Ungleich vereint – Warum der Osten anders bleibt

Ungleich vereint – Warum der Osten anders bleibt

Was Steffen Mau über Zusammenarbeit in einer gespaltenen Gesellschaft lehrt

Zur Vorbereitung auf den oe-tag 2025 am 13. Juni 2025 in Halle (Saale), an dem wir uns auf dialogische Spurensuche zur deutsch-deutschen Geschichte in Organisationen begeben wollen, weil wir finden es ist “Noch längst nicht alles gesagt!” habe ich gelesen. Unter anderem über “Drei ostdeutsche Frauen, die sich betrinken und einen idealen Staat gründen” und auch Steffen Maus “Ungleich vereint – Warum der Osten anders bleibt”.
Einer der wahrscheinlich am häufigsten zitierten Sätze aus Maus Buch ist “Wer in der Ost-West-Debatte mit Schuldbegriffen operiert, ist schon auf dem Holzweg.“ Und genau deswegen ist uns der Dialog am oe-tag 2025 so wichtig, weil wir überzeugt sind, dass Schuld nicht nur in der “Ost-West-Debatte” auf den Holzweg führt, sondern eigentlich immer. 

In unserer zunehmend diversen und komplexen Gesellschaft stellt sich uns als Prozessbegleiter:innen in der Organisationsentwicklung immer wieder die eine zentrale Frage: Wie gelingt Zusammenarbeit – in der Gesellschaft, aber auch ganz konkret in Organisationen? 

Steffen Mau liefert dazu eindrucksvolle Ansätze: Er zeigt, wie tief soziale Differenzierung in unsere Lebenswelten eingreift – und wie sich diese Unterschiede unmittelbar auf unser Miteinander auswirken. Besonders relevant dabei: die tief verwurzelte Ost-West-Differenz in Deutschland, die nicht nur gesamtgesellschaftlich, sondern auch in der Arbeitswelt unterschätzt wird.

Mehr als oben und unten: Gesellschaftliche Differenzierung neu gedacht

Mau geht über klassische Ungleichheitsnarrative hinaus. Ihn interessiert nicht allein der Gegensatz zwischen Arm und Reich oder Macht und Ohnmacht – sondern die vielen, oft subtilen Bruchlinien, die unsere Gesellschaft durchziehen: Bildung, Wohnort, Lebensstil, Mobilitätschancen, aber eben auch historische Prägungen wie die DDR-Sozialisation im Osten Deutschlands gehören dazu.

Diese Differenzlinien erzeugen keine glatten, einfachen Trennungen, sondern komplexe soziale Landkarten. In Organisationen bedeutet das: Unterschiedliche Erfahrungshorizonte, Werthaltungen und Erwartungshaltungen treffen aufeinander –  nur manchmal sichtbar, und immer latent wirksam.

Ost trifft West: Eine unterschätzte Konfliktlinie in Organisationen

Besonders eindrücklich behandelt Mau die dauerhafte Prägekraft der DDR-Erfahrung – und deren Nachwirkungen bis heute. Über drei Jahrzehnte nach der “Wiedervereinigung” bestehen kulturelle und soziale Unterschiede fort, die in Organisationen hochrelevant sind.

Die westliche Sozialisierung und Prägung wurde 1990 zur Norm erhoben und führte so dazu, dass viele ostdeutsch sozialisierte Menschen plötzlich “anders” sind, so Mau: Sie sind in einem System aufgewachsen, das “andere” Normen, eine “andere” Arbeitskultur, ein “anderes” Verhältnis zu Autorität und Hierarchie vermittelt hat. Nach 1990 wurden diese Prägungen entwertet oder unsichtbar gemacht – sowohl im gesellschaftlichen Diskurs als auch in betrieblichen Strukturen.

In Organisationen führt das bis heute zu Missverständnissen, unausgesprochenen Spannungen oder unterschwelligen Statuskonflikten. Ostdeutsche Mitarbeitende berichten nicht selten davon, sich „übersehen“, „nicht ernst genommen“ oder „kulturell fremd“ zu fühlen – selbst dann, wenn sie längst “vollständig integriert” erscheinen, oder nach 1990 geboren wurden. Die soziale Gleichheit, die im DDR-System propagiert wurde, trifft hier auch heute noch auf westlich geprägte Leistungsideale, Selbstvermarktungsdruck und hierarchische Systeme der Anerkennung.

Steffen Mau spricht in diesem Zusammenhang von einer „Asymmetrie der Sichtbarkeit“: Ostdeutsche Erfahrungen sind in Führungspositionen und Leitbildern deutscher Organisationen unterrepräsentiert. Diese Form der strukturellen Nichtbeachtung wirkt sich direkt auf die Zusammenarbeit in Teams aus – denn wie gut man miteinander kooperiert, hängt auch davon ab, ob unterschiedliche Perspektiven überhaupt einen Platz bekommen.

Zusammenarbeit unter Bedingungen sozialer Differenz

Was bedeutet das nun für die Teamarbeit? Erstens: Diversität hat eine weitere Dimension: innerdeutsche Unterschiede – wie Ost- und West-Sozialisierungen – sind bedeutsam. Wer in einem Team führen oder arbeiten will, muss sich dieser Unterschiede bewusst sein. Es braucht Sensibilität für unterschiedliche Kommunikationsstile, Autoritätsverständnisse, Rollenbilder und biografische Erfahrungen.

Zweitens: Organisationen müssen immer noch lernen, Differenz nicht als Störung, sondern als Ressource zu verstehen. Auch Mau argumentiert hier, dass soziale Kohäsion nicht durch Uniformität entsteht, sondern durch das Anerkennen und Gestalten von Unterschieden. Gerade Ost-West-Erfahrungen bergen enormes Potenzial – etwa in Form von Resilienz, Improvisationstalent oder Teamorientierung auf der einen, und Innovations- und Wettbewerbsorientierung auf der anderen Seite.

Drittens: Es braucht aktive Anerkennung. Viele ostdeutsche Beschäftigte tragen das Gefühl mit sich, ihre Lebensleistung werde weniger geschätzt. In Teams und Organisationen kann das zu Rückzug, stillem Protest oder auch Misstrauen führen. Eine offene Gesprächskultur, in der biografische Prägungen thematisiert werden dürfen, ist daher essenziell für funktionierende Zusammenarbeit.

Status, Anerkennung und die unterschätzte Macht symbolischer Unterschiede

Mau betont außerdem: In modernen Organisationen geht es nicht nur um materielle Gerechtigkeit – sondern um Anerkennung. Wer wird gesehen? Wessen Perspektive zählt? Wer definiert die „normale“ Art zu arbeiten, zu kommunizieren, zu führen?

Gerade Ostdeutsche erleben oft eine doppelte Unsichtbarkeit: Einerseits wegen ihrer regionalen Herkunft, andererseits, weil sie in westlich geprägten Organisationen mit Codes, Netzwerken und Selbstverständnissen konfrontiert sind, die andere Prägungen haben als die, in den sie aufgewachsen sind oder in denen sie sich permanent anpassen müssen. Dies führt nicht selten zu stillen Loyalitätskonflikten oder Distanzierungsmechanismen – auch innerhalb von Teams.

Die Zukunft: Polarisierung, Diversität und eine neue Anerkennungskultur

Maus Buch verweist auf tiefere gesellschaftliche Trends, die Organisationen in Zukunft noch stärker herausfordern werden. Neben der digitalen Transformation und globaler Migration ist es für uns in Deutschland vor allem die Persistenz innerdeutscher Differenzlinien, die ernst genommen werden muss. Nur wer sich als Organisation fragt, wer fehlt, wer schweigt und wessen Perspektive strukturell unterrepräsentiert ist, wird eine inklusive und zukunftsfähige Arbeitskultur entwickeln.

Es braucht ein echtes Verständnis für die soziale Tiefenstruktur von Zusammenarbeit – und die Bereitschaft, auch unbequeme historische Unterschiede nicht nur zu benennen, sondern in positive Entwicklung zu überführen.

Fazit: Einheit in Vielfalt braucht Anerkennung

Ungleich vereint – warum der Osten anders bleibt ist ein wichtiges Buch für alle, die auch 35 Jahre nach der “Wiedervereinigung” finden, dass die innerdeutsche Ost-West-Thematik kein Anachronismus ist, sondern eine reale Kraft in der sozialen Architektur vieler Organisationen. Steffen Mau zeigt, dass Differenz kein Hindernis, sondern ein Gestaltungsspielraum ist.

Wer die Zusammenarbeit der Zukunft gestalten will, muss über klassische Diversitätskategorien hinausdenken. Es geht um biografische Gerechtigkeit, symbolische Anerkennung und die Bereitschaft, neue Formen der Einheit zuzulassen – eine Einheit, die nicht auf Gleichheit basiert, sondern auf respektvoller Differenz.

  • Suhrkamp Verlag
  • Erscheinungstermin ‏ : ‎ 17. Juni 2024
  • Seitenzahl der Print-Ausgabe ‏ : ‎ 168 Seiten
  • ISBN: ‎ 978-3518029893
  • 18,00 €uro

Autorin Nicola Kriesel

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Better work together

Better work together

How the Power of Community can Transform your Business

Enspiral Foundation

„Whatever the problem, community is the answer!“ Margaret Wheatley (Motto des Enspiral Gatherings Mai 2025 in Stolzenhagen)

Gemeinschaft ist ein Weg, Verbundenheit und Fokus zu vereinen: Zusammen den Ideen- und Handlungsraum zu weiten und zugleich die Komplexität der Welt durch eine Membran und einen gemeinsamen Sinn zu zähmen. SOCIUS ist so eine Community, die mich – auch über den engen Kolleg:innenkreis hinaus – bereichert und hält. Die Gemeinschaft auf dem Gut Stolzenhagen, wo einige unserer Retreats und Fortbildungen stattfinden, ist ein weiterer bedeutungsvoller Rahmen kollektiver Einbindung. Ein für mich relativ neues Bezugsfeld zwischen ideeller Professionalität und persönlicher Entwicklung ist die Enspiral Community.

Enspiral ist eine Gemeinschaft von Menschen, die sich gegenseitig darin unterstützen, sinn- und wirkungsvoll zu arbeiten. 2010 in Neuseeland gegründet, hat die Community mittlerweile über 300 Mitglieder, v.a. im Pazifischen Raum und in Europa. Aus verschiedenen Blickwinkeln – Tech, Entrepreneurship, Aktivismus oder Facilitation – ist der gemeinsame Nenner die Leidenschaft für zukunftsweisende gesellschaftliche Praxis und die Bereitschaft, sich selbst darin zu verorten und mitzuentwickeln. 

Dass sich in so einer Gemeinschaft viel Erfahrung und Wissen für nachhaltige OE findet, liegt auf der Hand. Enspiral hat diesen Schatz auf verschiedenen Wegen zugänglich gemacht – nicht zuletzt mit dem Kompendium „Better work together“.

Das Buch enthält 11 Essays sowie zahlreiche Ressourcen und Reflexionen zum Aufbau Intentionaler Communities, zur Praxis kollektiver Organisation und zu Formen kooperativen Wirtschaftens. Es ist keine geschlossene Konzeptdecke, sondern ein persönlich gerahmtes Mosaik aus Entwicklungsgeschichten und erfahrungsbasiertem Praxiswissen: How to Grow Distributed Leadership, Secrets of the Open Startup, Steps to Unfolding Purpose… die Titel und Unterüberschriften laden ein, inspiriert zu stöbern oder passgenau nach Wegweisern für spezifisches Terrain kollektiven Wirkens zu suchen. Das Buch ist eine gute Ergänzung zur akademisch-reflexiven Fachliteratur: die Enspiral People haben all dies erlebt und teils schmerzlich, teils freudvoll im Gehen entwickelt.

Das Buch ist online unter https://betterworktogether.co zu bestellen.

Fünf Print Exemplare geben wir gerne an Interessierte, die sich schnell bei uns melden, in der SOCIUS brief Community weiter. Schreibt uns einfach eine kurze Nachricht!

Autor Andi Knoth

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Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat

Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat

Dieses Buch ist kein Roman, kein klassisches Sachbuch und keine polemische Streitschrift – es ist ein trialogisches Manifest, ein kollektiver Denk- und Erinnerungsraum. Die drei Autorinnen Peggy Mädler, Annett Gröschner und Wenke Seemann führen sieben Nächte lang Gespräche, die sie dann in ein Buch verwandeln. 

Zu dritt denken, sprechen und schreiben ist: Bereicherung, Spaß, Herausforderung, Entlastung, Vorantreiben, Reibung, Überraschung. Zu dritt in nur fünf Monaten dieses Buch zu denken und zu schreiben, war eine verrückte, anstrengende und großartige Angelegenheit.”

Sie sprechen über: “Das Klischee der Ostfrauen, das wir selber sind” (Nacht 1), “Eigentum oder warum die klassenlose Gesellschaft für die Mehrheit der Deutschen das Schlimmste ist” (Nacht 2), “Frauen in die Offensiven – wer sich nicht wehrt, kommt an die Kochinsel” (Nacht 3), “Der Appellplatz in uns – von solidarischen Idealen und traumschifflosen Wirklichkeiten” (Nacht 4), “Gummitwist oder der Körper als Schlachtfeld” (Nacht 5), “Die Schwerkraft der Verhältnisse oder was passiert hier gerade?” (Nacht 6) und zu guter letzt über “Geister der Zukunft oder ein “vom Utopismus entferntes Denken“” in Nacht 7. 

Worum geht’s?

  • Die DDR und ihre Ambivalenzen – zwischen emanzipatorischer Prägung und politischer Repression
  • Die Nachwendezeit – als Erfahrung von Entwertung, Umbrüchen und biografischer Desorientierung
  • Das Frausein im Osten – mit einem anderen Selbstverständnis von Arbeit, Care, Beruf und Körper
  • Ostdeutsche Kulturtechniken – wie Improvisieren, Teilen, Aushalten, Kümmern
  • Sprachkritik und Machtverhältnisse – insbesondere in Bezug auf westdeutsche Dominanz im Kulturbetrieb
  • Utopien – wie ein Staat aussehen könnte, der aus ostdeutscher weiblicher Perspektive heraus gedacht ist: gleichwürdig, solidarisch, pragmatisch, humorvoll, kritisch

“Immer radikal, niemals konsequent” wollen sie sein, weil Radikalität zusammen mit Konsequenz zum Dogmatismus führt, und der, so sind sie sich einig, hat selten zu Gutem geführt. 

