Verhakt zwischen Aufbruch und Widerstand
Seit über zehn Jahren arbeite ich als Innovationscoach und seit einigen Jahren auch als Mediator. In Innovationsprozessen begleite ich Teams aus beiden Rollen heraus durch lebendige und zuweilen aufreibende Phasen. Einerseits erleben sie eine ungeahnte Kreativität und Gestaltungskraft, andererseits sind diese Prozesse oft begleitet von Frustration und Konflikten. Immer wieder habe ich beobachtet, wie die Aufbruchsenergie, die solchen Prozessen innewohnt, auf Gegenkräfte in der Organisation trifft – und daran verpufft. Diese Dynamik hat mich in den ersten Jahren oft ratlos gemacht.
Heute verschärft sich dieses Spannungsfeld noch einmal deutlich: Die Welt verändert sich schneller, als viele Strukturen mithalten können – neue Technologien, veränderte Erwartungen, gesellschaftlicher Druck. Erneuerung ist überall gefordert, aber selten leicht.
Für die eine Seite wirkt das wie ein „Widerstand der Veränderungsunwilligen“, für die andere wie ein Infragestellen dessen, was sich bewährt hat – eine Störung vertrauter Routinen und Strukturen.
Erneuerung braucht Irritation, aber …
Aus der Beschäftigung mit Konflikt- und Gruppendynamiken verstehe ich heute: Erneuerung braucht Irritation und Störung – aber als komplementäre Qualität, nicht als Ersatz für Routine und Stabilität, die erfolgreiche Organisationen oft auszeichnen.
Kurt Lewin, Pionier der Organisationsentwicklung, hat das Zusammenwirken beider Qualitäten in seinem „Model of Change“ eindrücklich beschrieben: Unfreeze – Move – Refreeze. Erst werden durch Irritationen bestehende Muster aufgetaut, dann wird Neues erprobt und verstärkt, schließlich werden neue, „bessere“ Prozesse wieder verstetigt. Stabilität und Störung sind also keine Gegensätze, sondern Gegenspieler in einem zyklischen Tanz.
It’s the human, stupid – bei den Menschen liegt die Lösung
Es geht also um Balance. Doch wie lässt sie sich in Organisationen herstellen?
Aus meiner Sicht nicht in erster Linie durch fein abgestimmte Strategiepapiere, sondern durch die Menschen, die diese beiden Kräfte in sich tragen. Auf der einen Seite das Bedürfnis nach Ordnung und Kontrolle, auf der anderen Seite der Drang zum Spielen, Experimentieren, Neugierigsein.
Die Frage unserer Zeit lautet: Wie schaffen es Organisationen, Menschen dazu einzuladen, insbesondere Letzteres in ihre Arbeit einzubringen?
Schulz von Thun beschreibt das komplementäre Zusammenspiel solcher Qualitäten in seinem „Wertequadrat“. Beispiel: Strukturierte und kreative Menschen ergänzen sich in Balance wunderbar. Die einen schaffen den Rahmen, in dem Neues entstehen kann, die anderen füllen diesen Rahmen mit Ideen und Lebendigkeit. Tragisch wird es, wenn sich Menschen beider Haltungen voneinander entfremden oder gar bekämpfen – wenn die jeweiligen Seiten einander verstärken und in die „Übertreibung“ kippen (wie er es nennt): Struktur wird dann zur Kontrollwut, Kreativität zum Chaos.
Das geschieht vor allem unter Stress oder starkem Veränderungsdruck – in solchen Momenten fallen wir leichter in unsere gewohnten Reaktionsmuster zurück. Genau diese Dynamik habe ich in vielen Teams erlebt: In Innovations- und Transformationsprozessen stehen sich plötzlich polarisierte Lager gegenüber.
Durch die Verhärtung hindurch – hin zur Integration
Dabei ist die Polarisierung nach Schulz von Thun eigentlich ein wichtiger Vorgang in einer Auseinandersetzung. Eine „entpolarisierte“ Organisation oder Gesellschaft wäre starr und antriebslos. Polarisierung bringt Spannungen und Gegensätze an die Oberfläche, macht sie sichtbar – und erst so können sie in der Tiefe bearbeitet und integriert werden. Sie ist also ein notwendiger Zwischenschritt gemeinsamer Entwicklung.
Finden Menschen einer Gruppe jedoch keinen Weg, den „guten Kern“ in der jeweils anderen Position anzuerkennen, verharren sie in der Starre. Dann wird aus Spannung ein Ringen um Moral, Identität und Zugehörigkeit. In einer solchen Atmosphäre wird es immer schwieriger, über Veränderung in der Sache hart und zugleich respektvoll zu streiten – und es erschwert Organisationen (wie Gesellschaften), gemeinsam Wege zu finden, die von der Breite getragen werden.
Daher brauchen Organisationen Räume und geteilte Erfahrungen gelingender Dialoge, in denen die destruktive Kraft der Polarisierung überwunden wird. Räume, in denen anerkannt wird: Stabilität und Dynamik gehören zum natürlichen Zyklus von Entwicklung – und Vertreter:innen beider Qualitäten verdienen aufrichtige Wertschätzung.
Darin liegt ein erster, aber entscheidender Schritt, um jene lebendige Erneuerungsenergie zu entfachen, die wir heute so dringend brauchen.



