Verfolgen von organisationaler Gerechtigkeit, Demokratie und Partizipation, bedarf es Empowerment und die Legitimation und Kraft, die eigene „Source“ zu ergreifen und sich einzubringen. Das ist aus feministischer Sicht besonders für Frauen und andere Personen, die durch unterschiedliche Formen von Diskriminierung ihr Potential nicht umfänglich in die Organisation einbringen können, wichtig und stärkend. 

Resümee

Nun ist der Text beinahe geschrieben und schon erwische ich mich wieder dabei, Zuhören und feministisches Führen vornehmlich als sozialen Prozess zu präsentieren. Wo sind die Raben, die Bäume, das Säuseln des Windes und das Wahrnehmen der so sehr vertrockneten Landschaften Berlins? Erschreckend schlecht bin ich, wie wohl viele von uns, dem Sozialen, auch wenn es dort um wichtige Kämpfe und Gerechtigkeitsfragen geht, den Fokus auf Natur nebenanzustellen. Dabei zeigt eine Reihe von Forschungen, dass die Arbeit an Gender-Gerechtigkeit in vielerlei Hinsicht auch eine Arbeit gegen die Klimakatastrophe ist (siehe hierzu: Gloor J. L. et al. 2022). Ich möchte daher argumentieren, regenerative Kulturen transformieren die Ungleichheiten des Sozialen, schaffen neue Räume der Ruhe, des Zuhörens und der Regeneration, aber gleichzeitig lauschen und antworten sie auf die desaströsen Veränderungen unserer Mitwelt und begegnen ihnen regenerativ. Wie funktioniert also Zuhören der Natur, oder tiefer Zuhören als Teil der Natur? Vielleicht sollten wir Workshops, Konferenzen, unsere Arbeit, oe-tage nicht im Plenum von Menschen, sondern im Parlament der Natur starten? Z.B. zehn Minuten raus zu den Raben, zu den Linden und dann erst in soziale Interaktion? Zudem, sprechend mit Bruno Latour (2004), sehe ich auch die Notwendigkeit, Natur vermittelt über Expert*innen, ihren Forschungen und Positionen zuzuhören. Unsere Ökosysteme sind größer und komplexer als das, was wir unmittelbar erspüren und erfahren können. Daher vielleicht auch eine obligatorische Pause in jeder Konferenz, jedem Workshop oder Arbeitstag, um neuesten, unterschiedlichen Forschungen zu lauschen? Ihr seht schon, nun könnte ich neu beginnen mit einer Taxonomie des Zuhörens. Vielleicht nehmen wir uns das gemeinsam vor? 

Ausgewählte Literatur Hinweise:

Bastida, M., Pinto, L. H., Olveira Blanco, A., & Cancelo, M. (2020). Female Entrepreneurship: Can Cooperatives Contribute to Overcoming the Gender Gap? A Spanish First Step to Equality. Sustainability, 12(6)

Fraser, N. (2016). Contradictions of Capital and Care. New Left Review, 100, 99–117.

Gaard, G. (2021). Queering the climate. Men, Masculinities, and Earth: Contending with the (m) Anthropocene, 515–536.

Gloor, J. L., Eugenia, B. M., Post, C., & Winfried, R. (2022). We Can’t Fight Climate Change Without Fighting for Gender Equity. Harvard Business Review; Harvard Business Publishing: Brighton, MA, USA.

Halberstam, J. (2011). The Queer Art of Failure. In The Queer Art of Failure. Duke University Press. 

Latour, B. (2004). Politics of nature. Harvard University Press.

Le Guin, U. K. (2020) Am Anfang war der Beutel. Warum uns Fortschritts-Utopien an den Rand des Abgrunds führten und wie Denken in Rundungen die Grundlage für gutes Leben schafft. Drachen Verlag

Nixon, T. (2020) Working with Source. Realize big ideas, organize for emergence and work artfully with money. 

Oksala, J. (2018). Feminism, capitalism, and ecology. Hypatia, 33(2), 216–234.

Über den Schreibenden

Jonas beschäftigt seit seiner Jugend die Frage, wie wir die Wirtschaft sozialer und ökologischer gestalten können. Er hat Ökonomik und Soziologie an der Uni Witten/Herdecke und Oxford University studiert und promoviert derzeit zu ‚Democratic Organizing Opportunities and Challenges for the Socio-Ecological Transformation‘ an der Universität St. Gallen. Darin bezieht er sich auf queer-feministische Theorien und relationale Ethiken. Praktisch begleitet er Organisationen zu kollegialer co-leadership, partizipativen und demokratischen Prozessen und gerechter ‚new work‘.

Schreibt mir gern: LinkedIn / mail@jonasfriedrich.eu

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Ausschreibung für pro bono Online-Beratung

Ausschreibung für pro bono Online-Beratung

Werdet im Team Beta-Tester:innen der SOCIUS change essentials!

Pro bono Teamberatung zu ausgewählten Themen der Organisationsentwicklung

Die fleißigen Leser:innen unseres SOCIUS briefs haben bereits mehrfach von unserem Onlinekurs  „SOCIUS change essentials – Neue Wege der Organisationsentwicklung“ gehört. Inzwischen haben sich bereits 220 Menschen für die selbständige Nutzung angemeldet. Das freut uns sehr!