Allzu gerne hätte ich als stille und unsichtbare Zuhörerin mit den Dreien am Tisch gesessen und ihnen gelauscht, wie sie sich in Echtzeit in kollektives Nachdenken begeben – zart, unbequem, witzig und traurig zugleich – hinein in ein performatives Gesprächsexperiment auf eine Reise durch ihre Erinnerungen, politischen Erfahrungen und utopischen Gedanken.

Der Stil ist gesprächsnah, literarisch, klug und witzig. Es ist ein Text voller Erfahrungswissen, aber nicht belehrend – sondern einladend, auch mal verwirrend, fragmentarisch. Der Sound: empfindsam ohne Opferhaltung, kämpferisch ohne Pathos, subversiv statt nostalgisch.

Auf die Frage Wovon erzählt Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat?” geben die drei Autorinnen unterschiedliche Antworten:

Peggy Mädler: “Ich sag nur: 7 Nächte, 7 Alkoholsorten, 7 Themen, über die es sich zu reden lohnt – und ein bisschen Idealismus angesichts der Schwerkraft der Verhältnisse ist auch dabei.”

Wenke Seemann: “Von Gummitwist vorm Kinderferienlager des Transformatorenwerks, utopischen Splittern an Badeseen, von Geistern in Fabrikantenvillen und Siedlungshäusern und Kindheitsmustern in ORWO-Color.”

Annett Görschner: “Aber immer radikal, niemals konsequent: Eine Nacht war ein Tag, und ein alkoholisches Getränk wurde durch einen Eisbecher ersetzt. Und was ein idealer Staat sein soll, das wissen wir immer noch nicht, dafür aber, was an achtlos Wegggeworfenem sich lohnt, aus der Vergangenheit in die Gegenwart und Zukunft mitgenommen zu werden.”

 

Was ich mitnehme (mit meiner westdeutsch Sozialisation)

  • Die Ost-Erfahrung ist nicht nur Schmerz, sondern vor allem auch Kompetenz.
  • Eine „gute Organisation“ ist weniger das, was Beratungsfirmen so hinlänglich beschreiben – sondern das, was Menschen gemeinsam tragfähig machen.
  • Sichtbarkeit ostdeutscher Frauen – als politische Akteurinnen, Denkerinnen, Gestalterinnen.
  • Wie sehr Erfahrungen von Systembrüchen, Unsichtbarmachung und Überanpassung in Körpern, Karrieren und Sprache weiterwirken.
  • Wie viel kulturelle und soziale Intelligenz im vermeintlich „Randständigen“ steckt – eine Perspektive, die auch für Organisationen und Teams extrem wertvoll ist.
  • Die Bestärkung, dass Utopien nicht aus Managementtheorien, sondern aus biografischem Wissen geschöpft werden.
  • Und immer wieder die Frage: Wie kann man einen Ort schaffen, an dem es sich anders leben lässt – ohne zu vergessen, woher man kommt?
Erscheinungsdatum: 18.03.2024
320 Seiten
Hanser Verlag
ISBN 978-3-446-27984-1
22,00 €

Autorin Nicola Kriesel

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The Ministry for the Future

The Ministry for the Future

Eine Climate Fiction Reportage über Wege aus dem Klimakollaps von Kim Stanley Robinson (2020)

Die Beschäftigung mit „Futures“ scheint eines der Next Big Things im Feld Sozialer Entwicklung zu sein. Ich schätze, das kommt nicht daher, dass sich plötzlich sehr viel neuer Spielraum vor uns öffnet, sondern entspringt der Erkenntnis, dass ein rein adaptives „Kommen lassen“ fatal enden wird. Gerade in schicksalshaften Zeiten kommt es auf das Imaginieren und Gestalten wünschbarer Zukünfte an.

The Ministry for the Future ist schon ein paar Tage alt, hat aber nichts an imaginativer Ideen-Wucht verloren. Der SciFi Meister Kim Stanley Robinsons nutzt darin die gleiche U-Journey, die Frederic Laloux‘ Climate Action Programm „The Week“ nimmt: 1. Teil: We are Fucked. 2. Teil: Es gibt Alternativen! 3. Teil: Was hat das mit mir zu tun? 

Die Rahmenstory des Buches ist schnell erzählt: Im Zuge der internationalen Zielverfehlungen zum Pariser Agreement und eskalierenden Auswirkungen des Klimawandels der wird von der COP in den 2030er Jahren eine UN Agentur gegründet, deren Aufgabe nichts Geringeres als die Abwendung des Klimakollaps ist – das „Ministerium für die Zukunft“. Die Geschichte folgt dem Ministry Team durch diese Sisyphusaufgabe und beschreibt das mühsame Anschieben, das persönliche Hadern, das Scheitern und Neudenken und letztendlich die langsam aufscheinende Früchte ihrer Arbeit.

Die 106 kurzen Kapitel des Buches ranken sich dabei je um einen spezifischen Interventionsansatz, der als Erzählung, Augenzeug:innenbericht oder Meetingprotokoll, mitunter auch als nüchterner Fachartikel oder als poetische Allegorie erfahrbar wird. Vor meinem Facilitator-Leser Auge sortiert sich dieses wilde Kompendium der Ideen in drei Cluster – hier also eine kleine Taxonomie der vorgestellten Strategien: 

  • Staatliche und transnationale Regulierung: Progressive Steuerregimes, nachhaltig ausgerichtete volkswirtschaftliche Bewertungssysteme (schonmal vom Discount Faktor gehört?) oder der fiskale Ansatz der Quantitativen Lockerung anhand einer international  emittierten „Carbon Coin“. 
  • Geoengineering: Maßnahmen wie das Austragen von Schwefelpartikeln in die Atmosphäre zur Begrenzung der Sonneneinstrahlung, die physische Abgrenzung bedrohter Ökosysteme oder das Abpumpen von Schmelzwasser unter Gletschern, um deren Abrutschen in die Ozeane zu verlangsamen. 
  • Soziale Bewegung: Die Ausbreitung und Vernetzung regenerativer Modelle und nachhaltiger Konsummuster (z.B. 2000 Watt Society), die Formierung einer spirituellen Bewegung mit ökoreligiösen Zügen bis hin zu Formen des Ökoterrorismus, der durch Anschläge und  Sabotageakte auf Verhaltensänderungen und brandbeschleunigten Wandel im System abzielt.

Die Erkenntnis, dass systemische Veränderung sich aus einem Zusammenspiel aller drei Ebenen speist, liegt auf der Hand. Die ethische Frage, welche Mittel und Nebenwirkungen zur Rettung der Menschheit und der uns umgebenden Ökosysteme recht sind, bleibt dabei in ebendieser Hand als Stachel hängen. Es gibt keine einfachen Antworten. Klar ist nur: Es braucht nicht nur neue Wege, sondern auch neue Maßstäbe.

Trotz seiner düsteren Hintergrundbeleuchtung ist das Buch für mich ein Upper – ich habe lange nicht mehr eine so spannende Fiktion und ein so hoffnungsvolles Zukunftsbild zu den Krisen unserer Zeit gefunden. Wenn wir uns durch radikale soziale Transformation und beherzte Global Governance von unserem selbstgestrickten Schicksal emanzipieren wollen, dann brauchen wir mehr von dieser Art der Imagination.

Erschienen auf deutsch am 13.09.2023
Originaltitel: Ministry for the Future erschienen am 6.10.2020
Übersetzung: Aus dem Amerikanischen von Paul Bär
ISBN: 978-3-453-32286-8

Autor Andi Knoth

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Kinder – Minderheit ohne Schutz

Kinder – Minderheit ohne Schutz

Ein Besuch im Haus der Kulturen der Welt zur Buchvorstellung mit Aladin El-Mafaalani.

Kinder und Jugendliche sind die einzige gesellschaftliche Gruppe, die systematisch von politischer Mitbestimmung ausgeschlossen ist. In ihrem Buch Kinder – Minderheit ohne Schutz zeigen Aladin El-Mafaalani, Sebastian Kurtenbach und Klaus-Peter Strohmeier eindrücklich, wie sich diese Tatsache auf die Lebensrealität junger Menschen auswirkt. An diesem Abend im Februar im HDKDW skizziert El-Mafaalani eine Zukunft, in der sich das Wohl der Kinder zunehmend verschlechtert, während ihre Stimmen weiterhin ungehört bleiben. Doch was bedeutet das konkret? Welche gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen verschärfen diese Situation? Und welche Lösungen könnten helfen?

Politische Normalisierung und die Folgen für junge Menschen

Die letzten Jahre waren für Kinder und Jugendliche besonders prägend: Die 2007 Geborenen dürfen dieses Jahr das erste Mal wählen. Als sie in der Grundschule waren, kamen über eine Million Schutzsuchende nach Deutschland. Sie können sich nicht erinnern, dass es eine Zeit gab, in der es die AfD nicht gab. Als sie Teenies wurden, kam die Pandemie, und es ist hinlänglich bekannt, wie sehr alle Schutzmaßnahmen zu Lasten von Kindern und Jugendlichen gingen. Schon 2022 begann der Ukraine-Krieg, und neue Geflüchtete kamen in ihre Schulen und Klassen. Und natürlich beeinflusst auch die Klimakrise ihre Lebensrealität entscheidend. Die Zustimmung zur AfD unter jungen Menschen wächst, was darauf hindeutet – so El-Mafaalani -, dass sie eine politische Realität akzeptieren, die für ältere Generationen noch befremdlich wirkt. Der Diskurs wird zunehmend von rechten Strömungen geprägt, während Erwachsene, die dagegenhalten, für viele Jugendliche an Plausibilität verlieren.

El-Mafaalani betont, dass diese Entwicklung langfristige Auswirkungen hat. 

Wer heute zehn Jahre alt ist, wird 2033 wählen dürfen – mit der Gewissheit, dass eine Zusammenarbeit mit der AfD für viele Parteien längst normalisiert wurde. Das politische Bewusstsein dieser Generation wird von einer Welt geprägt, in der Krisen und Unsicherheiten zum Alltag gehören.

Kinder als unsichtbare Gruppe

Kinder und Jugendliche werden in politischen Entscheidungen jedoch kaum berücksichtigt. Während ältere Generationen ihre Interessen durchsetzen können, fehlt es Kindern an institutionellen Vertretungen. Historisch betrachtet waren Kinder vor allem dann sichtbar, wenn sie zahlenmäßig stark vertreten waren – etwa in der Babyboomer-Generation. Heute jedoch gibt es weniger Kinder als je zuvor (2024 sind in Deutschland doppelt so viele Menschen 60 Jahre als geworden als 6 Jahre alt), sie tragen gleichzeitig das höchste Armuts- und Diskriminierungsrisiko. Das führt zu einem gesellschaftlichen Ungleichgewicht: Während immer mehr Ressourcen in Rentensysteme fließen, bleibt die Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur auf der Strecke.

Als ein zentrales Problem identifiziert El-Mafaalani, dass Kinder zunehmend in Institutionen wie Kitas und Schulen untergebracht werden; diese werden jedoch primär für den Arbeitsmarkt optimiert – nicht für das Wohl der Kinder. Der geplante Ganztagsausbau ist ein Beispiel: Er dient in erster Linie dazu, die Erwerbstätigkeit der Eltern zu erhöhen, sagt El-Mafaalani. Doch was bedeutet es für Kinder, wenn sie mehr Zeit in Institutionen als mit ihren Familien verbringen, während diese Einrichtungen nicht kindgerecht gestaltet sind?

Bildungsungleichheit und fehlende Teilhabe

Bildung ist eine der entscheidenden Stellschrauben, um Kinder zu stärken. Aktuelle Studien zeigen: Vielen Kindern fehlt in der Schule eine Bezugsperson, die sich für sie interessiert. Besonders betroffen sind ohnehin benachteiligte Kinder. Schulen, in denen Kinder angeben, dass sie sich wichtig fühlen, zeigen deutlich bessere Ergebnisse – ein Hinweis darauf, dass Partizipation und Wohlbefinden zentrale Faktoren für den Bildungserfolg sind. Wenn Kinder aber zukünftig noch mehr Zeit in Einrichtungen verbringen, die systematisch kaputt gespart wurden, mit überlasteten Lehrkräften und grundsätzlich zu wenigem pädagogischem Personal, dann muss davon ausgegangen werden, dass das individuelle Interesse an jedem einzelnen Kind noch weiter sinkt und ein möglicher Ausgleich in der Familie rein zeitlich nicht zu erwarten ist. 

Auch die Zusammenarbeit zwischen Lehrer:innen und Sozialpädagog:innen ist oft mangelhaft, da traditionelle Strukturen eine enge Kooperation verhindern. Es braucht einen Kulturwandel in der Pädagogik, um Schule zu einem gestaltbaren Lebensraum für Kinder zu machen.

Digitale und analoge Räume für Kinder

Kinder und Jugendliche haben kaum eigene Räume – weder in der analogen noch in der digitalen Welt. Die Nutzung öffentlicher Räume ist stark eingeschränkt, und digitale Plattformen sind oft kein sicherer Rückzugsort. Gewalt- und Pornografieinhalte werden immer früher konsumiert, meist unfreiwillig. Gleichzeitig fehlt es an analogen Alternativen, in denen Kinder sich sicher und selbstbestimmt bewegen können.

Hier sind neue Konzepte gefragt: Community Center, generationenübergreifende Projekte und eine stärkere Vernetzung von Bildungs- und Freizeiteinrichtungen könnten helfen, Kindern mehr Teilhabe zu ermöglichen. El-Mafaalani widmet diesen Ideen in seinem Buch ein ganzes Kapitel. Ein Ansatz könnte sein, Senior:innen stärker in die Arbeit mit Kindern einzubinden – als Mentor:innen, die Erfahrung und Zeit mitbringen und eine Brücke zwischen den Generationen schlagen können. Mit der Boomer-Generation könnten sich in den nächsten Jahren ausreichend viele fitte Senior:innen engagieren. 

Was jetzt passieren muss

El-Mafaalani nennt drei zentrale Stellschrauben, um die Situation von Kindern zu verbessern:

  1. Mehr Investitionen in Bildung – ein „Sondervermögen Bildung“, das bessere Bedingungen für pädagogisches Personal und die Infrastruktur schafft.
  2. Ein Kulturwandel in der Pädagogik – eine stärkere Kooperation zwischen Lehrkräften und Sozialpädagog:innen, um Schulen kindgerechter zu gestalten.
  3. Vernetztes Denken – intergenerationale Ansätze, die Senior:innen als Ressourcen für Bildungs- und Betreuungsaufgaben einbinden.

