„Was wir im Kleinen praktizieren, setzt das Muster für das gesamte System“ – adrienne maree brown, emergent strategy / fractals
Die Schönheit der kleinen Dinge
Was mir in Check-ins und Gesprächen dieser Tage auffällt, ist die Kluft zwischen dem großen Ganzen und den kleinen Dingen des Alltags. Es ist ein schmerzhafter Spagat: Wir spüren, dass die Welt da draußen dringend unsere Aufmerksamkeit braucht, zugleich sind wir absorbiert von dem To Do-Gewimmel auf unserem Tisch. Der Raum dazwischen liegt im Nebel. Das Donnern am Welthimmel lässt unsere kleinen Dinge bedeutungslos erscheinen. Aber wir entscheiden uns nicht zwischen Tisch und Welt sondern sind schuldig zerrissen und unfähig, auf einer der beiden Ebenen ganz präsent zu sein.
Dabei ist die Körnchengröße der Dinge nicht zwangsläufig das Problem: Handlungsfähigkeit wohnt in konkreten kleinen Schritten; Veränderung beginnt mit winzigen Rissen im System. Bayo Akomolafe findet wie so oft feine Worte dafür:
„The world emerges with minor gestures written in the minor key. It’s not the categorical – it is the infinitesimally small, it’s the fugitive that makes for change”.
Im besten Fall werfen die kleinen Dinge ihren Schatten auf das große Ganze – nicht umgekehrt. Fraktale Verantwortung braucht keinen massiven Hebel; wir müssen lediglich das Gewimmel auf dem Tisch vor uns bewusst ausrichten und die Muster, die darin entstehen, mit Bedeutung versehen.
Was hier für die Ebene individuellen Handelns formuliert ist, berührt auch die Entwicklung organisationaler Strategien.
Ein bewegtes Mosaik
Strategie klingt immer ein wenig nach Abenteuer: Eine große Expedition, ein genialer Plan, eine geheime Tür zu neuen Ebenen des Erfolgs. Dabei wirkt Strategie umso banaler, je näher man ihr kommt. Sobald sie konkret wird, ist sie oft nur einen Steinwurf von einer High Level To-Do-Liste entfernt. Warum ist das so?
Am Wesentlichen ändert sich nichts, wenn sich die Alltagspraktiken und Routinen auf der Arbeitsebene nicht verändern. Die kleinen Dinge haben ihr eigenes Leben, das verstanden und respektiert sein möchte. Eine Kunst der Strategieentwicklung besteht darin, eine Vorstellung davon zu haben, wie diese kleinen Dinge ein neues Mosaik bilden und sich zu einem neuen Gesamtkunstwerk entwickeln können, dessen genaue Gestalt jetzt vielleicht noch gar nicht greifbar ist.
In diesem Sinne ist Strategieumsetzung eher mit Gärtnerei als mit Architektur vergleichbar: Praktiken, die keine Früchte bringen, werden zurückgefahren (Exnovation), Praktiken, die Wirkung zeigen und Potential versprechen, werden gestärkt und gepflegt (Innovation). Dieser Ansatz basiert auf kontinuierlichem „Strategizing“ – nicht auf einem smart verfassten Strategie-Papier.
Faciliating Emergence
Wenn wir Strategie in diesem Sinne als Verb verstehen, wer sind dann die Handelnden? Entwickeln wir das System oder entwickelt das System sich mit uns darin? Entscheiden wir uns für einen Plan, um unsere Ziele zu erreichen, oder ist Strategie – wie Henry Mintzberg es formuliert – schlicht „ein Muster im Strom der Entscheidungen“? Gehört Strategie in die Welt des Designs oder in die Welt der Emergenz?
Vielleicht liegt die Antwort genau in der Mitte: Das Wesen einer Strategie lässt sich am besten im Rückspiegel erkennen. Sie folgt Mustern, die absichtsvoll entwickelt sind, aber nicht vollständig mit dem übereinstimmen, was beabsichtigt wurde. Mintzbergs Aussage verweist darauf, dass wir Agency haben, Entscheidungen zu treffen, aber dass die Dinge definitiv nicht immer nach unserem Drehbuch ablaufen. Sie erinnert uns daran, Emergenz ernst zu nehmen und sie nicht als Störfaktor unserer heiligen Planung zu behandeln. Dieses Verständnis einer geteilten Agency von System und Designer liegt im Kern des Entwicklungsansatzes Facilitating Emergence.
Es gibt verschiedene Arten, sich auf diese doppelte Agency einzulassen. Dave Snowden beschreibt etwa das Konzept des Wayshaping (als praktische Anwendung der Constructor-Theorie). Wayshaping bedeutet, „die Landschaft selbst, ihre Potenziale und Möglichkeiten so zu verändern, dass gewünschte Pfade natürlich (und damit nachhaltig) entstehen und unerwünschte schwierig oder unmöglich werden“. Wayshaping setzt also bei der Modulation innerer Prozesse an, die das System strukturieren und (re)produzieren. Es arbeitet am Gerüst, das organisationales Verhalten ausrichtet.
Eine etwas unvermitteltere Spielart derselben Idee verfolgt der Ansatz der Promising Patterns. Hier werden nicht Rankgerüste, sondern emergente Praxismuster direkt beeinflusst und kontinuierlich moduliert.
Das Strategie-Sandwich
Die Idee der Promising Patterns rückt dabei Emergenz ins Zentrum eines „strategischen Sandwichs“:
Die obere Toastscheibe ist die mittelfristige Zielebene – die strategische Absicht (Strategic Intent). Für ihre Entwicklung gibt es gut beschriebene Prozesse und Methoden. Die Strategische Absicht beschreibt Qualitäten der gewünschten Zukunft, soll aber noch keine Blaupause für die Lösung aller aktuellen Probleme sein.