Dank einer weiteren Förderung durch die Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt (DSEE) haben wir nun ein weiteres Schmankerl für euch:

Wir bieten für 2 Teams eine jeweils 4-stündige Beratung zu einem der online Module „Entscheidungen“, „Kollaboration“, „Resilienz“ oder „Rollen“ an!

 

Worum geht es:

Wir möchten die Anwendbarkeit unserer Module testen und unser Begleitprogramm ausbauen – ihr könnt ein für euch zentrales Thema in einem Mini-Workshop mit uns beleuchten.

So funktioniert es:

  • Ihr verständigt euch im Team, welches der zentralen Themen Entscheidungen, Kollaboration, Resilienz oder Rollen ihr gern mit externer Begleitung reflektieren möchtet.
  • Ihr bewerbt euch bis zum 28.10.22 unter info@socius.de mit einer halben Din A 4-Seite, auf der ihr beschreibt, wer ihr seid, wer an der Beratung teilnimmt, was eure aktuelle Situation ist und euer Beratungsbedarf zum ausgewählten Thema. Auch bitten wir euch, direkt 2-3 halbe Tage zu nennen, die terminlich für euch in Frage kämen.
  • Wir sichten die Bewerbungen und wählen auf der Basis unserer Verfügbarkeit und unseres Kriteriums, unterschiedliche Themen abzudecken, zwei Teams aus und informieren euch darüber am 2. November 2022.
  • Telefonisch suchen wir nach einem geeigneten Termin.
  • Im Vorfeld der Beratung geben wir euch und eurem Team die Aufgabe, einzelne Videos als Vorbereitung anzusehen, verbunden mit einigen Reflektionsfragen.
  • Die 4-stündige digitale Beratung findet dann zwischen Anfang November und Mitte Dezember statt.

Wir sind gespannt und freuen uns auf eure Bewerbungen für dieses Mini-Beratungsformat!

An dieser Stelle noch der Hinweis: Es wird bis Jahresende noch weitere Angebote im Zusammenhang mit den SOCIUS  change essentials geben: Kurze offene Austauschformate zu den einzelnen Modulen, Help Desk Angebote und mehr – Also: fleißig SOCIUS brief lesen!

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Positive Führung für lebendige Organisation – Mit PERMA Lead 360°Feedback Prozesse gestalten

Positive Führung für lebendige Organisation – Mit PERMA Lead 360°Feedback Prozesse gestalten

Kurz vor Beginn der langen Sommerpause hatten wir ein spannendes Labor zum Thema „Positive Führung“. Carolin Gebel führte ein in ein Grundverständnis von Positiver Führung und den spezifischen Ansatz PERMALead, der von Markus Ebner entwickelt wurde, aufbauend auf den Erkenntnissen und Haltungen der Positiven Psychologie. 

Während klassische Ansätze von Therapie, Beratung und Coaching in der Regel eher darauf ausgerichtet sind, Probleme zu beseitigen und Leid zu mindern, fragt die von Martin Seligman begründete Positive Psychologie: Was braucht es an Bedingungen und Zutaten, dass Menschen aufblühen und ihr Potenzial entfalten können? Dem Menschenbild einer Pflanze, die wachstumsfördernde Bedingungen braucht, um sich optimal zu entwickeln und ganz zur Blüte zu kommen, stellte Carolin die Metapher von Organisationen als Ökosystem gegenüber, die eine inhärente Lebendigkeit besitzen, sich von innen heraus weiterzuentwickeln und ihr Potenzial zu entfalten. Stichworte, die auftauchten, ein solch lebendiges Organisationssystem zu beschreiben, waren Kooperation, Durchlässigkeit, Vielfalt der Beziehungen, Wechselwirkung, Feedback, Begrenzung und Selbstorganisation.

PERMALead ist ein spezifischer Ansatz der Führungskräfteentwicklung, der 360 Grad Feedback Prozesse nutzt, um Führungskräfte dafür zu sensibilisieren, mit welcher Haltung und Verhalten sie dazu beitragen, wachstums- und potenzialfördernde Bedingungen zu schaffen. Die sogenannten PERMA Prinzipien, entlang derer das Feedback aufgebaut ist, lauten: 

P = Positive Emotionen

E = Engagement

R = Relationships (im Deutschen: Tragfähige Beziehungen)

M = Meaning (im Deutschen: Sinn der Arbeit)

A = Accomplishments (im Deutschen: Kleine Erfolge)

Die Fragen dahinter lauten, inwieweit ermögliche ich als Führungskraft positive Emotionen bei meinen Mitarbeitenden? Wie fördere ich mit Blick auf die spezifischen Stärken individuelles Engagement? Wie schaffe ich tragfähige Beziehungen mit meinen Kolleginnen und Kollegen? Wie vermittle ich einen Sinn in der Arbeit und wie mache ich Erreichtes sichtbar beziehungsweise würdige ich auch kleine Erfolge? 