Die derzeitigen Entwicklungen zeigen: Wenn wir nicht handeln, wird sich die Situation für Kinder weiter verschlechtern. Es ist höchste Zeit, Kinder nicht nur als eine Minderheit ohne Schutz zu betrachten, sondern als eine zentrale Gruppe, die unsere Zukunft mitgestaltet.

Das Buch habe ich erst im Anschluss an die Veranstaltung gelesen. Es ist ein wissenschaftliches Sachbuch, das die gründliche Analyse der aktuellen Situation von Kindern und Jugendlichen in den Mittelpunkt stellt, während die daraus entstehenden politischen Forderungen den kleineren Teil der Lektüre einnehmen. Dennoch bleibt klar: Kinder brauchen eine Lobby! Und dazu werden Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt! 

Weitere Veranstaltungen: https://www.kiwi-verlag.de/buch/aladin-el-mafaalani-sebastian-kurtenbach-kinder-minderheit-ohne-schutz-9783462007527 

Autorin Nicola Kriesel

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Emergent Strategy von adrienne maree brown

Emergent Strategy von adrienne maree brown

Strategische Haltung für eine lebendige Zukunft im Ungewissen

“What time is it on the clock of the world?”  Grace Lee Boggs 

“Everything is falling apart, but also, new things are possible. […] We are in a time of new suns. We have no idea what could be, but everything that we have been is falling apart. So it’s time to change. And we can be mindful about that.”  adrienne maree brown 

Wie gelingt strategisches Herangehen in einer Zeit und einer Welt im Ungewissen? Wir leben in Zeiten gezeichnet durch gleichzeitige Krisen und Zusammenbrüche (Klimakrise, wachsende Ungleichheiten, zunehmende politische Polarisierung, Krisen der mentalen Gesundheit usw.). Welche Art und Weise von strategischer Haltung gibt es, die diese Welt anerkennt und uns hilft, für eine lebendige Zukunft zusammenzuwirken? 

Der Architekt und Systems-Designer Buckminster Fuller erklärte einmal  “You never change things by fighting the existing reality. To change something, build a new model that makes the existing model obsolete.” 

Auf eine Art macht die US-amerikanische Aktivistin und Autorin adrienne maree brown für mich das mit der Haltung und Praxis zu strategischem Herangehen, die sie in “Emergent Strategy. Shaping Change, Changing Worlds” beschreibt. Das Buch aus dem Jahr 2017 bildet den ersten Teil einer Serie, die eine inspirierende Herangehensweise an Veränderung- und Transformationsarbeit in Netzwerken, Gruppen, Movements und Ökosystemen beschreibt. adrienne maree brown ist in der Schwarzen Bewegung verankert und seit Jahren als Facilitatorin, Mediatorin, Autorin und Podcasterin unterwegs. Ihr herzlich-pragmatisch-neugieriger Blick darauf, was wir aus Natur und Ökosystemen über Strategie lernen können, liest sich leicht und ist auch als Hörbuch (die englischsprachige Version liest die Autorin selbst) eine Empfehlung. 

Die Wurzeln von emergent strategy sind u.a. das Movement for Black Lives, die Occupy Bewegung, adriennes eigene und die Erfahrungen ihrer Familie, Denker:innen wie Margret Wheatley, Grace Lee Boggs, Octavia Butler sowie wie all die Menschen und “woes” (people with whom we work on excellence), Freund:innen und Partner:innen, die sie in ihren Transformationen begleiten. 

Was ist “Emergent Strategy”? 

adrienne maree brown setzt die Wörter “emergent” und “Strategie” miteinander in Beziehung: 

Emergent leitet sie von Nick Obolensky ab: “Emergence is the way complex systems and patterns arise out of a multiplicity of relatively simple interactions.”  (Obolensky, 2014, Complex Adaptive Leadership: Embracing Paradox and Uncertainty. Burlington, VT.) 

An einem Beispiel beschreibt sie Emergent Strategy wie folgt: 

“So birds flapping their wings, birds in a flock together, is a relatively simple interaction; but birds all doing that together and avoiding predation can become the most complex, gorgeous patterns of murmurations, migration, survival. So we’re all emergent beings — humans are an emergent species amongst emergent species.

And the strategy part comes in — I think what we mean by strategic is: able to adapt to changing conditions, while still moving towards our vision of freedom and the future and being in that practice. So that’s what emergent strategy is. It’s like, how do we get in a right relationship with change that allows us to harness and shape things, towards community, towards liberation, towards justice?”
(adrienne maree brown, OnBeing, 2022) 

Emergent Strategy ist dabei eine Haltung und Praxis, die auf vielen Wegen ihren Ausdruck finden kann: 

  • Emergent Strategy begann als ein Ansatz adaptiver und relationaler Leadership,
  • der dann in persönlich Aktionen, Praktiken und kollaborative Organisationspraktiken wuchs, mit besonderem Fokus auf Beziehungen, die Adaption ermöglichen,  
  • und sich dann in Strategien wandelte, die Bewegungen für Social Justice ermöglichen, 
  • ebenso wie in eine Praxis, die Menschen einlädt in “right relationship” mit einander zu sein und bewusst Veränderungen zu verkörpern,   
  • bis hin zu einer Philosophie um mit der Welt und sich selbst in Liebe zu sein. 
  • Emergent Strategy ist vieles zuggleich: zugleich ein Ort für Strategien, Methoden und Tools, eine Community, eine Praxis, eine Haltung und eine Linse um auf die Welt zu blicken. 

Kernprinzipien und Elemente 

Im Buch beschreibt adrienne Kernprinzipien und Elemente von emergent strategy. Für mich ist das Besondere, dass das was sie beschreibt, sich natürlich und intuitiv anfühlt. Implizit praktiziere ich so. Das konkrete Benennen und Systematisieren hilft mir, in meiner Arbeit als Faciliatorin, solche Arten des strategischen Arbeitens zu gestalten.  

Dieses Video zeigt dir kurz die Kernprinzipien:

Praxisbeispiele aus der Anwendung 

Welche Rahmen unterstützen uns, in die Haltung emergenter Strategie zu schlüpfen? adrienne beschreibt diese Prinzipien für den Beginn eines Treffens. Die Prinzipien haben wir zuletzt bei der Initiative “Faciliate Belonging. Wie halten wir Räume der Zugehörigkeit?” angewendet:  

  • Höre von innen nach außen zu (dein Bauchgefühl ist wichtig!) 
  • Achte auf die anderen, achte auf dich (Community Care & Self-Care)
  • Gib Raum – Nimm Raum 
  • W.A.I.T. – Why am I talking? 
  • Sei offen zu lernen: über unbekannte Möglichkeiten und Wahrheiten, über die Welt, über dich 
  • Geh’ von der besten Intention aus und nimm die Wirkung ernst 
  • Nimm’ Unterschiede wahr und schau, ob du sie in deine Vorstellung von “Wir”  integrieren kannst 
  • Nimm’ mit, was heute und hier zu dir gehört, und lass den Rest liegen
  • Vertraulichkeit – Nimm Gelerntes mit, lass Details hier. 

Das Buch enthält eine weitere Reihe von Praxis-Werkzeugen für Faciliatator:innen.

Meine Key-Take Aways 

Ich habe ab den ersten Momenten des Hörens und Lesens das Gefühl gehabt, hier die Ausformulierung eines verwandten und inspirierenden Ansatzes und einer Haltung zu finden, die eine sehr menschlich-pragmatische Heransgehensweise an strategische Transformationsarbeit beschreibt in dieser Zeit. Für selbstorganisierte Teams, Netzwerke und Bewegungen scheint Emergent Strategy eine passende Haltung zu bieten, um ausgerichtet und zugleich adaptiv strategische Orientierung zu entwickeln und zu navigieren. 

Gerade dass Natur, Vorstellungskraft und Imagination, Realität und Erfahrungen von struktureller Diskrimierung, und Somatics/Embodiment eine so große Rolle in der Herleitung von emergenter Strategie gespielt haben, macht es für mich zu so einem relevanten Beitrag, auf Veränderungsarbeit in Netzwerken, Ökosystemen und Movements zu blicken und für eine lebendige Zukunft sinnvoll zusammenzuwirken. 

So klingt “emergent strategy” 

Neben vielen Zitaten, Geschichten, einem Toolbox-Teil und Inspirationen enthält das kurzweilige Buch auch eine Playlist. Hier ein kleiner Auszug dazu, wie emergent Strategy 2017 klang:  https://open.spotify.com/playlist/6GG5I0DaMdZTkTYZ6ZNyO4 

Neugierig? Hier erfährst du mehr

 

 

Autorin Julia Hoffmann

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Unverfügbarkeit von Hartmut Rosa

Unverfügbarkeit von Hartmut Rosa

„Erinnern Sie sich noch an den ersten Schneefall in einem Spätherbst oder Winter Ihrer Kindheit? Es war wie der Einbruch einer anderen Realität…“ – mit diesen Sätzen beginnt das Buch Unverfügbarkeit – und ich muss schnell mal den Buchdeckel umdrehen, ob es wirklich Hartmut Rosa ist, der da schreibt… (hat ihm jemand was über die Resonanzmechanik des Schreibens geflüstert?)

Der Schnee ist eine Illustration von Rosas Begriff der Unverfügbarkeit: wir können ihn nicht erzwingen, seiner nicht habhaft werden, er zerrinnt zwischen unseren Fingern. Und doch und um so mehr ist er Objekt unseres Begehrens – wir wollen ihn unbedingt verfügbar machen. In diesem Spalt zwischen Wunsch und Möglichkeit lokalisiert Rosa das Grunddilemma unserer Weltbeziehung:

„Indem wir Spätmodernen auf allen genannten Ebenen – individuell, kulturell, institutionell und strukturell – auf die Verfügbarmachung von Welt zielen, begegnet uns die Welt stets als ‚Aggressionspunkt‘ oder als Serie von Aggressionspunkten, das heißt von Objekten, die es zu wissen, zu erreichen, zu erobern, zu beherrschen oder zu nutzen gilt, und genau dadurch scheint sich uns das ‚Leben‘ , das, was die Erfahrung von Lebendigkeit und von Begegnung ausmacht – das, was Resonanz ermöglicht – , zu entziehen, was wiederum zu Angst, Frust, Wut, ja Verzweiflung führt…“.

Die Dinge verfügbar machen heißt, sie sichtbar, zugänglich, beherrschbar, im besten Falle nutzbar zu machen. Der Drang zur Verfügbarmachung ist programmatisch in unserer Kultur und unseren Institutionen festgeschrieben, nicht zuletzt im vorherrschenden Paradigma der dynamischen Stabilisierung (größer, schneller, neuer!). Wir sind mit Erich Fromms Worten aufs Haben, statt aufs Sein ausgerichtet.

Während diese Grundidee schnell erzählt ist, entsteht die Wucht des Buches vor allem durch die Akribik, mit der Rosa die Auswirkungen dieser tragischen Weltbeziehung von unserer Geburt bis zum Tod und durch alle Bereiche des organisierten Lebens in der spätkapitalistischen Gesellschaft nachzeichnet.  Dass es herausfordernd ist, hierzu eine kategorische Haltung einzunehmen, fällt dabei etwa in der Reflexion der Impfdebatte auf: ja, die Impflogik ist ein Stück des problematischen Verfügbarmachungsprogramms, zugleich ermöglicht das Abfedern existentieller Risiken überhaupt erst den Ausblick auf resonantes Leben. Die Antwort auf das Dilemma der Unverfügbarkeit besteht mithin nicht darin, das Streben nach Erkenntnis und Handhabe grundsätzlich über Bord zu werfen. Rosa ist Gesellschaftskritiker, kein Maschinenstürmer.  Und so offeriert er mit dem Resonanzbegriff auch die hoffnungsvolle Seite der Medaille.

Das Verfügbarkeitsverlangen hat seinen Gegenspieler in unserem Begehren nach Resonanz, einer Beziehungsqualität, die Rosa als transformativen Dialog beschreibt: Ich werde von etwas berührt („angerufen“), antworte darauf mit einer inneren Bewegung, die ich veräußere (ich werde „selbstwirksam“) und lasse mich diesem Prozess ein Stück verwandeln. Das mich Berührende kann eine Musik, eine Person oder eine Idee sein, die Resonanzerfahrung kann beim Beten oder Meditieren, auf einem Spaziergang, im Dialog oder ganz beiläufig im Alltag entstehen. Sie lässt sich allerdings – und hier schließt sich der Kreis – nicht herbeiführen oder kontrollieren und ist in diesem Sinne ebenfalls unverfügbar.

 

Hartmut Rosa hat diese Gedanken bereits in seinem vorausgegangenen Büchlein Resonanz auf 800 Seiten ausgeführt – mit keinem geringeren Anspruch, als die Visions-Lücke der kritischen Theorie zu schließen und zu beschreiben, was im positiven Gegenbild zur Entfremdung gelingendes Leben ausmacht (da hätte er natürlich auch die kritische Psychologie befragen können – die Antwort wäre aber etwas unromantischer und weniger spirituell ausgefallen).

Bei  Unverfügbarkeit sind wir im Wesentlichen wieder bei der düsteren Problembeschreibung: In dem Maße wie wir der Welt „auf den Leib rücken“, um sie verfügbar zu machen, zieht sie sich von uns zurück, verstummt und wird auf schmerzhafte Weise unnahbar. Im Grunde verlassen wir das Buch mit der Gewissheit: We‘re fucked! Und dennoch gibt es eine Ahnung, dass das so nicht sein muss, wenn wir es schaffen, die positive Gegendynamik der Resonanz zu kultivieren.

Da sitze ich nun also und frage mich: Wie können wir diese Gedanken für die OE nutzbar machen? Managementprogramme sind ja gewissermaßen Musterbeispiele für die Verfügbarmachung von Welt. Wenn wir den Management-Hut also mal zur Seite legen, was könnte ein auf Resonanz aufgebauter Modus der OE sein? Weg von KPIs und Wirkungsindikatoren, vielleicht weg von operationalisierten Zielen und hin zu Sinn als zentraler Kategorie von Entwicklung?