Vor dem Hintergrund der Strategischen Absicht und der daraus abgeleiteten Stoßrichtung geht es in der mittleren Ebene des Sandwichs darum, Muster zu entdecken (pattern gazing). Ein Muster ist eine nicht-zufällige Ordnung von Elementen in einem System. Es muss weder Harmonie noch Symmetrie aufweisen; die Regelmäßigkeiten, die seine Ordnung ausmachen, sind auch nicht immer sofort erkennbar. Muster lassen sich am besten mit einem leistungsfreien offenen Blick entdecken.
Bei der Mustererkennung suchen wir nach neuen gerade erst entstehenden Praxisclustern, die im Licht unserer strategischen Absicht gut zu funktionieren scheinen. Vielversprechende Muster können sich in Themen zeigen, die besondere Resonanz erzeugen; in Interventionen, für die sich überdurchschnittliche Wirkung abzeichnet und die Energie und Motivation freisetzen; oder in Ähnlichkeiten zwischen Partnerschaften und Projekten, die unerwartet positive Ergebnisse bringen. Wir suchen nicht nach isolierten Ereignissen oder Ausreißern, sondern nach den schwachen Signalen eines neuen, erfolgreichen Geflechts unserer Praxis. Mustererkennung ist keine Aufgabe für die Vorstandsetage, sie ist eine Aufgabe für alle.
Die untere Toastscheibe der Promising Patterns Strategie ist der Ort des kontinuierlichen Gärtnerns. In dieser Schicht werden vielversprechende Muster gestärkt und vervielfältigt. Muster, die sich als wirkungslos erweisen, werden dagegen gedämpft, indem Ressourcen- und Energieflüsse gedrosselt werden. Schritt für Schritt nimmt das organisationale Mosaik so die Qualitäten der strategischen Absicht an.
Die ständige Verschiebung von Ressourcen und Aufmerksamkeit, die aus dem Strategizing Prozess folgen, erfordert dabei auch neue Formen des Organisierens: Atmender Strukturen und vorläufige Ordnungen gehören zur Alltagsrealität der Promising Patterns.
Eine Besonderheit des Ansatzes ist das Verweben von Analyse und Intervention, von Gegenwart und Zukunft. Viele Strategieprozesse greifen auf Spielarten der SWOT-Logik zurück. Typischerweise werden dabei die Fähigkeiten der Organisation (Stärken & Schwächen) und die Dynamiken ihres Umfelds (Chancen & Risken) in zwei getrennten Schritten untersucht. Der Promising Patterns-Ansatz faltet beide in eins: Ein Vielversprechendes Muster weist auf eine entstehende Praxis oder Fähigkeit hin, die gut in das entstehende Umfeld der Organisation passt. Vielversprechende Muster sind Orte im System, wo die Gegenwart der gewünschten Zukunft ins Auge blickt.
Was ist anders?
Die beschriebene Architektur baut auf dem Ansatz der „Guided Evolution“ von Lechner & Bär (2008) auf. In diesem Prozess werden strategische Initiativen durch drei Phasen geleitet: Variation (Initiierung eines Portfolios vielversprechender Initiativen), Selektion (Unterscheidung, welche Initiativen gestärkt und welche beendet werden sollten) und Retention (Verankerung erfolgreicher Initiativen in organisationalen Routinen).
Der Hauptunterschied zwischen „Guided Evolution“ und dem Ansatz der Promising Patterns liegt im Grad der Intervention: Während Guided Evolution im Wesentlichen ein Managementkonzept ist, das mit Probes und Experimenten arbeitet (in Dave Snowdens Worten: mit stimulierter Emergenz), ist Promising Patterns ein Facilitation-Konzept – eine kontinuierliche, wertschätzende Erkundung, die das Potenzial natürlich emergenter Innovation nutzt.
Diese Qualität unterscheidet Promising Patterns auch von der Opportunity Driven Strategy (ODS). Die chancenorientierte Entwicklung legt den Fokus ebenfalls auf emergente Konstellationen im (internen und externen) Umfeld, hier geht es aber darum, in ihnen relevante Gelegenheiten zu erkennen und sich dafür fit zu machen, sie zu ergreifen. Solche strategischen Zugriffe bergen mindestens mittlere Risiken und erfordern die Bereitschaft zu unternehmerischer Disruption. Im Ansatz der Promising Patternssind die Risiken geringer und die Veränderung feinkörniger und fließender.
Die Frage, die sich hier naturgemäß anschließt ist: Kann der Promising Patterns Ansatz auch Disruption und tiefgreifende Transformation bringen? Disruptive Veränderungen werden oft besungen und bewundert – in der Regel verursachen sie so viel Kollateralschaden, dass man sie sich nur leisten kann, wenn man tiefe Taschen und einen langen Atem hat, um Beziehungen neu aufzubauen. Im Gegensatz zu radikalen Veränderungsprojekten und großen Richtungswechseln, wie sie viele Unternehmen und Stiftungen im letzten Jahrzehnt durchlaufen haben, folgt die strategische Entwicklung anhand von Promising Patterns einer kontinuierlichen sanften Umlenkung von Praktiken, die kumuliert ihre ganz eigene Art tiefer und nahhaltiger Transformation erwirkt.
Wo drastische Schritte und schnelle fundamentale Entscheidungen gefragt sind, bieten Promising Pattern und der Ansätze des Facilitating Emergence vielleicht nicht die beste Antwort. Wo hingegen Transformation als kontinuierlicher organischer Prozess verfolgt wird, birgt der Ansatz großes Potenzial.
Original Version (Englisch) in lost-navigator.net