In einer ersten Austauschrunde wurde deutlich, dass eine positive Feedback Kultur als Lieferantin für Energie und wichtige Entwicklungsschritte erlebt wird, dass die Umsetzung aber mit mindestens genau so großen Herausforderungen und Hürden verbunden ist. So wurden einige Erfahrungen geteilt, wie sehr sich Mitarbeitende in der Regel ein ehrliches Feedback von Vorgesetzten wünschen, um Orientierung zu erhalten, ob sie an sie gesetzte Erwartungen erfüllen, aber auch, um dazulernen zu können. Gleichzeitig steht dieses in einem sensiblen Verhältnis zu den hierarchischen Ausprägungen in der Organisation. Schon Führungskräften fällt es oft schwer, hilfreiches und zugleich auch ehrliches Feedback zu geben. Die Forschung sagt inzwischen, dass es grundsätzliche ein Verhältnis 5:1 von positivem zu kritischem Feedback braucht, damit wir kritische Rückmeldungen gut annehmen können. Gleichzeitig kommen wir dem mechanistischen „Sandwich- Prinzip“ – saftige Rückmeldungen in eine weiche Ober- und Unterklappe zu verpacken, damit sie verdaulich werden – als sensible Beziehungswesen in der Regel schnell auf die Spur! Dies bedeutet, dass positive Rückkopplungen grundsätzlich nur wirksam sind, wenn sie echt und authentisch sind und eben einer grundsätzlich eher positiven und wertschätzenden Grundstimmung in der Organisation entsprechen. Um so herausfordernder wird dann ein verordnetes Upward Feedback: Anfänglich ist mit Zurückhaltung zu rechnen bis wir erleben, dass diese Einladung ernst gemeint ist. Gibt es dann einige Mitarbeitende, die sich trauen, auch kritisches Feedback zu geben, wird sehr genau wahrgenommen, ob die Führungskraft in der Lage ist, dieses gut anzunehmen (ganz zu schweigen von gefürchteten Bestrafungen an anderer Stelle). Gibt es leise Anzeichen, dass dies nicht der Fall sein könnte, ist die Folge in der Regel, dass Feedback weichgewaschen wird und man sich aus Selbstschutz in einer Harmoniesauce verliert. Das Fazit an dieser Stelle war: Feedback funktioniert nur, wenn es in eine Feedback Kultur eingebettet ist, eine Kultur des Gedeihens, die das Augenmerk darauflegt, was die Pflanzen im Ökosystem Organisation wirklich benötigen, um zu wachsen und zu erblühen: Nährstoffe, gute Nachbarschaft, Luft und Licht!

Der nächste Austausch zwischen den Teilnehmenden befasste sich vor allem mit der Frage: Wie mache ich das ganz konkret? Wie bekomme ich es zum Beispiel hin, mir wirklich eine positive Grundhaltung anzueignen und es nicht als eine auferlegte Floskel zu begreifen? Zu den Einsichten, die dabei auftauchten, gehörte, dass der Rückzug auf unverrückbare Persönlichkeitsmerkmale an dieser Stelle nicht hilfreich und stimmig ist. Denn die Dimensionen von Führungsarbeit und Selbstführung sind nicht automatisch gleichzusetzen. Selbst wenn ich selbst keine heillose Optimistin bin und mir selbst vielleicht nicht immer mit einer positiven Grundhaltung begegne, bin ich möglicherweise trotzdem gut darin, eine solche Atmosphäre im Team zu fördern. Um uns bewusster zu erlauben, dass Spaß dazu gehört und ein wichtiger Bestandteil von Arbeit ist, könnten wir in einem ersten Schritt versuchen, die Worte „aber“ und „müssen“ aus unserem Wortschatz zu streichen!

Kompetenter zu werden, tragfähige Beziehungen aufzubauen, wenn mir das nicht natürlicherweise in die Wiege gelegt wurde, gehört hier mit Sicherheit zu den größten Herausforderungen. Die Relevanz überzeugte die meisten Anwesenden: Als Führungskraft kann ich nicht von allen Mitarbeitenden geliebt werden. Aber letztendlich geht es darum, berechenbar zu sein. Für diese Einschätzung braucht es wiederum sichtbare und nachvollziehbare Emotionen. Verstecken diese sich dauerhaft hinter einer Maske der Professionalität, entstehen sehr schnell Phantasien über eine mögliche hidden agenda.

Die zentrale Überlegung, die dem PERMALead Ansatz zugrunde liegt, lautet: Inwieweit ist mein Selbstbild kohärent mit dem, wie ich von außen wahrgenommen werde? Und dabei steht nicht eine vermeintlich objektive Bewertung im Vordergrund, sondern die hilfreiche Frage: Finde ich, dass Dein Verhalten / das Verhalten meiner Führungskraft stimmig ist in ihrer und meiner Welt? Somit geht es um Rückmeldungen zu wahrgenommenem Verhalten und ein Kohärenzerleben, aber nicht um Rückmeldungen zur Persönlichkeit. Dafür braucht es gleichzeitig von Seiten der Führungskraft auch die Selbstmitteilung: Wie sehe ich mich eigentlich selbst in Bezug auf diese Prinzipien, die für mich einen Werte- und Zielrahmen darstellt? Und inwiefern bin ich mir meiner Kompetenzen bewusst und kann mich anderen gegenüber auch erklären – um hier nicht als möglicherweise arrogant rüberzukommen? 

360 Grad Feedback in Zusammenhang mit einem klar definierten Werterahmen ist jedoch allein noch kein Tool der Führungskräfteentwicklung. Letztendlich braucht es eine Begleitung über Coaching, um aus dem Abgleich von Wahrnehmungen zu einem individuellen Entwicklungsprozess zu kommen.