Das Wesen der Dinge in sozialen Systemen liegt unter der Oberfläche. Nur wenn wir uns darauf einlassen, spüren, wie es uns berührt und ihm antworten, bekommen wir die tieferen Schichten von Transformation zu greifen. Dies gilt auch und besonders für den Umgang mit Komplexität und Unsicherheit, auf die die Antwort nicht immer feingliedrigere Managementpraktiken sondern vor allem eine andere resonante Haltung sein könnte. Im Kosmos der evolutionären Praktiken hat sich hierfür der Ausdruck des sense and respond gefunden – und ich kann mich nicht gegen das aufsteigende Bild wehren, wie mir dieser Begriff wie wunderbar glitzernder Schnee durch die Finger rinnt.

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Unverfügbarkeit von Hartmut Rosa

Golden. The Power of Silence in a World of Noise.

Stille als Regenerative Praxis (Visual Notes)

Ein Buch und ein paar meiner Notizen als Einladung zum Eintauchen. Die Frage nach Stille als regenerative Praxis beschäftigt mich seit langem, denn das Leben in einer Großstadt, inmitten von Menschen, Autos, Flugzeugen, U-Bahnen und Baustellen empfinde ich als herausfordernd. Momente und Ausflüge in die Natur, oder Gespräche in denen es langsamer, ruhiger zugeht, empfinde ich als entspannend. Was genau steckt dahinter? Was ist die Rolle von Stille für uns als Individuen, Teams und Organisationen? Welche Formen nimmt Lärm an? Was hat all das mit gesellschaftlicher Veränderung zu tun?

Als mir dieses Buch in die Hände fiel, begann meine tiefere Beschäftigung mit dem Thema “Stille als regenerative Praxis”.  Das Buch spannt einen weiteren Bogen – beginnend mit dem Sprichwort “Reden ist silber, schweigen ist Gold”, bringt es Fakten, Praktiken, persönliche Einblicke und wissenschaftliche Erkenntnisse zusammen, die die Rolle von Stille in einem vkreativen und engagierten Leben beleuchten. Es geht nicht darum, sich zurückzuziehen und die Welt Welt sein zu lassen. Sondern darum zu erkunden, wie Stille Energiereservoir sein kann und Klarheit inmitten einer Welt Umbrüchen, Dringlichkeit und Unsicherheit ermöglicht.

Eine unbedingt Leseempfehlung für die, die das Thema und Anliegen ebenso spannend und notwendig finden.

Justin Zorn & Leigh Marz (2022): Golden. The Power of Silence in a World of Noise. Penguin.

 

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Unverfügbarkeit von Hartmut Rosa

Die Schönheit der Differenz von Hadija Haruna-Oelker

Die Schönheit der Differenz

Miteinander anders denken

von Hadija Haruna-Oelker (2022)

Schon vor vielen Jahren lernte ich bei Matthias zur Bonsens Lernforum in Oberursel Ines Boban kennen, eine Expertin in Sachen Inklusion. Damals wirkte sie  mit ihrem Mann Prof. Andreas Hinz in Halle. Im Mai letzten Jahres traf ich die beiden im Urlaub auf Brac, da wo wir auch unsere Workations verbringen. Uns verbindet das Interesse und die Leidenschaft für demokratische und inklusive Lernorte. Wenn wir zufällig gleichzeitig auf Brac sind, dann lassen wir es uns nicht nehmen, mindestens einen Kava zusammen zu trinken und uns über Projekte, Ideen und gute Bücher auszutauschen. 

So kam es, dass mir bei einem Ausflug auf die andere Seite der Insel Hadija Haruna-Oelkers Buch „Die Schönheit der Differenz – Miteinander anders denken“ empfohlen wurde. Andreas und Ines berichteten von der Lektüre, die für sie so lehrreich gewesen sei, dass ich mich schon freute, nach Hause zu fahren, um das Buch selbst zu lesen. 

Tatsächlich: als weiße Akademikerin, Feministin und Aktivistin in Sachen Gleichberechtigung und Selbstbestimmung war die Lektüre lehrreich, tiefgründig und umfassend für mich. Der intersektionale Blick hat mir Einblicke gewährt, die mich berührt haben. 

Einblicke in die Perspektiven der Intersektionalität

Hadija Haruna-Oelker ist Politikwissenschaftlerin, Journalistin und Moderatorin und schafft mit ihrem 560 Seiten starken Werk einen umfangreichen Einblick in die Perspektiven der Intersektionalität und Diskriminierung. Verwoben mit ihrer eigenen Biografie nimmt sie die Leser:innen mit in ein gesellschaftspolitisches Nachdenken. Sie erzählt Geschichten über Zusammenhänge, Empowerment, Solidarität, genauso wie über Ausgrenzung, Schmerz und Perspektivwechsel. Sie selbst sagt „Hab mein Herz hineingelegt und meine Gedanken der vergangenen Jahre in unserer Gesellschaft und meiner Geschichte darin aufgeschrieben“ (Twitter am 14.3.22) 

In neun Kapiteln fächert Haruna-Oelker auf, was es zu wissen gilt über die Verwobenheit der diversen Diskriminierungsformen und ihren gegenseitigen Verstärkungen. 

  • Sozialisation: Wie wir werden? 
  • Bewegung: Was beeinflusst uns?
  • Globalisierung: Wie leben wir?
  • Konstruktion: Was wird aus uns gemacht?
  • Emotion: Wie fühlen wir?
  • Klassifikation: Wie werden wir eingeteilt?
  • Gender, Sexualität und Körper: Wie betrachten wir uns?
  • Geist: Wie nehmen wir wahr?
  • Behinderung. Was blenden wir aus?

heißen die Kapitelüberschriften und Haruna-Oelker beginnt jedes einzelne mit einem Zitat. Ingeborg Bachmann, May Ayim, der Talmud, Michel de Montaigne u.v.a. werden zitiert und den Überschriftsfragen als Intro jeweils weitere hinzugefügt.

Im Kapitel Bewegung z.B. heißt es: 

 „Bewegung ist Körperarbeit. Sie entsteht durch das Zusammenziehen oder Anspannen der Muskeln. In den Sozialwissenschaften ist sie kollektiver Akteur. Politische Bewegung steht für das organisierte Eintreten für politische Ziele, weil Menschen ihre Daseinsbedingungen, ihre Wünsche und Bedürfnisse erfahrbar machen und durchsetzen wollen. Eine Kraft und Strömung um die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verändern. Gleiche Rechte für alle. Wo stehe ich?“

Aktivismus und Wissenschaft

Immer wieder bezieht Haruna-Oelker sich auf Wegbegleiter:innen, es ist spürbar, wie sie verbunden ist, mit einer Community, einem Diskurs und es wird  deutlich, wie sie ihre Stimme, ihre Erfahrungen und ihre Schreibkunst zur Verfügung stellen will. 

Ich finde, es gelingt ihr wirklich gut, ihre Leser:innen mitzunehmen: behutsam und gut verständlich geschrieben, erklärt sie Zusammenhänge zwischen den diversen Diskriminierungsformen, lässt Wissenschaftler:innen genauso zu Wort kommen wie Aktivist:innen. Diese Kombination führt dazu, dass alles, was sie schreibt, sehr nachvollziehbar wird. Besonders lehrreich für mich war die wiederkehrende Bezugnahme auf ihre eigene Biografie. 

Die Lektüre des Buches war für mich wie eine Reise durch unterschiedliche Welten, und macht deutlich, wie diese in ihrer je eigenen Komplexität zusammenhängen und nicht mehr unabhängig voneinander betrachtet werden sollten. 

Der Untertitel „Miteinander anders denken“ hält, was er verspricht, denn Haruna-Oelker feiert unterschiedliche Perspektiven und lädt ein zu einem konstruktiven Umgang mit Heterogenität. 

Lektüre, die zur Reflektion anregt

Nach Tupoka Ogettes „Exit racism“ und Alice Hasters’ „Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten“ sowie vielen anderen Veröffentlichungen zu Fragen von Inklusion (z.B. Boban/Hinz, Index für Inklusion), Diversität (z.B. Gümüsay, Sprache und Sein)  und Diskriminierungen (Criado-Perez, Unsichtbare Frauen) ist Haruna-Oelkers Buch eine bereichernde Fortsetzung für alle, die sich nicht nur dem eigenen Alltagsrassismus stellen wollen (dem andere unausweichlich ausgesetzt sind), sondern sich auch für andere gesellschaftliche Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen sensibilisieren wollen. 

Das Buch birgt auch für die Arbeit in Organisationen, denen Diskriminierungssensibilität ein aktives Anliegen ist, viele Impulse, im miteinander anders Denken die Schönheit der Differenz zu erkennen. 

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Unverfügbarkeit von Hartmut Rosa

Regenerative Leadership von Giles Hutchines & Laura Storm

Regenerative Leadership

The DNA of life-affirming 21st century organizations 

von Giles Hutchines & Laura Storm (2019) 
Worum geht es? 

Die Autor:innen Giles Hutchins und Laura Storm, Leadership-Expert:innen, Nachhaltigkeitspraktiker:innen und Eltern junger Kinder, bewegen Fragen wie: 

Welche Welt vermachen wir zukünftigen Generationen? Wie können wir neue, lebensbejahende Wege finden und Praktiken etablieren, sodass alle in unseren Ökosystemen und auf unserem Planeten gedeihen können? 

Daraus entstand das Buch – als eine Art Eintrittskarte für Menschen mit Bezug zur Führungspraxis, die auf der Suche nach einem anderen Paradigma sind, in dem es Organisationen, den Menschen in ihnen und unseren Ökosystemen gut geht. 

“Regenerativ” meint hier: “Bedingungen zu schaffen, die es dem Leben ermöglichen, sich ständig zu erneuern, in neue Formen überzugehen und inmitten sich ständig verändernder Lebensbedingungen zu gedeihen. Dieses Grundprinzip untermauert eine lebensbejahende Führung und Organisationsentwicklung, bei der unsere Organisationen die evolutionäre Dynamik des Lebens eher unterstützen als behindern.“  

Was macht das Buch aus? 

Das Buch bietet einen grundlegenden Überblick zu “regenerativer Führungspraxis”. Mit vielen Beispielen aus der Praxis von Organisationen (vorwiegend im for-profit Bereich) und vielen wissenschaftlichen Verweisen, weist es Wege und  Möglichkeiten auf, wie man als Führungskraft Organisationen auf eine regenerative Art und Weise führen und verändern kann. 

Immer wieder gehen Hutchins und Storm darauf ein, wie zentral die innere Arbeit, die eigenen Werte, Einstellungen und Praktiken jede:r einzelnen von uns dabei sind:  “To become a living systems being”, ein Mensch zu werden, der sich als Teil eines größeren Ganzen versteht, ist einer der Schlüssel dabei. 

Neben Herleitung, Überblick und Praxisbeispielen enthält das Buch auch einen Methodenteil – sowohl für die eigene Arbeit als auch für die Arbeit im Team. 

Was waren meine wichtigsten Take-Aways? 
  • Intelligenz größer denken: Wir können Intelligenz bewusster und ganzheitlicher verstehen. Denn oft stehen die kognitive und emotionale Intelligenz ganz vorne auf der Bühne im Rampenlicht, während sich andere Weisen von Intelligenz rar machen und nicht bewusst zum Vorschein kommen. Hutchins und Storm beziehen sich hier auf die vier Arten von Intelligenz, die der Schweizer Psychiater C.C. Jung als kognitive, emotionale, spirituelle und somatische benannte. 

 

  • Die Natur als kostenlose Bibliothek: Die Einführung des Kapitels zum Thema Living Systems Design enthielt diese Passage, an die ich mich oft erinnere: 

“Die Natur ist eine Bibliothek für regenerativ Führende. Sie bietet Zugang zu 3,8 Milliarden Jahren Forschung und Entwicklung, die Inspiration, Informationen und Anwendungen für die Neugestaltung blühender Gesellschaften, lebendiger Organisationen und lebensbejahender Produkte und Dienstleistungen liefern, die einen Mehrwert für ein größeres Ökosystem darstellen.” (S.147)  

3,8 Milliarden Jahre Forschung! So hatte ich das bisher noch nicht gesehen. Was für eine Weisheit! 

  • Führung und Stille gehören zusammen: Es berührt mich immer wieder, wenn ich höre, wie wichtig Stille ist, gerade auch für Führung. Immer wieder mal falle ich auf die Ohrwürmer des Mainstreams hinein, die ein kontinuierliches “Höher! Schneller! Weiter!” fordern. Wir wissen, wie schädlich und unnatürlich das ist. Wir wissen, es braucht Menschen in Teams und Organisationen, die täglich Druck und Stress erleben, die diesem nicht verfallen und mit Stille, Ruhe und Mitgefühl dem Raum geben, was entstehen will. Hutchins und Storm beschreiben es so: 

“Wir brauchen dringend Führungspersönlichkeiten, die es wagen, mit sich selbst und anderen in der Stille zu sitzen und dem Raum zu geben, was auf ruhige und einfühlsame Weise zum Vorschein kommen will.” (S. 226) 

Wem würde ich das Buch empfehlen? 

Jede:r, die Lust hat, sich einen Überblick über die grundlegenden Gedanken hinter “regenerativer Praxis” im Organisationskontext zu machen und neugierig sind, wie sie selbst “regenerative Praktiken” einbringen können . Achtung, es gibt keine speziellen Hinweise für Non-profit Organisationen. Ich fand jedoch, dass vieles analog übertragbar auf Organisationen aus dem sozialen Sektor ist. 

Lust reinzuschnuppern? Hier gibt es mehr: 

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Unverfügbarkeit von Hartmut Rosa

Change von Kotter/Akhtar/Gupta

Change

Wie Unternehmen in unübersichtlichen Zeiten herausragende Ergebnisse erzielen

von John Kotter, Vanessa Akhtar und Gurav Gupta

Erstaunlich eigentlich, dass es in den 2020er Jahren noch möglich ist, ein Buch mit dem schlichten Titel „Change“ auf den Markt zu bringen. Aber Kotter ist nicht irgendwer, sondern ein Altmeister und Vordenker in Sachen Führung und Change und hat mit Büchern wie „Leading Change“ (1996), „A Sense of Urgency“ (2008) und „Accelerate“ (2019) immer wieder einflussreiche Impulse ins Feld gebracht.

Die Ausgangsfrage von Change ist: Wie verhindern wir, dass Menschen und Systeme in eine Schockstarre verfallen, wenn die Zumutungen der VUCA Welt mit den vorprogrammierten Verunsicherungen von Veränderungsprozessen zusammen kommen?