Und last but not least, erfuhren wir auch noch einiges über die Ergebnisse der Forschung. Denn der PERMALead Ansatz ist inzwischen sehr gut wissenschaftlich untersucht und liefert uns somit einiges an Erkenntnisse über die Auswirkungen positiver Führung. So lässt sich feststellen, dass sie

  • positiv chronischer Stressbelastung entgegen wirkt,
  • Resilienz im Team stärkt,
  • Motivation und Engagement von Mitarbeitenden beflügelt
  • Flexibilität und Veränderungsbereitschaft fördert
  • und Kreativität und somit den Erfolg von Organisationen voranbringt. 

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Sneak Preview: Change Essentials – Neue Wege der Organisationsentwicklung

Sneak Preview: Change Essentials – Neue Wege der Organisationsentwicklung

Der Vorhang wird vorsichtig angehoben

Zu sehen ist eine Bordküche, in der ordentlich geschnippelt, gebrutzelt und gerührt wird. Wie schon im vorletzten SOCIUS brief angekündigt, haben wir uns auf ein multimediales Abenteuer begeben. Hiermit wollen wir den Leser:innen ein wenig Appetit machen auf das, was auf euch wartet. Das fertige Gericht wird dann im Juni serviert. 

 

 

Soviel können wir schon verraten. Es gibt: 

* Eine Kanutour, erfahrene Reiseleitungen und einiges an praktischen Ausrüstungsgegenständen und Navigationsinstrumenten für eure Organisationen

* Eine Menge Holz und zündende Ideen

* 6 inhaltliche Module und 1 Spielleitungsmodul

* Viele Gedanken und Anregungen zum Thema Führung. Rollen und Aufgaben. Entscheidungen. Resilienz. Strategie. Kollaboration

* 42 Filme (sic!) – um den Antworten auf die Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest so nahe wie möglich zu kommen!

* Mindestens 30 Arbeitsblätter zum Download

* Unterschiedlichstes Terrain, aber immer sehr nass

* Fast alle Gesichter von SOCIUS in Nahaufnahme. 

Und stellt euch vor, das alles ist gratis für euch Dank der Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt (DSEE). Aber mehr verraten wir wirklich noch nicht. Wir wünschen euch und uns weiterhin viel Vorfreude!

Sinnvoll zusammen wirken

SOCIUS brief April 2022

SOCIUS brief April 2022

sinnvoll zusammenwirken

Bindung und Verbindung – Wie unsere Bindungsmuster unsere Arbeitsbeziehungen beeinflussen

Bindung und Verbindung – Wie unsere Bindungsmuster unsere Arbeitsbeziehungen beeinflussen

Die Bindungstheorie ist eine der am meisten erforschten psychologischen Theorien. Sie erklärt, wie wir als soziale Wesen miteinander in Kontakt und Beziehung treten – auf der Basis dessen, wie wir -meist in frühester Kindheit – Sicherheit erlebt haben in unseren engen emotionalen Beziehungen. In der Arbeit mit Kleinkindern gehören Erkenntnisse aus der Bindungsforschung zum Standard. In ihrer Relevanz für die Zusammenarbeit von Menschen in Organisationen hat sie bisher wenig Anwendung und Aufmerksamkeit erhalten. So lädt uns die Organisationspsychologin Bea Schramm am Nachmittag des 17. Juni ein, eben diese Zusammenhänge gemeinsam zu erforschen.

Die meisten der Teilnehmenden dieses SOCIUS labor haben sich bereits in persönlichen Kontexten mit der Bindungstheorie auseinandergesetzt und sind neugierig, wie die Übertragung auf Arbeitskontexte aussehen könnte und wie wir in unseren unterschiedlichen Rollen als Supervisor:innen oder Projektleiter:innen auch andere für die Wirkmächtigkeit dieser frühen Beziehungserfahrungen in unserem Handeln als Erwachsene sensibilisieren können.

Die Bindungstheorie, die ab den späten 40er Jahren vor allem von dem britischen Psychiater und Analytiker John Bowlby begründet und bis in die Gegenwart kontinuierlich weiterentwickelt wird, geht davon aus, dass Kinder ein angeborenes Bedürfnis haben, enge emotionale Beziehungen mit ihren Bezugspersonen einzugehen. Die Verlässlichkeit dieser Beziehung, in Situationen von Stress, Trennung und Angst Schutz und Trost zu finden

Forschungsgeschichte und Referenzen

John Bowlby gilt als der Vater der Bindungsforschung. Er übernahm in den 40er Jahren die Abteilung „Kinder und Eltern an der Tavistock Clinic in London und legte die theoretischen Grundlagen. Vor allem Mary Ainsworth, aber auch James Robertson reicherten die Theorie in den folgenden Jahrzehnten mit vielfältigen empirischen Forschungen zur Eltern-Kind Bindung an. Unter anderem führten sie auch Studien in Uganda durch und ließen sich von der Primatenforschung und den Forschungen von Konrad Lorenz inspirieren. Bowlby und Ainsworth entwickelten die Bindungsforschung bis in die späten 70er und frühen 80er Jahren hinein. Mit der Entwicklung der adult attachment interviews in den 80er Jahren lassen sich Bindungsstile bei Erwachsenen diagnostizieren. Seit den 90er Jahren wird die Bindungsforschung kontinuierlich weiterentwickelt und mündete in der Entwicklung der Bindungstherapie. Im deutschsprachigen Raum sind Hanus und Mechthild Papoušek sowie Karl Heinz Brisch an der Universität München und Karin und Klaus Grossmann an der Universität Regensburg führende Vertreter:innen. Diese führten z.T. Langzeitforschungen von der Geburt bis zum 22. Lebensjahr durch. Neuere Forschungsschwerpunkte erkunden die Übertragbarkeit der Bindungsforschung auf den schulischen Kontext oder das Verhältnis zwischen Mensch und Tier (z.B. Kurz Kotrschla).

prägen grundlegende Bindungsmuster, die sich in unterschiedlichem Bindungsverhalten, aber auch in biochemischen Reaktionen, wie zum Beispiel dem Cortisolspiegel im Körper, ausdrücken. Für die Entwicklung einer sicheren Bindung ist es nötig, dass die jeweilige Bindungsperson, die Signale des Kindes wahrnimmt, richtig interpretiert und angemessen auf die Bedürfnisse des Kindes reagiert.

Bei Kindern werden die folgenden vier Bindungstypen mit jeweils unterschiedlichen Verhaltens- und Reaktionsmustern in Stresssituationen unterschieden:

Bindungsstil

Bindungsverhalten

Sichere Bindung

Angemessener Umgang mit Stresssituationen: Gefühlen von Angst oder Stress wird nachvollziehbar Ausdruck verliehen, steigender Cortisolspiegel, bei gutem Kontakt mit Bezugsperson schnelle Beruhigung, Ausschüttung von Oxytozin und Abbau von Cortisol

Unsicher-vermeidende Bindung

Keine offen zur Schau gestellten Gefühle, Pseudo-Unabhängigkeit und Kontaktvermeidung mit Bezugsperson als Stress Kompensation, langanhaltend hoher Cortisolspiegel

Unsicher-ambivalente Bindung

Widersprüchliches Handeln gegenüber Bezugsperson, Hin- und Hergerissenheit zwischen Nähe und Distanz, anhänglich, aber sehr schwer zu beruhigen, über Stunden erhöhter Cortisolspiegel

Desorganisierte Bindung

Fehlen von Strategien des Umgangs mit Stresssituationen, Bezugspersonen zumeist als Quelle von Angst erlebt. Reaktionen: Emotionslosigkeit, Erstarrung, Lähmung oder Schaukeln und im Kreise drehen; dauerhaft erhöhter Cortisolspiegel.

Die Forschung zeigt, dass Bindungsstile zu großen Teilen in den ersten zwei Lebensjahren geprägt werden. Hier formt sich unser Abbild, sogenannte inner working models, mit welchen Erwartungen und Reaktionsmustern wir uns in zwischenmenschliche Beziehungen begeben, sozusagen auf der Suche nach Bestätigung unserer erlernten Grundannahmen. Inzwischen ist auch die transgenerationale Wirkung von Bindungsstilen gut untersucht: In 50% der untersuchten Fälle gibt es einen direkten Zusammenhang zwischen dem Bindungsstil der Großmutter und eigenen Bindungsmustern.

An dieser Stelle macht sich eine deutliche Schwere bemerkbar im virtuellen Labor-Raum und die Teilnehmenden fragen sich: Sind wir wirklich so vollständig determiniert in unserem Bindungsstil und -vermögen und der eigenen Geschichte sowie der unserer wichtigsten Bezugspersonen gegenüber ausgeliefert? Oder ist hier auch ein Nachheilen und Nachlernen möglich? Die Bindungstherapie geht davon aus, dass die erworbenen Bindungsmuster, die auch mit Strukturveränderungen im Gehirn einhergehen, möglich sind durch neue verlässliche Bindungserfahrungen, aber in der Regel unter großem Aufwand. Bea bietet uns an dieser Stelle ein anderes Bild an: Wir können auch aktiv und selbstverantwortlich das Skript unseres Lebens um dasjenige, das uns biographisch mit auf den Weg gegeben ist, herum schreiben. Statt gegen die eigenen Muster anzukämpfen, können wir uns die Frage stellen: „Wofür ist mein Bindungsstil gut, wann ist er hilfreich und wo schafft er eher Schwierigkeiten? Und wie kann ich mit dem, was ist, bestmöglich umgehen?“. Das Verständnis für die Ursachen von Bindungsschwierigkeiten, kann für uns selbst, aber auch für andere entlastend sein.

Genau diese Einsicht ist es, die dann den Übergang bildet zu der Diskussion über beobachtbares Bindungsverhalten im Arbeitskontext. Wir tragen typische Eigenschaften der unterschiedlichen Bindungstypen zusammen: So zeigen unsicher-vermeidende Bindungstypen im Arbeitskontext zumeist einen hohen Grad an Autonomie, fragen seltener nach, wenn es Unklarheiten gibt. Sie können sich zuweilen kratzbürstig, abweisend oder aufmüpfig geben. Der unsicher-ambivalente Bindungstyp hingegen zeigt sich oft ängstlich und unsicher, fordert viel Aufmerksamkeit und Kommunikation ein, um mit eigenen Unsicherheiten umzugehen.