Kotter, Akhtar und Gupta bauen in diesem Buch eine inspirierende Brücke von der Neurobiologie zur Dynamik sozialer Systeme. Angelpunkt ist dabei die Unterscheidung zweier Modi: „Survive“ und „Thrive“ (in Deutsch vielleicht etwas unbeholfen „Überleben“ und „Gedeihen“).

Der Survive Modus reagiert auf Gefahr. Hat das Survive Radar eine Bedrohung in unserer Umwelt ausgemacht, aktiviert es das sympathische Nervensystem: Adrenalin wird ausgeschüttet, Herzschlag, Blutdruck und Atmung werden erhöht um den Körper auf Kampf oder Flucht vorzubereiten. Der mentale Fokus ist eng und scharf auf die Bedrohung konzentriert. Im Normalfall wird diese Körperreaktion mit dem Abklingen der Gefahr zurückgefahren – im Falle anhaltender Bedrohungen nistet sie sich aber als Stress ein, der Energie und Konzentration saugt und schließlich zu einer Unfähigkeit führt, den Herausforderungen kompetent zu begegnen: Kotter und Kolleg:innen nennen dies die „überhitzte Überlebensreaktion“.

Während Survive also für Gefahrenabwehr und schnelle Problemlösung zuständig ist, ermöglicht Thrive Innovation, adaptives und co-creatives Handeln. Das Thrive Radar ist ständig auf der Suche nach Chancen. Es kontrolliert das parasympathische Nervensystem, das ein ganz anderes Set von Botenstoffen und Körperreaktionen auslöst: Im Thrive Modus kommt es statt einer plötzlichen Energiespitze zu einer graduellen und stetigen Aktivierung, die als positive Erregung oder auch Leidenschaft erlebt wird. Der Fokus wird weit statt eng, es erfolgt eine kreative Annäherung an die wahrgenommene Chance.

Im strategischen Alltag von Organisationen sind beide Modi relevant: Sowohl Gefahrenabwehr und Problemlösung als auch Innovation sind notwendig für das nachhaltige Überleben von Systemen. Dass der überhitzte Survive Modus die Grunddynamik vieler Veränderungsprozesse in Organisationen ausmacht, hat dabei verschiedene Gründe:

Zunächst ist die Veränderungsrate der Umwelt mittlerweile bedeutend höher als die Veränderungsfähigkeit klassischer Unternehmen. Die Notwendigkeit kontinuierlicher Anpassung produziert in Anbetracht des modernen Organisations-Paradigmas von Effizienz und Zuverlässigkeit Stress. Agilität ist dabei nach Ansicht der Autor:innen nicht die alleinige Antwort: Gefragt ist ein „duales Betriebssystem“, das eine stabile Konfiguration und eine dynamische Netzwerkstruktur kombiniert (anderswo wird das als „Ambidextrie“ beschrieben).

Zugleich wird Change – ganz im Sinne der von Kotter selbst vor Jahren auf die Bühne gehobenen „Urgency“ (Dringlichkeit) – meist von einer „brennenden Plattform“ aus kommuniziert („Wenn wir uns nicht verändern, gehen wir unter“). Um neben dem notwendigen Survive Modus auch Thrive zu aktivieren, ist ein Fokus auf Chancen wichtig, der das ganze System einbindet und aktiviert.

Zur Sicherung einer fruchtbaren Balance von Survive und Thrive geben die Autor:innen fünf Empfehlungen:

  1. Identifiziere Barrieren und Trigger: Was passiert gerade in der Organisation? Welche Muster von Survive und Thrive schlagen an, was sind die jeweiligen Auslöser? Was blockiert eine breitere Aktivierung und Übernahme von Führungsverantwortung?
  2. Bring Dich selbst in Balance: Was brauchst Du als Verantwortliche:r oder Führungskraft, um dich im gesunden Korridor zwischen Survive und Thrive zu regulieren? Welche Chancen und Leidenschaften kannst Du in den Fokus nehmen, welche Stressoren und Survive Trigger kannst du abbauen?
  3. Flute die Organisation mit chancenorientierten Denk- und Austauschräumen: Wie können wir den defizitorientierten Blick abbauen und das Denken in Möglichkeiten befördern? Wie können wir möglichst viele Beteiligte in dieses Denken einbinden?
  4. Reduziere Survive-Induzierenden „Noise“: Welche alltäglichen Stressoren – etwa Sanktions- und Performancedruck, rigide Normierungen oder auch Erwartungsunsicherheiten – können wir abbauen? Wie können wir verhindern, das durch dieses Grundrauschen zusätzliche Belastungen zu einer überhitzten Survive Reaktion führen?
  5. Feiere kleine Erfolge: Wie können wir über positive Erlebnisse den Thrive Kanal anreichern? Wie entsteht Momentum aus den kleinen Schritten der Annäherung an Chancen?

Während die Grundidee des Buches – wie so oft – schnell erzählt ist, arbeitet sich der Hauptteil von Change recht umfassend durch verschiedene  Anwendungsarenen – Strategieprozesse, Digitaisierungskampagnen, Projekte zum Kulturwandel, Fusionen und weiteres. Die Fallbeispiele im Buch beschreiben dabei vor allem gescheiterte und gelingende Change-Prozesse großer Unternehmen, die Kotter und seine Kolleg:innen beraten. Zugleich gibt es aber auch spannende Ein- und Ausblicke auf politische und soziale Bewegungen, die die globalen Herausforderungen unserer Zeit angehen.

Für die Ausführungen der fünf Handlungsempfehlungen, die zum Teil recht spannend und bemerkenswert sind,  bleibt am Ende leider nicht mehr viel Raum – hier ist noch offenes Feld zum Weiterdenken. Inspirierend könnte dabei unter anderem ein Blick auf Norma Wong (Move to End Violence) sein, die schon lange vor Kotter und seinem Team mit ihren Betrachtungen zu „Habits of Thriving und Surviving“ inspirierende Impulse für Strategiearbeit und nachhaltigen Aktivismus ins Feld gebracht hat.

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Storyworthy von Matthew Dicks

Storyworthy von Matthew Dicks

Matthew Dicks lüftet in dem Buch die Geheimnisse des Storytellings. Handfeste Tipps, die deine Geschichten besser machen, garniert mit berührenden Erlebnissen aus seinem Leben, machen das Buch zu einem Genuss, dem man sich auch noch gerne abends im Bett gönnt. Lehne dich zurück und erfahre in dieser kurzen Video-Buch-Besprechung, mehr

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Wenn Kollegen trauern von Franziska Offermann

Wenn Kollegen trauern von Franziska Offermann

Wenn Kollegen trauern

wahrnehmen verstehen helfen

von Franziska Offermann

Schon vor einigen Jahren hat das Team von SOCIUS Erfahrung mit gleich zwei trauernden Kolleg:innen gemacht, die innerhalb kürzester Zeit geliebte Menschen gehen lassen mussten. Das damals 8 köpfige Team hat quasi intuitiv reagiert: empathisch, verständnisvoll, geduldig. Die vorherigen Trauerfälle im Leben der Teammitglieder betrafen alte Eltern. Hier war es plötzlich anders, mit Geschwistern und Freundinnen. Das machte einen Unterschied.

Mich hat das Thema „Trauer am Arbeitsplatz“ seitdem immer wieder sehr beschäftigt. Und nicht nur dort, sondern auch sonst in unserer Gesellschaft. Oft erlebe ich Sprachlosigkeit, Zögern, Zurückhaltung… als ob Schweigen den Schmerz lindert.

Gleichzeitig beziehen wir uns in unserer Arbeit als Veränderungsbegleitung oft auf Trauerprozesse, wie sie Elisabeth Kübeler-Ross in Ihrer Trauerkurve beschrieben hat. Denn die Phasen der emotionalen Verarbeitung können hier und da ähnlich sein.

Franziska Offermann habe ich im Rahmen des Bohana-Netzwerkes kennengelernt, in dem sich Menschen zusammen finden, die mit den Themen Trauer – Sterben – Bestattung beruflich zu tun haben und das eine Plattform ist, für Menschen, die Begleitung suchen, sich informieren wollen, oder sich um das eigene „vorbereitet sein“ bemühen. 

Ihr Buch hat Franziska schon 2016 veröffentlicht und es beginnt mit ihrer ganz persönlichen Geschichte: wie der Tod eines Kindes ihr Leben für immer veränderte. Sie erzählt wie sie – die promovierte Pharmazeutin – erlebte, dass sich nach diesem Ereignis auch in ihrem Arbeitsleben alles änderte und wie ihr immer klarer wurde, dass sie neue berufliche Wege gehen muss. Sie war lange intensiv engagiert im Bundesverband Verwaister Eltern e.V. und gründete dann ihr Unternehmen Lucera – Integration von Trauer im System.

 

In ihrem Buch führt Franziska Offermann die Leser:innen nach dem sehr persönlichen Einstieg in eine Gedanken- und Handlungswelt, die Führungspersonen, Kolleg:innen und auch Beratenden ebenso wie Lehrer:innen bewusst sein sollte: Dass Menschen sterben, gehört zum Leben und kann jederzeit passieren. Es ist gut wenn wir uns dem Thema stellen.   

Die knapp 200 Seiten plus informativem Anhang sind in 7 Kapitel untergliedert, die sich an Trauernde, Kolleg:innen und Führende wenden und das Prinzip „BEILEID“ in ein Akronym verwandeln, das einen ganzen Prozess beschreiben kann:

B  eziehung gestalten, Bedürfnisse erfragen

E  mpathische Kommunikation, ernst nehmen aller Gefühle

I  ndividualität: jede:r ist anders! Information einholen!

L  ogistik der Organisation und Struktur

E  ntspannung, Entlastung

I  nteresse bekunden, Integration des Geschehenen

D auer beachten, dranbleiben

Franziska nimmt die Leser:innen mit in Erkenntnisse über Trauer und die Möglichkeit von Trauerbegleitung am Arbeitsplatz – welche Chancen bieten sich hier für Gesundheit und Teambuilding bzw. -bonding.

Wie können Trauernde so weiterarbeiten, dass sie einerseits nicht so tun müssen als gäbe es die Trauer nicht, und andererseits nicht darauf reduziert werden? Hier geht die Autorin intensiv auf verschiedene Zeiträume der Trauer ein. Im letzten Drittel des Buches finden sich konkrete Hilfen für Kolleg:innen, u.a. auch wie angemessen kondoliert werden kann, wie Rituale Vertrauen und Sicherheit schaffen (nicht nur für Trauernde) und wie auch am Arbeitsplatz mit Embodiment über den Körper die Seele erreicht werden kann.

Weil Arbeitskontexte heute so viel mehr bedeuten (können) als nur Broterwerb in der Leistungsgesellschaft, erwarten Organisationen und Mitarbeitende zunehmend, sich als ganzer Mensch zeigen zu können, und  nicht mehr nur auf die professionelle Schicht des Seins reduzieren zu werden. Vor diesem Hintergrund ist Franziska Offermanns Buch ein wichtiger Beitrag für alle, die das gesamte Leben in ihren Organisationen willkommen heißen und auch auch vor dem Kontakt mit Menschen nach schmerzhaften Erfahrungen nicht zurückschrecken.

Für mich ist das Buch ein Gewinn. Es schenkt mir Orientierung und Handlungsvorschläge für meine Arbeit und Franziska verliert darin nie ihren zugewandten, achtsame Ton. Dafür Dank ich dir, Franziska. In der Rückschau auf mein Erleben in unserem Team in 2013/14, kann ich dabei bleiben, dass wir damals intuitiv sinnvoll zusammen gewirkt haben. Heute im August 2021 haben nun ganz aktuell leider wieder die Aufgabe das zu tun, und einen trauernden Kollegen in unserer Mitte zu halten. 

 

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Wenn Kollegen trauern von Franziska Offermann

Wut Mut Liebe! von Charles Eisenstein

Wut Mut Liebe!

Politischer Aktivismus und die echte Rebellion

von Charles Eisenstein

Vor vielen Jahren habe ich mit einem Kollegen überlegt einen Blog unter der URL „alleteins.de“ zu betreiben, weil wir in einem unserer Gespräche darauf gekommen waren, dass die Art und Weise wie wir Organisationsentwicklung verstehen und in die Welt bringen, was Gewaltfreie Kommunikation damit zu tun hat und wie sich das mit Inklusion, Diskriminierungssensibilität, Soziokratie, New Work und Freien Schulen versteht, am Ende alles eins ist. Es geht immer darum, das Leben zu bewahren. Es geht um Heilung. Es geht um Verbundenheit und letztlich lässt sich alles daran messen.

Charles Eisenstein kommt zu ähnlichen Schlüssen in seinem 60 Seiten starken Büchlein, wenn auch sehr viel eloquenter formuliert und vor allem nicht auf die Organisationsentwicklung sondern auf Ökosysteme bezogen. Aber auch in der Organisationsentwicklung wird immer häufiger von Ökosystemen (metaphorisch) gesprochen und so kann „Wut Mut Liebe!“ hier nicht nur anregen sich Gedanken zur Heilung unseres lebendigen Planeten zu machen, sondern regt auch unmittelbar zum Handeln an, mit dem jede:r von uns sofort beginnen kann. Auch das ist ein Anspruch, dem wir ins Coachings und anderen Prozessbegleitungen gerne folgen.

Eisenstein beschreibt vier Prioritäten, die seiner Ansicht nach der Heilung des lebendigen Planeten dienen und denen wir uns hingeben sollten – anders als bekannte Mahner:innen des Klimawandels wie die Menschen von Extinction Rebellion oder Fridays for Future, setzt er nicht die Reduktion von CO2 an erste Stelle, sondern den „Schutz aller verbleibender Urwälder und anderer noch nicht geschädigter Ökosysteme. […] Jedes intakte Ökosystem ist ein kostbarer Schatz, ein Hort der Artenvielfalt, ein Refugium für die Regeneration des Lebens. In ihnen ist jene tiefe Intelligenz der Erde noch lebendig, ohne die eine vollständige Heilung nicht möglich sein wird.

Die zweitwichtigste Priorität laut Eisenstein ist die „Wiederherstellung und Regeneration der geschädigten Ökosysteme weltweit“.

Dritte Priorität ist es  „mit dem Vergiften der Erde aufzuhören.

Und die vierthöchste Priorität erst ist „die Reduktion von Treibhausgasen in der Atmosphäre.“

Hierzu führt es nachvollziehbar aus, wie die Reduktion von Treibhausgasen schon ein Nebeneffekt der drei höheren Prioritäten ist.