Den Perspektivwechsel wagen wir nun gleich zweifach. Zunächst die Frage: Was macht andererseits diese Bindungsstile besonders wertvoll in Teams? Die autonomen Vermeider:innen erweisen sich wiederum in Krisensituation als handlungsfähig, während die ambivalenten Unsicheren oft zu wichtigen Resonanzkörpern und Seismographen in Organisationen werden, die sensibel auf Veränderungen und Gefahren reagieren. Und in einem nächsten Schritt versuchen wir, in kleinen Rollenspielen in unterschiedliche Bindungstypen hineinzuschlüpfen -wie fühlt es sich an, mit so einer Brille auf die Welt zu schauen? Das Fazit der Teilnehmenden: Es ist gar nicht einfach, sich in eine Rolle mit abweichendem Bindungsstil zu begeben, aber es hat definitiv für mehr Empathie gesorgt, denn unsichere Bindungsmuster sind in erster Linie ganz schön anstrengend!

Die Ernüchterung der Einstiegsphase hat sich am Ende des Labors verflüchtigt. Der Blick ist stattdessen gerichtet auf unterschiedliche Möglichkeiten eines stärkenorientierten Umgangs mit verschiedenen Bindungsstilen in Teams; und auf die Chance, welche die Bindungstheorie bietet als Orientierung und Folie für Teamentwicklung.

 

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Wach sein und mit offenen Augen durchs Leben gehen

Wach sein und mit offenen Augen durchs Leben gehen

In unserer neuen Kategorie „SOCIA Ausblicke“ wollen wir versuchen regelmäßig unser Augenmerk auf die Situationen von Frauen* im Arbeitsleben in NGOs, im Beratungsgeschäft und in Führungsverantwortung zu richten.

Zum Ende der Sommerferien hat Joana Ebbinghaus unsere Fragen beantwortet. Wir freuen uns schon jetzt auf die Antworten von Julia Hoffman und den anderen Frauen aus unserem SOCIUS NextWerk. Bestimmt haben auch einige Kollegen Interesse daran die Fragen zu beantworten. 

 

Was ist deiner Meinung nach der beste Weg, eine Gesellschaft zu verändern? 

Wach sein und mit offenen Augen durchs Leben gehen. Den Mund aufmachen, wenn die eigenen Werte verletzt werden oder man mit strukturellen Ungerechtigkeiten konfrontiert wird. Auf das Verbindende schauen, nicht auf das Trennende und gemeinsam anpacken, da wo sich Chancen ergeben.

Wie bist du zu deinem Job gekommen? 

Irgendwie schicksalhaft. Nach 13 Jahren im Ausland in der Entwicklungszusammenarbeit, ohne nennenswerte Netzwerke in meiner Heimatstadt Berlin und in dem Ringen, mir eine neue berufliche Existenz aufzubauen, haben mich zwei ganz unterschiedliche Kontakte zu SOCIUS geführt. Der eine gab mir die Empfehlung: Ruf doch einfach mal dort an, ich glaube, Du würdest gut zu ihnen passen. Der andere Kontakt mit einem konkreteren Angebot, eine bereits begonnene Planung zur Zusammenarbeit im Bereich Training für internationale NGOs zu übernehmen und weiterzuführen. Ein kurzes Beschnuppern, eine wilde Nikolausfeier, enorm viel Vorschussvertrauen und viel intuitives Bauchgefühl auf beiden Seiten: Wir möchten gern zusammenarbeiten!

Was möchtest du mit deinem Job erreichen?

Menschen berühren. Dadurch, dass sie sich ihrer eigenen Potenziale, Kompetenzen und Handlungsspielräume gewahr werden, dass sie einander neu begegnen, in Kontakt sind, gemeinsam Schätze heben, Wirksamkeit entfalten, unbeleuchtete Ecken erhellen, aufrütteln, die Welt verändern.

Welchen Beruf wolltest du lernen als du ein Mädchen* warst? 

Forscherin und Entdeckerin – das mythische Gold der Inkas finden oder irgendeinen weißen Fleck auf der Landkarte abschreiten.

Wen oder was bewunderst du?

In meiner Arbeit begegne ich immer wieder Menschen, die ich zutiefst bewundere:

In Indonesien die vielen NGO Aktivist:innen, denen ich begegnet bin, die nicht aufgeben, für die Rechte der Marginalisierten, den Schutz der natürlichen Ressourcen oder gegen Korruption und Ausbeutung zu kämpfen – auch wenn der Kampf oft schier aussichtslos erscheint. Also, das Einstehen für die eigene Integrität.

Und die vielen Menschen, die ich in Beratungssituationen erlebt habe und die bereit sind, sich ihren eigenen Dämonen zu stellen, sich leidenschaftlich, wütend, unwissend, verletzlich oder verwundet zu zeigen, um daraus zu lernen und zu wachsen.

Wie sieht dein Traum von einer besseren Welt aus? 

Eine Welt ohne Krieg, Hass, Armut und Hunger, in der die Menschen mit allen Wesen und dieser Welt respektvoll und achtsam umgehen.

Was bedeutet Erfolg für dich? 

Etwas so gut gemacht zu machen, wie ich konnte.

Aus welchem Fehler hast du am meisten gelernt?

Besser auf meine eigenen Grenzen acht zu geben.

Siehst du dich als Vorbild? 

Als Mutter ist es wohl der einzige Weg, meinen Kindern etwas mit auf ihren Lebensweg zu geben.

Hast du einen Grundsatz nach dem du lebst?