Um aus diesen vier Prioritäten Handlungen erwachsen zu lassen, braucht es, so sagt er, Ehrfurcht vor allen Wesen, da sie die Grundlage einer Revolution der Liebe sei. Wenn wir diese Ehrfurcht nicht haben, dann mischten wir nur die Karten neu. Wo immer es um soziale, politische, ökonomisch, ethnische oder sexuelle Gerechtigkeit geht – um die Wiederherstellung der Integrität jener, denen sie genommen wurde -, geht es um dieselbe Sache. Diese Themen sind nicht bloß politisch korrekte Nebenschauplätze. Sie gehören zum Ganzen. Keines dieser Probleme kann unabhängig von den anderen gelöst werden.“  – Allet eins.

Ganz besonders nimmt Charles Eisenstein in diesem Buch zwei Probleme und ihre Folgen in den Blick: Schulden und Krieg. Hier bezieht er sich auch auf sein Buch “Ökonomie der Verbundenheit” (das einen anderen SOCIUS liest Beitrag wert ist) und führt an, dass eine Postwachstumsökonomie möglich sei, in der Fortschritt nicht als Wachstum und Wohlstand nicht als quantitatives Mehr verstanden wird. Dafür fordert er einen “Schuldenerlass auf breiter Front.

Er warnt eindringlich davor, wie die Wachstumsmaschine Marktbeziehungen auf jeden Winkel des Lebens ausweite – und spätestens hier können direkte Zusammenhänge mit Fragen der Organisationsentwicklung gezogen werden. In Marktbeziehungen versuche jede Partei den besten Handel zu erzielen, während alle anderen Wesen für das Eigeninteresse instrumentalisiert würden. Die Grundeinstellung jeder Beziehung sei deshalb eine feindschaftliche. Schuld sei insbesondere eine Form von “Macht-über” [power over]. 

Nun können wir im “guten”, gemeinnützigen, dritten Sektor meinen, wir seien dem nicht unterworfen, weil wir ja nicht nach diesen Marktgesetzen agieren und entsprechend auch unsere Organisationsentwicklung sich nicht an diese Gesetze halten müsse. Hier verkennen wir meiner Ansicht nach aber wesentlich, dass der Dritten Sektor sich längst den Marktgesetzen unterworfen hat, dass Förderung immer häufiger an betriebswirtschaftliches Handeln gekoppelt wird.  Auch wenn die Sinnhaftigkeit in der Arbeit von NGOs immer noch eine große Rolle spielt, werden betriebliche Entscheidungen häufig nicht am Sinn der Organisation ausgerichtet. 

“Ein Kurswechsel zu einer Heilung der Erde erfordert Solidarität und eine gemeinsame Zielsetzung. Wenn wir unsere kreativen Energien und Lebenskräfte im Kampf gegeneinander aufbrauchen, was bleibt dann übrig, um diesen mächtigen Wandel in Gang zu setzen?

Fortan spricht Eisenstein die geneigten Leser:innen direkt an, diejenigen die sich im Recht glauben mit ihren Ansichten, die Debatten so zuspitzen, “dass sie sich nicht einmal darauf einigen können, was als Tatsache gilt. Jede der Streitparteien, von den Untergangspropheten über die Alarmisten bis hin zu den Skeptikern, scheint in der eigenen Realitätsblase gefangen zu sein.” 

Dann beschreibt er welcher Faustregel er selbst folgt, in solch extremen Polarisierungen – und das erinnert mich doch sehr an die Haltung der Mediation: “Worüber sind sich beide Seiten stillschweigend einig? Was gilt als selbstverständlich? Welche Fragen werden nicht gestellt? Könnte die Heftigkeit mit der die Debatte geführt wird, ein viel wichtigeres Thema verschleiern, das eigentlich unsere Aufmerksamkeit braucht?”.

Und so kommt Eisenstein am Ende seines Büchleins zu einigen Gedanken und Fragen, die uns auch unter dem Aspekt der Ganzheitlichkeit in der Organisationsentwicklung begleiten: “Ein jedes leistet seinen Beitrag zum Ganzen. Aus diesem Grund wird jedes Ökosystem [wir erinnern uns – auch Organisationen oder Netzwerke werden immer häufiger als Ökosysteme bezeichnet] schwächer, aus dem eine Art entfernt wird. Vom reinen Wettbewerbsstandpunkt aus sollte eine Art besser dran sein, wenn ihre Konkurrentin ausgelöscht wird, aber in der Tat ist sie schlechter dran.” Denn: “Das Leben schafft die Bedingungen für weiteres Leben. Nach diesem Prinzip sind die Menschen ebenfalls hier, dem Leben rundherum etwas zu schenken; wir sind hier um dem Leben zu dienen. Wir als Zivilisation haben lange das Gegenteil getan. Nichts weniger als eine totale Revolution der Liebe, ein großer Wandel, wird deshalb genügen.”

Dem ist nicht hinzuzufügen. 

Charles Eisenstein (* 1967) ist ein US-amerikanischer Kulturphilosoph und Autor. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit arbeitet er als Vortragsredner und freier Dozent.

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Wenn Kollegen trauern von Franziska Offermann

Wenn es hart auf hart kommt von Ben Horowitz

The Hard things about Hard things

Ben Horowitz, Schwierige Managementsituation und wie man sie meistert

Ben Horowitz will mit diesem Buch Klartext zum Thema Führung reden. Keine simplen Antworten liefern und keine Rezepte, wie gute Führung auszusehen hat. Er verspricht den Weg aufzuzeigen, wie er mit Startups das Internet revolutionierte und zum Partner der Venture Capital Firma Andreesen Horowitz wurde.

Wer in Zeiten post-heroischer Führungstheorien nur nach Bestätigungen sucht, wird von diesem Buch enttäuscht sein. Für alle anderen könnte ‚The hard things about hard things‘ ein interessanter Zwischenruf sein. Eine Erinnerung daran, dass vielleicht kein einzelner Ansatz zum Erfolg führt: Führung sollte vielmehr an Personen, Lebenszyklen und wirtschaftliche Rahmenbedingungen angepasst werden können. Die eigentliche Kunst besteht somit darin, fluide zwischen unterschiedlichen Führungsstilen wechseln zu können; der Fehler darin, sich einem einzelnen Führungsstil zu verschreiben.

Die Botschaft, die mir das Buch mir vermittelte: Führung ist schwer. Ben Horowitz hat oft versagt, viel daraus gelernt und in entscheidenden Momenten das Ruder fest in die Hand genommen. Mit dem visionären Blick eines nur heimlich zweifelnden Kapitäns, der seine Schifflein aus diversen Stürmen führt. Mit dieser Dramaturgie liest sich das Buch wie eine klassische Heldenreise. Dabei bietet es einen Blick hinter die Kulissen des Silicon Valleys, wo unser Protagonist Höhen und Tiefen durchlebt, Widerstände bezwingt und am Ende geläutert von seinen Erlebnissen berichtet. Wir sitzen bei großen Übernahmedeals mit am Verhandlungstisch und bezeugen, wie das Handeln von Wirtschaftsprüfungsgesellschaften das Überleben von Organisationen bedroht. Und wir tauchen in die Zeit der ersten Internetbrowser ab. Wir erinnern uns an Netscape, Napster oder AOL und vollziehen nach, an welch seidenen Fäden der Erfolg und Misserfolg dieser alten Riesen hing. Für Unterhaltung ist also gut gesorgt – auch wenn manche Einlassungen vor dem Hintergrund heutiger kollaborativer Organisationskulturen nicht mehr ganz zeitgemäß anmuten. 

Gibt ein solches Buch Anregungen für unseren Arbeitsalltag, auch wenn wir gerade nicht mit dem nächsten Übernahmedeal durchstarten? Durchaus:

  • Auf emotionaler Ebene kann das Lesen des Buches aktivierend wirken. Ben Horowitz motiviert dazu, Dinge selber in die Hand zu nehmen und sich nicht abschrecken zu lassen. Er macht auch keinen Hehl daraus, dass Führung nur durch Erfahrung gelernt werden kann und uns im Grunde ständig überfordert.
  • Zudem betont er die Notwendigkeit unterschiedlicher Führungsstile und der Fähigkeit, zwischen diesen wechseln zu können. Eine Firma, der es wirtschaftlich gut geht, kann anders geführt werden als eine Firma, die kurz vor ihrem Abgrund steht. Ihm zufolge sind Formen der kollaborativen Führung in Zeiten des Wachstums erfolgreicher, während heroische Ansätze in schwierigeren Zeiten von Vorteil sind. Das ist zumindest eine interessante These. 
  • Auch macht er plausibel, warum Organisationen in unterschiedlichen Lebensphasen unterschiedliche Führungspersonen benötigen – ein*e Gründer*in ist oftmals nicht die richtige Person, wenn die Zahl der Mitarbeitenden drastisch wächst. Und jemand, der gut darin ist, Unternehmen zu skalieren, wird vielleicht nie die chaosverliebte Magie des Beginnens nachvollziehen können. Und wie finden wir überhaupt die passenden Mitarbeitenden?
  • Eingestreut finden sich auch immer wieder Einsichten aus der Praxis, die direkt umgesetzt werden können. Etwa wenn Horowitz davon berichtet, wie Prozesse effektiver gestaltet werden können. Seiner Erfahrung nach lassen sich ineffiziente Prozesse fast immer auf eine Person zurückführen, die sich nicht ermächtigt fühlt, die auf Entscheidungen wartet und meint, nicht den nächsten Schritt gehen zu können. Womit sich wieder der Kreis zur Selbstorganisation schließt, indem auch Horowitz betont, wie wichtig Fürsorge und Ownership für Unternehmen sind.

Insgesamt habe ich das Buch sehr gerne gelesen. Cherry-Picking scheint mir hier die ideale Strategie. Sich an Stellen, die mit einer kräftigen Prise Parternalismus gewürzt bleiben, nicht lange aufhalten und dafür andere Passagen genießen, die durchaus interessant und erhellend sind.

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Wenn Kollegen trauern von Franziska Offermann

Self Compassion von Kristin Neff

Socius liest: “Self-Compassion“

(Selbstmitgefühl) von Kristin Neff

Die Bildungswissenschaftlerin und Universitätsprofessorin Neff hat dieses Standardwerk für Menschen aller Alter und Professionen 2011 veröffentlicht. Mittlerweile in seiner dritten englischsprachigen Auflage, erschien es 2012 auf Deutsch. Ich habe die englischsprachige Ausgabe gelesen.

Das erste Mal hörte ich 2012 von der Arbeit von Kristin Neff, in einem Buch von der mittlerweile weltweit bekannten Brené Brown, die zum Themenkomplex “Verletzlichkeit” forscht. Brown beschrieb Neff’s Arbeit als so wertvolle Ressource für ihre eigene Arbeit, das ich schon damals den Namen im Hinterkopf behielt. 2018 stolperte ich erneut über Neff’s Werk – als Teil der Literaturempfehlungen aus der Socius Fortbildung Bewegte Beratung. Nun ist es mit dem Lesen 2020 geworden – ein Jahr, in dem wir alle viele Erfahrungen mit Unsicherheit, Wandel und Unvorhersehbarkeit machen. Ein Jahr, das verdeutlicht, wie wichtig es ist, die Muskeln unseres Selbstmitgefühls zu trainieren.

Mit einer Mischung aus sachlichen Erläuterungen, teils sehr berührenden Beispielen aus ihrem eigenen Leben und Einblicken in wissenschaftliche Studien liefert Neff eine vielseitige, und zugängliche Grundlage ins Selbstmitgefühl – diesen unsichtbaren Muskel, der uns in unserer Menschlichkeit verwurzelt und uns angesichts aller möglichen Lebenslagen weder in Selbstüberhöhung noch in Verzweiflung verfallen lässt. Neff beschreibt deutlich wie Selbstmitgefühl uns hilft das anzuerkennen, was gerade da ist. Dass es Momente, Tage und Lebensphasen gibt, an denen die innere Sonne scheint und dass es Momente, Wochen oder Phasen gibt, an denen das Innenleben im Schatten liegt. Selbstmitgefühl will keines dieser Gefühle überhöhen, sondern sie einfach wahrnehmen.

Wie Neff weiter schreibt, können wir Menschen in uns aufkommende Gedanken und Gefühle nicht unterdrücken. Wir können allerdings innerlich blind für sie werden, uns verhärten (gegenüber uns selbst und gegenüber anderen) und/oder eines Tages unerwartet und unvermittelt diesen Gedanken und Gefühlen gegenüber stehen.

Laut Neff gibt es drei Gateways (Tore) zum Selbstmitgefühl, die jeweils ihren einen Wege in die Anwendung ermöglichen:

  1. Sich selbst mit Wohlwollen und Wärme gegenübertreten;
  2. Sich daran erinnern, dass es Teil des menschlichen Lebens ist, Schmerz zu erfahren,
  3. Seine eigenen Gedanken und Gefühle bewusst zu benennen und achtsam zu behandeln.

Gespickt mit vielen Übungen und Reflektieren kann man das Buch auch nutzen, um seine eigene “Selbstmitgefühlpraxis” zu beginnen oder zu verstetigen. Immer mal wieder scheint ein US-amerikanischer Stil aus dem Buch hervor, doch ist es mir durch seine vielen Anwendungsbeispiele und sachlichen Erinnerungen an die Bedeutsamkeit dieser unsichtbaren Kraft ein wertvoller Begleiter geworden.

“The only way out is through” sagte mir jemand einmal in einer für schwierigen Situationen – ein Rat, der wirkte. Da uns im Leben immer wieder Momente begegnen, in denen wir nicht weiter wissen oder Kummer leiden, wirkt es auf mich wie eine gut investierte Gesundheitsvorsorge, die Muskeln meines Selbstmitgefühls zu immer wieder trainieren.

Weitere Ressourcen:

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Book-release und Leseprobe: „Utopia 2048“ von Lino Zeddies

Book-release und Leseprobe: „Utopia 2048“ von Lino Zeddies

Wie würde eine Welt aussehen, in der die sozial-ökologische Wende gelungen ist und sich viele Herausforderungen unserer Zeit zum Positiven entwickelt haben? In einer Zeit vor Corona, genau genommen im Sommer 2019, machte sich ein befreundeter Beraterkollege daran, ein Buch darüber zu schreiben. Lino Zeddies, studierter Ökonom, Organisationsentwickler, Coach, Speaker, Heilpraktiker, Aktivist für eine schönere Welt und zuletzt auch Autor, geht in seiner Erzählung auf eine Vielfalt gesellschaftlicher Bereiche und Fragen ein und orchestriert diese in einem anregenden Werk zu einer gesellschaftlichen Utopie.