Viktor Frankl: „Zwischen Reiz und Reaktion liegt der Raum der inneren Freiheit. Die Größe dieses Raumes wird durch unsere eigene Haltung bestimmt.“ Was für eine Befreiung und auch was für eine Herausforderung!

Was bedeutet Feminismus für dich? 

Sowohl Chancengleichheit als auch Solidarität. Und ganz viel innere Freiheit, die es gilt sich zu nehmen.

Wie lebst du Feminismus in deinem Team vor?

Ich glaube nicht, dass ich es irgendwem vorleben muss, sondern eher leben. Auf Ungerechtigkeiten hinweisen, Frauen bestärken, sich Gehör zu verschaffen und mitzugestalten. Mir selbst Freiheiten nehmen.

Wie versuchst du, die Sichtbarkeit von Minderheiten in deinem Team zu verbessern?

In unserem eigenen Team geht es vor allem darum, dass wir diverser werden wollen. Ansonsten: Verlangsamung ermöglichen, Raum und Gehör für die leisen Stimmen. Zumindest ist das mein Anspruch.

Welche familienfreundlichen Maßnahmen konntest du/würdest du gern in deinem Team umsetzen?

Für mich als alleinerziehende Mutter mit 2 Kindern war es nicht immer einfach, von meinen Kolleg:innen die Selbstverständlichkeit anzunehmen, mit der sie akzeptierten, dass ich nicht immer in gleicher Weise agieren und reagieren kann, wie Andere. Für mich selbst bedeutet es, ebenso einzuspringen, zu ermöglichen und zu unterstützen, wo es um wesentliche Bedürfnisse und Herausforderungen der Kolleg:innen in ihrer Rolle als Teil einer Familie geht: Da sein, sich kümmern, pflegen, feiern, sich verabschieden, trauern.

Was möchtest Du jüngeren Frauen* und Berufsanfängerinnen mit auf den Weg geben?

Der eigenen Neugier, Begeisterung und den eigenen Werten zu folgen und weniger danach zu fragen, wo das genau hinführt oder was das genaue Ziel ist. Mutig mit Nichtwissen umzugehen, das eigene Licht trotz allem nicht unter den Scheffel zu stellen und sich wohlwollende Mentor:innen und beherzte Mitstreiter:innen zu suchen.

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SOCIUS brief April 2022

SOCIUS brief Juni 2021

Liebe Leser:innen,

der Wonnemonat Mai hat uns nicht nur die ersten wirklich schönen Frühlingstage, sondern auch ein erstes Wiedererleben des gemeinsamen Organismus des SOCIUS Teams beschert.

Wir kommen aus der extremen Erfahrung des „rasenden Stillstands“ – am Morgen ein Training in Jakarta, anschließend eine Teamsupervision in Berlin Mitte gefolgt von einem Workshop im westfälischen Lünen, alles vom heimischen Schreibtisch aus. Mit einer Vielzahl von Kontaktpunkten mit vielen unterschiedlichen Menschen an unterschiedlichen Orten. Und doch sind es gefilterte und abgefederte Formen des Kontakts.

Das Erleben von Singularisierung und Energielosigkeit führt der Soziologe Hartmut Rosa auf das Fehlen von Interaktionsdichte zurück: Die kleinen zufälligen Begegnungen und Gespräche, die überraschenden oder auch irritierenden sozialen Interaktionen des Alltags, die uns ein Gefühl der Lebendigkeit verleihen und Energie generieren, sich auf weitere soziale Kontakte einzulassen (in: Die taz, 21.4.2021).

Um uns wieder auf das Abenteuer Kontakt und Begegnung mit den Kolleg:innen einzulassen, bietet sich zum Einstieg der uralte Kreis an. Die älteste Form, in Gemeinschaft zusammenzukommen, gemeinsam um das Feuer zu sitzen, sich als Gleiche zu begegnen, jedem in die Augen schauen zu können. Der Energieschub dieser sozialen Interaktion ist unmittelbar. Es zuckt und knistert und ruft das Staunen auf den Plan, wie Gemeinschaft sich anfühlt – nach dieser langen Zeit der Entkörperung.  Und es ist eine Erinnerung an das, was so lange gefehlt hat.

Die grundlegendsten Prinzipien von Kreisgesprächen sind aufmerksames Zuhören, intentionales Sprechen und das Beitragen zum Wohle Aller. Eine Vielzahl sozialer Techniken von der der gewaltfreien Kommunikation zur Soziokratie bauen auf dem Kreisprinzip auf. Auch unser Genossenschaftsmodell folgt in der Grundhaltung und Entscheidungsprozessen dem Kreisprinzip. Wir freuen uns, dass wir Julia Hoffmann nun als Mitglied der eG und Simon Mohn im Vorstand unserer Genossenschaft begrüßen dürfen.

Man sagt, der Kreis schafft den sicheren Rahmen, damit auch Unsicheres zutage treten kann. Es geht also um das tiefe Vertrauen, gehalten zu werden.

In unserem Labor am 17.6. geht es auch um unsere Fähigkeit zu vertrauen und darum, wie unsere allerersten Bindungserfahrungen unsere Muster prägen, anderen Menschen zu begegnen und am Arbeitsplatz und anderswo Beziehungen zu gestalten. Unsicher-ängstliche Haltung trifft auf vermeintliche Autonomie trifft auf sichere Bindung. Gemeinsam werden wir erkunden, welche Herausforderungen, aber auch welche Chancen in der Unterschiedlichkeit der Bindungsstile liegen.