Vor etwa einem Monat wurde das Buch punktgenau zur Corona-Krise fertig und dient nun als inspirierendes Narrativ über Möglichkeiten, wie sie in ihren Ansätzen alle schon existieren. Es ist ihm sogar gelungen, die letzten Entwicklungen um Corona noch in die Erzählung einzubetten.

Wir als SOCIUS unterstützen das Projekt, etwa mit der Erstellung eines Videos und hatten Lino zuletzt auch als Facilitator in einem Labor zur Zukunft von Arbeit und Organisationen, dessen Ergebnisse hier nachgelesen werden können.

Einige Inhalte und Eindrücke vom Buch werden in dem vierminütigen Promo-Video deutlich:

Informationen zum Buch

  • Das Buch umfasst 312 Seiten und ist im April 2020 bei Books on Demand erschienen.
  • Die Entstehungsgeschichte, Infos zum Autor, sowie weitere Links zu progressiven Ansätzen sind auf Lino Zeddies‘ Website nachlesbar.
  • Bestellbar ist das Buch bei Books on Demand für € 11,99 gedruckt oder derzeit noch € 4,99 (später € 7,49) als E-Book. Alternativ ist es auch bei den üblichen Buchhändlern online erhältlich.

Leseprobe

Lino hat uns eine exklusive Leseprobe für unsere Leser*innenschaft zur Verfügung gestellt:

Setting der Szene: Lena ist nach einem fast 30-jährigen Komaschlaf im Jahr 2048 aufgewacht und unterhält sich mit dem Ehepaar Helge und Sally über den großen Wandel.

»Lena hat mich eben gefragt, wie wir damals den großen Wandel geschafft haben. Was meinst du? Wodurch wurden all die Veränderungen möglich?«, fragte Helge.
Sally legte sich nachdenklich die Hand ans Kinn und dachte einen Moment nach. Dann schaute sie auf. »Erstmal denke ich, dass der Einsatz für die Veränderungen im Außen nicht von den Veränderungen im Inneren zu trennen ist. Das war früher in der Regel viel zu separiert.«
»Meinst du mit Veränderungen im Inneren Psychotherapie und sowas?«, fragte Lena.
»Zum Beispiel. Wer die Welt verändern will, muss bei sich anfangen. Die innere Heilung und die Auseinandersetzung mit eigenen Verletzungen und Schatten ist daher enorm wichtig. Dabei kann Psychotherapie hilfreich sein oder auch Seminare, Selbsthilfegruppen, Meditations-Retreats oder Wandercoachings.«
Lena lächelte. »Viele Wege führen nach Rom.«
»Genau. Andererseits gab es früher in dem Kontext auch viele Menschen, die immerzu nur um ihre Probleme und Prozesse gekreist sind.« Sally nahm einen großen Schluck Apfelsaft. »Ich hatte mal so eine Freundin, die jede Woche zu ihrem Coach gerannt ist und die Lösung aller Probleme der Welt in der Aussöhnung mit dem inneren Kind gesehen hat. Sie meinte dann, erst alles in sich heilen zu müssen, damit sich die Welt verändert.«
»Aber ist da nicht was dran?«
»Klar ist da was dran. Aber es ein Kampf gegen Windmühlen, in einer verrückten Welt, die kontinuierlich die Menschen krank macht, nur am Individuum anzusetzen und zu versuchen, die Menschen einzeln zu heilen. Innere Heilung ist wichtig, aber es braucht auch unbedingt die damit einhergehenden Veränderungen im Außen.«
Lena nickte. »Die Geflüchteten, mit denen ich früher gearbeitet habe, waren fast alle traumatisiert. Ich habe manchmal gedacht, wenn man das ganze Geld und die Energie, die in die Geflüchtetenhilfe geflossen ist, ein paar Jahre vorher in Friedensarbeit und internationale Reformen gesteckt hätte, hätte man vielleicht manche der Kriege und damit dieses ganze Leid verhindern können.«
Sally nickte. »Genau das meine ich. Gleichzeitig gab es natürlich auch einen Haufen unreflektierter Aktivisten, denen ein bisschen Coaching und Selbstreflexion über ihr inneres Kind sehr gut getan hätte. Dann hätten sie mit ihren inneren Konflikten nicht ihre Projektgruppen und Organisationen belasten müssen.«
»Oh ja«, Lena verzog das Gesicht. »Diese Kandidaten kenne ich auch. Du meinst also, es braucht die Arbeit im Außen und im Innen?«
»Ganz genau. Sowohl als auch. Aber früher wurde alles getrennt und aufgespalten. Da wurde fröhlich der Umweltschutz gegen Soziales ausgespielt, Arm gegen Reich, Männer gegen Frauen, Norden gegen Süden und Alt gegen Jung.«
Lena blickte zu Boden. »Verdammt! Ja, das war schon sehr frustrierend.« Dann schaute sie wieder auf. »Und was führte dann zu dieser Wende? Es scheint ja, dass sich die Bewegungen doch irgendwann vereint haben. Wie kam es dazu, dass immer mehr den Bewusstseinssprung geschafft haben?«
»Vielleicht kann man es als eine Evolution des menschlichen Bewusstseins bezeichnen, dass die Zeit eines Tages reif war für das Integrieren der vermeintlichen Gegensätze. Irgendwann ging in dieser Hinsicht auf jeden Fall ein Ruck durch die Aktivisten. Gleichzeitig verbreiteten sich einige wirkmächtige soziale Technologien wie die Soziokratie, Dragon Dreaming, Theory U, Circling, Art of Hosting, gewaltfreie Kommunikation und so weiter. Das hat vieles in der Zusammenarbeit leichter gemacht.«
Lena zog die Augenbrauen zusammen. »Das meiste davon sagt mir kaum etwas.«
Helge ergriff das Wort: »Genau das war das Problem. Den meisten Aktivisten früher fehlte das grundlegende Handwerkszeug. Das sind alles Methoden für effektive, harmonische und sinnstiftende Zusammenarbeit. Soweit ich mich erinnere, kam das meiste davon erst nach der Jahrtausendwende auf. Außerdem dauert es natürlich, bis sich solche Methoden verbreiten. Diese neuen Ansätze waren jedenfalls extrem hilfreich dabei, ein vertrauensvolleres Miteinander zu schaffen. In den sozialen Bewegungen und NGOs flutschte das Zusammenwirken damit einfach viel besser.«
»Klingt vielversprechend.« Lena dachte eine Weile darüber nach und schob sich noch eine Kirsche in den Mund. »Angenommen, ich könnte in der Zeit wieder zurückreisen. Welche Erkenntnisse hättet ihr mir als Aktivistin vor dreißig Jahren mitgegeben?«
Sally ergriff das Wort. »Nicht gegen das alte System zu kämpfen, sondern für eine schönere Welt. Die Welt braucht stattdessen inspirierende Visionen und überzeugende Beispiele des Wandels. Früher war der Aktivismus meist zu negativ.«
Helge nickte bestätigend. »Das stimmt. Kampf und Widerstand sind die Methoden des alten Paradigmas. Was es für positive Veränderung braucht, sind Mitgefühl, Verständnis und Verbundenheit. Das war eine sehr wichtige Lektion für mich. Wenn man nur das Alte bekämpft, bleibt man stehen und reibt seine Ideale auf. Wie die vielen Freiheitskämpfer, die irgendwelche Diktatoren gestürzt haben und dann selbst zu Despoten wurden.«
»Aber wenn man das Falsche nicht bekämpft, wird es doch noch stärker«, sagte Lena irritiert.
»Natürlich gibt es auch eine Zeit des Kampfes und des Widerstands«, sagte Helge. »Aber meistens erfordert positive Veränderung andere Methoden.«
Sally ergänzte: »Zudem hatten die Mächtigen des alten Systems die Waffen, das Geld, den Überwachungsstaat, die Polizei und die Medien. Einen Kampf in Form eines Kräftemessens konnten wir gar nicht gewinnen.«
»Und was sollte man dann tun statt zu kämpfen?«, fragte Lena.
Helge erhob einen Zeigefinger. »Als Erstes sollte man dafür sorgen, dass es einem selber gut geht. Wenn man sich selber ausbeutet und kaputt macht, ist keinem geholfen. Man muss sich auch Zeit nehmen für die schönen Dinge. Sonst vergisst man, warum man tut, was man tut.«
Sally machte eine bedeutungsvolle Geste. »In der Hoffnung, den Mond zu erreichen, vergisst der Mensch, auf die Blumen zu schauen, die zu seinen Füße blühen. Albert Schweitzer.«
Lena blickte etwas niedergeschlagen. »Puh. Das berührt mich sehr und gleichzeitig fühle ich mich schuldig. Wenn ich ehrlich bin, war ich total drin im alten Trott der Selbstausbeutungsmühle. Da war nix mit Blumen und Leichtigkeit.« Sie nahm sich vom Tisch einen Keks und schob ihn sich in den Mund. »Habt ihr noch mehr guten Rat auf Lager?«
Helge nickte kräftig. »Die Revolution muss Spaß machen!«

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Wenn Kollegen trauern von Franziska Offermann

Future Sense von Malcolm Parlett

Zwischen Dystopie und Utopie: „Future Sense“ von Malcolm Parlett hilft Orientierung zu entwickeln

Wir leben in widersprüchlichen Zeiten. 2014 griff Frédéric Laloux ein optimistisches Szenario menschlicher Entwicklung auf und konkretisierte es in „Reinventing Organisations“ zur neuen Qualität der Selbstorganisation – seitdem und vielfach in aller Munde und praktisch unterfüttert durch Erfahrungsansätze von Agilen Formen bis zur Soziokratie. Gleichzeitig erfahren wir Momente überwunden geglaubter autoritärer und abgrenzender Strukturen und Prozesse von der großen Politik (Trump und Brexit) über staatliche Willkür (wie ich zumindest die staatliche Gemeinnützigkeitsdebatte wahrnehme) bis zu wachsendem Rassismus und anderen Formen der Diskriminierung im öffentlichen Raum. Ein „Selbstläufer“ ist die utopische Weltsicht also allemal nicht; vielleicht aber einmal eine Frucht geteilten Er-Lebens und Arbeitens.

Malcom Parletts „Future Sense“ bietet eine Orientierung, die Welt und unser Zusammenleben kreativer, ganzheitlicher und nachhaltiger zu gestalten. Konsequent verbindet er dabei Momente individuellen Zusammenkommens mit den großen Perspektiven politischer und gesellschaftlicher Lebensgestaltung. In diesem Sinn sind seine „Fünf Forschungsfelder ganzheitlicher Intelligenz für eine erwachende Welt“ (Untertitel im Original: „Five Explorations of a Whole Intelligence for a World That’s Waking Up“) nicht nur eine Handlungsanleitung, sondern viel mehr eine Anregung zur Erforschung von Herangehensweisen, Experimentiermöglichkeiten, gegenseitigen Verflechtungen und Unterstützungsfaktoren; kurz die Einladung für eine große Entdeckungsreise in vielen Schritten.

Die Felder selbst bieten keine Überraschung, sondern finden sich an vielen Stellen in der Beratungstätigkeit und angrenzenden Disziplinen. Ihre Herleitung ist allerdings nicht trivial. Intensiv widmet sich Parlett zunächst einer Argumentation, wie er auf diese fünf Felder kommt. Als wesentliche Elemente hat er folgendes identifiziert:

  • Antwort und Reaktion in gegebenen Momenten,
  • Gestaltung von Beziehung,
  • Körperliche Wahrnehmung und Erkenntnis,
  • Selbsterfahrung und -Achtsamkeit,
  • Experimentieren und kontinuierliches Forschen.

Jedes dieser Forschungsfelder elaboriert Parlett in einem eigenen Kapitel – gesättigt aus Erfahrung jahrelanger Praxis in pädagogischer und therapeutischer Arbeit mit Einzelpersonen und Gruppen – aus dem individuellen und manchmal intimen Raum einzeln oder zu zweit bis zu gesamtgesellschaftlichen Dynamiken. Diese bereits oben genannte Verbindung intensiver aber „kleiner“ Momente mit dem Gesamten spürbar und bildet die Grundlage für seine Aussage, auf diese Weise „whole intelligence“ (er kürzt es als „whi“ ab) zu entwickeln. Spürbar wird beim Lesen, wie wenig er moralisches Futter einstreuen möchte. Vielmehr lässt er uns Leser*innen an der Entwicklung seiner Gedanken und Erfahrungen teilhaben und lädt ein zur eigenen Suche. Diese nicht wertende (und neben bei: in sympathisch „einfachem“ Englisch formulierte) Sprache ist wohltuend. Sie regt zum eigenen Nachdenken an, zum Mitfühlen und Reflektieren, wie ich mich in diesen Feldern wohl fühle, wo ich vielleicht selbst Lust zum Lernen habe und wo ich Resonanzen entwickele – zustimmend und widersprechend – zu den Erfahrungen von Malcolm Parlett. Gleichzeitig ist mit der Kontextualisierung zum Einstieg ein klarer ethischer Rahmen gesetzt, der auch während der Reise durch die Forschungsfelder immer wieder aufgegriffen wird.

„Ganzheitliche Intelligenz ist viel eher praktisch, ästhetisch und ethisch zu verstehen als konzeptionell. Mit diesen Kriterien können Erfahrungen und Praxis verbunden werden (…) Vielleicht hilft die Analogie des Surfens: Erfahrene Surfer erkennen eine gute Welle; es wird aber schwer sein, zu beschreiben, was diese Welle zur exakt richtigen macht.“ (S. 262) Die Verbindung von Erfahrung, Reflexion bringt die Intuition des Surfens – und so auch die Entwicklung von „whole intelligence“.

Erste Schritte liefern zum Schluss des Buches doch noch ein wenig „Rezept“ (S. 271):

  1. Die fünf Forschungsfelder erkennen und spüren und akzeptieren, wenn wir ihnen begegnen.
  2. Die Wirkmächtigkeit von Ganzheitlichkeit und Verbindung schätzen in einer Zeit zunehmender Fragmentierung von Wissen.
  3. Die Einladung, „whi“ als eine Idee zu verstehen und nicht als ein fertig formuliertes Produkt, und neu und unbelastet von klassischen Debatten Entwicklungen wahrzunehmen und zu reflektieren.