Gefühlt hat der Frühling zwar gerade erst begonnen. Die Sommerpause liegt nun aber nur noch eine knappe Armlänge vor uns. Wir wünschen euch und uns allen einen lebendigen Sommer bis zum nächsten SOCIUS brief im August!

Joana Ebbinghaus (diesmal Red.), Christian Baier, Kerstin Engelhardt, Julia Hoffmann, Rudi Piwko, Nicola Kriesel, Simon Mohn, Denise Nörenberg und Ralph Piotrowski

 

Hier gehts zum ganzen SOCIUS brief

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Das Wesen der Zeit in der VUCA Welt

Das Wesen der Zeit in der VUCA Welt

Das Monatshoroskop für September konstatiert, dass der September für viele Menschen ein Wendepunkt darstellt und von daher einhergeht mit Gefühlen von Unsicherheit, Nervosität bis hin zu Demotivation. Statt mit dem Kopf durch die Wand oder mit großem Kraftaufwand sich vorarbeiten zu wollen, rät das Horoskop, sich darauf zu konzentrieren, das Unmittelbare in Ordnung zu bringen, unsere Beziehungen zu pflegen und uns eher auf das zu konzentrieren, was uns Spaß macht und Entspannung bringt. Diese akzeptierende Zurückhaltung wird uns in unserer VUCA Welt (VUCA steht für volatility, uncertainty, complexity und ambuity) immer fremder. Das Rad dreht sich einfach zu schnell und wir versuchen zumeist, so gut es geht, Schritt zu halten.

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SOCIUS als Projektpartner bei STAR E – Standing together against Racism in Europe

SOCIUS als Projektpartner bei STAR E – Standing together against Racism in Europe

Seit 2017 ist SOCIUS Organisationsberatung einer der Projektpartner bei STAR E – Standing together against Racism in Europe. STAR E ist ein durch die Leitaktion 2 des EU Programms Erasmus+ gefördertes europäisches Partnerschaftsprojekt zur „Entwicklung von Innovation“.

STAR E wurde durch ICJA Freiwilligenaustausch weltweit im Auftrag eines Konsortiums von insgesamt 8 Partnerorganisationen aus 8 EU-Ländern initiiert. Die Umsetzung erfolgt von August 2017 bis Juli 2020.

Die glaubwürdige, ganzheitliche Bekämpfung von Rassismus auf allen Ebenen der Arbeit im Partnerverbund ist zentrales Leitmotiv dieses Projekts. Das gewaltfreie Engagement für Gerechtigkeit und Frieden in einer gemeinsamen Welt ist Kernanliegen. Alle Partner sind angetreten, um rassismuskritische Einstellung in Europa zu unterstützen.
Das Projekt soll durch mehrere europäische Workshops die Möglichkeit bieten, gemeinsam darauf zu schauen, wie sich rassistische Diskriminierung in Programmen und Strukturen zeigt und was getan werden kann, um Rassismus in unseren Haltungen und Handlungen zu erkennen und anzugehen. Beabsichtigte Ergebnisse dieses Prozesses sind zum einen Methoden und Konzepte für die rassismuskritische und –sensible Jugendarbeit, die gemeinsam erarbeitet und in der jeweiligen Arbeitspraxis erprobt werden sollen. Zum anderen soll die rassismuskritische Organisationsentwicklung der teilnehmenden Jugend- und Freiwilligendienstorganisationen ermöglicht und angeregt werden.

Für jeden dieser beiden Schwerpunkte entsteht im Lauf der 3 Jahre eine Publikation mit Methoden, Tools und Materialien, die gegen Ende der Projektlaufzeit anderen Organisationen und Netzwerken in den teilnehmenden Ländern sowie auf europäischer Ebene zur Verfügung gestellt werden.

Folgende europäische Partner sind beteiligt:

  • Dansk ICYE, Dänemark
  • SOCIUS, Deutschland
  • Maailmanvaihto, Finnland
  • Jeunesse et Reconstruction, Frankreich
  • AUS, Island
  • UNITED for Intercultural Action, European Network against nationalism, racism, fascism and in support of migrants and refugees / FSV, Ungarn
  • ICYE UK, Vereinigtes Königreich
  • KERIC, Slowakische Republik

Für SOCIUS sind Nicola Kriesel, Joana Ebbinghaus und Christian Baier für das Projekt verantwortlich. SOCIUS tritt mit der spezifischen Aufgabe an, Wissen und Expertise um die Themenfelder Veränderungsprozesse, Organisationsentwicklung und Inklusion in das Projekt zu bringen. Ziel ist an der Stelle eine höhere Sensibilität zu dem Thema bei allen Projektpartnern und Handlungskompetenzen sichtbar zu machen, wie daraus resultierende Fragen oder Prozesse besprechbar und gestaltbar gemacht werden können.

Vom 11.-13. April 2108 findet das nächste Treffen in Helsinki statt, weitere Treffen sind für 2019 und 2020 geplant. Wir freuen uns auf die gemeinsame Entwicklung von Ideen zur Unterstützung von Veränderungsprozessen in Freiwilligenorganisationen.

Über aktuelle Entwicklungen im Projekt können Sie sich direkt auf der STAR E Website informieren.

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