Ein für mich sehr „lebendiges“ Buch, das geholfen hat, bei der Suche zwischen Utopie und Dystopie wieder bei mir anzufangen.

Malcolm Parlett (2015): Future Sense. Five Explorations of Whole Intelligence for a World That’s Waking Up. Weitere Informationen: www.fiveexplorations.com

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Wenn Kollegen trauern von Franziska Offermann

SOCIUS liest: Mit Ignoranten sprechen

Peter Modler: Mit Ignoranten Sprechen  (Campus 2019)

Es gibt ohnmächtige Momente in Auseinandersetzungen, die bleiben haften. Die Erfahrung wirkungslos in der Luft zu stochern, während ein Gegenüber ständig in die Magengrube trifft, kann Züge eines Mikrotraumas annehmen. Ich habe ein paar solcher Momente in meinem Leben erfahren und nie so recht verstanden, was da genau passiert ist. Wem das nicht fremd ist, der sollte sich dieses kleine Buch an den Nachtisch legen (lange wird es da nicht bleiben, es liest sich in einem Zug).

Peter Modler ist Unternehmensberater und Führungs-Coach mit besonderem Interesse an Geschlechterkommunikation. Im Rückgriff auf die Soziolinguistin Deborah Tannen stellt er hier zwei Kommunikationsstile gegenüber: das horizontale und das vertikale System. Während im vertikalen System Revier- und Rangordnungen eine große Rolle spielen, sind im horizontalen System der inhaltliche Austausch auf Augenhöhe und Signale der Zugehörigkeit zentral. Treffen in einer Auseinandersetzung Vertreter*innen der beiden Kommunikationsstile aufeinander, entstehen Verwerfungen. Ein zentraler Unterschied liegt dabei in der Nutzung unterschiedlicher kommunikativer Ebenen: während die „Horizontalen“ sich vor allem auf der Ebene des „High Talk“ auseinandersetzen, in der Argumente ausgetauscht werden, um zu verstehen und zu überzeugen, wechseln die „Vertikalen“ gerne in die „Basic Talk“ Ebene, in der plakative Sprachformen dominieren, die ohne Nebensätze und inhaltliche Argumentation auskommen: „Zu viel Details!“, „Das glaubst Du doch selbst nicht“, “Das holt mich nicht ab!“, „Wrong“, „Fake News!“. An solchen markigen Provokationen – gerne auch in Dauerschleife wiederholt – prallt jedes noch so gute High Talk Argument ab.

Das Herzstück des Buches ist die eindrückliche Schilderung der Fernsehduelle zwischen Donald Trump und Hillary Clinton im US Wahlkampf 2016. Satz für Satz, Bewegung für Bewegung wird hier seziert, wie es dem eigentlich argumentativ unterlegenen Trump gelingt, die Lufthoheit zu erlangen und am Ende als Sieger vom Platz zu gehen. Eine wesentliche Rolle spielt dabei Trumps Einsatz der dritten Eskalationsstufe des vertikalen Kommunikationsstils: der „Move Talk“ – das Senden von Dominanz- und Rangsignalen durch körperlichen Einsatz. Diese Kapitel tun beim Lesen weh und sind unglaublich lehrreich.

Basic Talk und Move Talk haben zwar mit Trump eine idealtypische Verkörperung gefunden, ist aber weit verbreitet. Modler zeichnet die Muster der vertikalen Kommunikation in zahlreichen parlamentarischen Auftritten der AfD nach und beleuchtet, wie so mancher poltrige Politiker (kein Gender-Sternchen hier!) der Volksparteien das vertikale Instrumentarium erfolgreich in Anschlag bringt, um gut gerüstete Gegner verbal und szenisch kaltzustellen. Neben den politischen Szenen dreht sich das Buch aber auch um Beispiele aus dem betrieblichen Alltag. Dass es sich hier auch um ein nützliches Handbuch für die Mikropolitik in Organisationen handelt, erklärt sich nicht zuletzt durch Modlers langjährige Praxis in der Führungskräfteentwicklung  (u.a. mit seinem „Arroganz-Training“ für weibliche Führungskräfte).

Die einzig wirksame Antwort auf Basic Talk, so Modlers Überzeugung, ist Basic Talk. „Wrong!“ – „Right! And you know it!“. Was erst einmal klingt wie ein potentieller Absturz in die Niveaulosigkeit, ist tatsächlich nur eine taktische Antwort, die Ignoranten mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Modlers eindringlicher Appell an das aufgeklärte Bildungsbürgertum: Kommt runter von Eurem hohen Ross, sonst haut der Basic Talk des Populismus Eurem schönen Pferd die Beine weg! Ganz nebenbei bemerkt er dabei, dass Ignoranz meistens eine zweiseitige Zuschreibung ist.

Das Buch hat manche Wiederholung, manche Trivialisierung (ups…), aber ich kann es sehr empfehlen!

Die „10 Goldenen Regeln“ – hier die Zusammenfassung der Zusammenfassung:

 

  1. Die eigenen Sprachgewohnheiten hinterfragen! – Üben Sie sich im Kommunizieren außerhalb der Komfortzone ihres eigenen Sprachmilieus.
  2. Moralische Empörungsreflexe herunterfahren! – Die innere Abwertung des Gegenübers verhindert einen klaren Blick auf ihn und die Situation.
  3. Kommunikation außerhalb der Argumentation wahrnehmen! – Halten Sie Basic Talk und Move Talk Ihres Gegenübers im Blick.
  4. Das Offensichtliche aussprechen! – Nennen Sie provokatives und übergriffiges Verhalten im Gespräch beim Namen.
  5. Keine Zuhörbereitschaft voraussetzen! – Gehen Sie nicht davon aus, dass Ihr Gegenüber unbedingt an einer respektvollen Auseinandersetzung auf Augenhöhe interessiert ist.
  6. Keine Panik bei Unsachlichkeit! – Beantworten Sie Basic Talk in aller Gelassenheit mit Basic Talk.
  7. Schönheit des Patts wahrnehmen! – Übernehmen Sie nicht die volle Verantwortung dafür, dass jede Auseinandersetzung sofort zu einer Lösung führen muss.
  8. Langsam siegen! – Lassen Sie Ihren Argumenten und Moves im Gespräch genug Zeit, Wirkung zu entfalten.
  9. Höflichkeit relativieren! – Verteidigen Sie die Höflichkeit, indem Sie auf Grobheit auch mal grob reagieren.
  10. Nicht rechtfertigen! – Anstatt Ihr Verhalten defensiv zu rechtfertigen, begründen Sie lieber offensiv Ihre Position.  

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Wenn Kollegen trauern von Franziska Offermann

SOCIUS liest: Das Theater der Unterdrückten als Impuls für eine emanzipatorische Supervision

Anne Keiner: Das Theater der Unterdrückten als Impuls für eine emanzipatorische Supervision

Wir leben in anspruchsvollen Zeiten: Einerseits erfahren wir ein zunehmendes „Mehr“ an Möglichkeiten der Selbstorganisation und Gestaltung evolutionärer Prozesse. Demgegenüber stehen immer besorgtere Stimmen zu Komplexität und Ambivalenz in Organisationen; gefühlter Rechtfertigungsdruck „von außen“ – rechtspopulistische Tendenzen; normative und tatsächliche Einschränkung der Gemeinnützigkeit – werden stärker. Welche Möglichkeiten hat eigentlich Supervision, sich in transformativen Trends zu positionieren? In ihrer Masterthesis untersucht Anne Keiner, wie Elemente des „Theater der Unterdrückten“ – entwickelt von Augusto Boal in der Zeit der Befreiungsbewegungen Lateinamerikas des letzten Jahrhunderts – Haltung, Theorie und Handlungskompetenzen der Supervisionsarbeit bereichern können. Offenbar liegt ihr insbesondere die Frage nach dem „politisch-emanzipatorischen Impetus“ (S. 15) am Herzen: Prozesse so zu gestalten, dass sie eine gesellschaftlich transformierende Wirkung haben.

Vorweg stellt Anne Keiner beide Zugänge -die Supervision sowie das Theater der Unterdrückten – in ihrer jeweiligen Eigenheit dar. Davon ausgehend, dass der Leser*innenkreis wahrscheinlich eher der Berater*innenszene entstammt, ist die Detailtiefe beim Theater der Unterdrückten umfangreicher ausgestattet. Die thematisierten Fragen sind in beiden Kapiteln – als Herkunftsgeschichte, generell prägende Haltung, theoretische und methodische Ableitungen hieraus und Beschreibung konkreter Arbeitsansätze – vergleichbar.

Dichotomie und Allparteilichkeit

In den beiden Kapiteln wird zentral das politische Selbstverständnis der Ansätze herausgearbeitet: Aus seiner Entstehungsgeschichte ist das Theater der Unterdrückten politisch im Kontext der südamerikanischen Befreiungsbewegung verwoben und vom marxistischen Denken der damaligen Zeit geprägt. Dies führt – zumindest im Original – zu einer klaren „dichotomischen“ Unterscheidung zwischen „Unterdrückten“ und (ohne sie explizit zu erwähnen) Unterdrückern und zu einer klaren Parteilichkeit im weiteren dialogischen Prozess. In Betrachtung ethischer Haltungsfragen (systemisches Herangehen, Allparteilichkeitsfragen) aber auch im Hinblick auf die Anwendbarkeit in unterschiedlichen Beauftragungsverhältnissen, ist diese Herangehensweise in der Supervision nicht haltbar, wie Anne Keiner ausführt. Supervision steht vielmehr in der Gefahr, vor ökonomischen Erwartungshaltungen und angesichts der bereits erwähnten zunehmenden Komplexität in Abhängigkeit von Zielsetzungen zu geraten, die außerhalb der direkten Beziehung zwischen Berater*in und Klient*in stehen – und letztlich damit irrelevant zu werden. Beide Ansätze stellen Extrempole dar, die von der Autorin deutlich hinterfragt werden.

Non-Direktivität und Dialog

Zunächst untersucht Anne Keiner jedoch bestehende Verbindungen von Supervision (bzw. Beratung im weiteren Sinn) mit theatralen Methoden. Wenig überraschend, existiert bereits ein Praxisfeld, auf das sie hier zurückgreifen kann. Insbesondere im handlungsorientierten Rahmen und beim körperorientierten Arbeiten können theatrale Methoden unterstützen. Verbindungslinien sind beispielsweise: der non-direktive begleitende und dialogisch orientierte Moderationsansatz in beiden Zugängen – der in entsprechenden Beratungssettings der*dem Supervisor*in zugesprochen wird. Im Theater der Unterdrückten entspricht dies der Aufgabe des „Jokers“, die in ihrem inhaltlichen Anspruch nicht unterschätzt werden kann. Leider wird in dem Buch nicht dargestellt, wie die Rolle des Jokers in diesen dialogischen und non-direktiven Vorgängen besetzt wird. Weitere Verknüpfungen zieht Anne Keiner mit anderen Ansätzen der Theaterarbeit (Psychodrama, Theater der Lebendigen usw.) bzw. der Beratungsarbeit (TZI und Gestalt) und ordnet das Theater der Unterdrückten entsprechend ein.

Empowerment und Emanzipation

Abschließend widmet sich Anne Keiner den Empowerment- bzw. emanzipatorischen Ansätzen der beiden Arbeitsstile. Dies tut sie einerseits in einer großen Behutsamkeit und Achtung für die jeweilige Entstehungsgeschichte, andererseits in einer klaren eigenen Positionierung gegen die ideologisch unkritische Übertragung der politischen Haltung auf das jeweils andere System.

So untersucht sie kritisch die These, dass Unternehmenstheater Systeme stütze, die das Theater der Unterdrückten doch ideologisch hinterfrage. Dem stellt sie den möglichen Wunsch nach Veränderung und die Irritation des Neuen durch Ansätze des Theaters der Unterdrückten entgegen und plädiert für eine differenzierte Betrachtungsweise der Unternehmen im Hinblick auf ihre Motivation, Veränderungsprozesse einzugehen und auf die Funktionalität und Anregungsimpulse, die Methoden des Theaters der Unterdrückten liefern könnten. Im Hinblick auf die Beratung selbst sieht Anne Keiner eine grundsätzliche Parteilichkeit als Widerspruch zur systemischen Herangehensweise. Gleichzeitig fühlt sie sich der ethischen Herausforderung verbunden, dass Supervision immer ein emanzipatorisches Element innewohnt, einerseits die ganzheitliche Entwicklung der Supervisand*innen als Orientierungspunkt zu nehmen, andererseits gesellschaftliche Einflussfaktoren auf das Beratungssystem ernst zu nehmen und Möglichkeiten der Resilienz gegen diese Einflussfaktoren – innerhalb des gegebenen Rahmens – zu entwickeln. Zu Ambivalenzen und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren eigenen Kollegialen Beratungskreis – ein etabliertes Instrument zur Reflexion, das auch Anne Keiner als Unterstützungsmöglichkeit darstellt. Innerhalb dieses Spannungsfeldes kann das Theater der Unterdrückten sowohl die eigene ethische Positionierung unterstützen, als auch anwendungsorientiert Methoden für die Handlungsorientierung und das Empowerment der Klient*innen oder auch des gesamten Klientensystems liefern – im letzteren Fall sicherlich im Rahmen von umfassenderen Organisationsentwicklungsprozessen.

Anne Keiner hat ein schönes und gut lesbares Buch geschrieben. Die beiden Heimatländer ihrer Praxis – die systemische Supervision und das Theater der Unterdrückten – hat sie in ihrer jeweiligen Eigenheit nachvollziehbar dargestellt und dann – unter Zuhilfenahme weiterer Praktiken und Arbeitsansätze miteinander verflochten aber auch die Grenzen aufgezeigt. Mir war insbesondere die systematische und konkrete Darstellung des Theaters der Unterdrückten ein Genuss zu lesen. Die Bestandsaufnahme der Verknüpfungsmöglichkeiten von Theatralität und Beratung weisen eine anregende Bandbreite und vielerlei Übertragungsmöglichkeiten in die alltägliche Praxis auf.

 

Bibliografie

Anne Keiner: Das Theater der Unterdrückten als Impuls für eine emanzipatorische Supervision
Paperback, 162 Seiten, 19,90 Euro
Erschienen im Ibidem-Verlag: Berliner Schriften zum Theater der Unterdrückten

https://www.ibidem.eu/de/reihen/kultur/berliner-schriften-zum-theater-der-unterdrueckten.html

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