Trauma und sekundäre Traumatisierung in klassischen und unerwarteten Arbeitssettings

Trauma und sekundäre Traumatisierung in klassischen und unerwarteten Arbeitssettings

Zusammenfassung

Der Text behandelt das Thema Trauma und Traumatisierung in verschiedenen Arbeitsumfeldern. So zeigt sich das Phänomen Traumatisierung mit seinen Folgen und Auswirkungen sowohl intra- als auch interpersonell sowie in Kontexten, die bislang nicht oder kaum darauf vorbereitet waren. Mitarbeitende können solche Erfahrungen als Überforderung erleben und auf unterschiedliche emotionale und körperliche Weise reagieren. Im Text wird zunächst der Anlass für die Beschäftigung mit diesem Thema benannt. Sodann werden die verschiedenen Traumata-Ebenen, die Einflussfaktoren und Wirkungen vorgestellt. Und schließlich wird erörtert, wie im Arbeitskontext damit umgegangen werden kann.

Die unerwartete Erfahrung

Sie weinen. Sie sind aggressiv – in ihrer Haltung, in ihrer Sprache. Sie sind verstört. Sie wollen ihre Geschichte erzählen, ausführlich, gefragt und ungefragt. Sie wollen Aufmerksamkeit. 

Darauf waren die Mitarbeitenden der Stiftung nicht vorbereitet. Dafür sind sie auch nicht ausgebildet. Sie sind herausgefordert, manchmal überfordert. Und reagieren unterschiedlich: mit Furcht vor direktem Kontakt; mit Gereiztheit, Frustration, Zynismus, Erschöpfung. Oder es zeigen sich körperliche Symptome: von Verspannungen bis hin zu Schlafstörungen. Und es bleibt das überwältigende Gefühl, der Situation und den Menschen nicht gerecht zu werden.

Wir waren eingeladen, eine Fortbildung zum Thema Verunsichernde Orte durchzuführen. Uns gegenüber saßen Mitarbeitende einer Stiftung, die sich mit einer spezifischen historischen Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg befasst. Und dazu u. a. eine große Ausstellung bietet. Die Mitarbeitenden kamen aus den Bereichen Bildung, Bibliothek und Archiv. Fast alle stehen immer wieder in direktem Kontakt zu Besucher:innen. Diese sehen sich die Ausstellung an, nutzen die Bibliothek oder fragen nach Unterlagen im Archiv, oft zur eigenen (Familien-)Geschichte. Andere nehmen telefonisch oder digital den Kontakt auf.

Wir änderten spontan das Programm und gestalteten die weitere Fortbildung zum Thema Trauma: Trauma in seinen verschiedenen Varianten wie der primären, der sekundären oder der intergenerationellen Traumatisierung. Und sprachen über das Thema Umgang mit Traumatisierten. Anschließend führten wir in die Methode Kollegiale Beratung ein. In kleineren Gruppen erprobten die Teilnehmenden die Methode. Und erarbeiteten sich auf diese Weise einen ersten kleinen Fundus an Handlungsmöglichkeiten für die unterschiedlichen herausfordernden Situationen.

Weder die Leitungskräfte noch die Mitarbeitenden waren auf Menschen mit Symptomen von Traumatisierung vorbereitet. Auch nicht darauf, was solche Begegnungen bei ihnen selber auslösen (auslösen kann).

Damit waren und sind sie nicht die einzigen. Erst in jüngster Zeit wird das Thema Traumatisierung auch in beruflichen Feldern, die davon bislang scheinbar unberührt waren, wahrgenommen.

Wie es der Zufall will, ergaben sich im Anschluss an die oben genannte Fortbildung weitere Aufträge anderer Institutionen zum Inhalt Traumatisierung und Folgewirkungen. So führten wir eine große interne Befragung unter dutzenden Doktorand:innen durch, in deren Forschungsthema auch Gewalt vorkommt – sowohl bei historischen als auch bei gegenwartsbezogenen Forschungsthemen. Und wir realisierten weitere Fortbildungen für Institutionen, deren Mitarbeitende ebenfalls nicht auf die Begegnung mit Traumatisierungen gefasst waren.

Bevor wir im Folgenden einige Grundlagen zum Thema Trauma und Traumatisierung vorstellen, hier noch ein Hinweis: Der Begriff „traumatisiert“ ist zu einem häufig verwendeten Begriff in der Alltagssprache geworden. Oft, um ärgerliche oder lästige Erfahrungen zu bezeichnen. Z. B.: „Ich bin allmählich traumatisiert, die S-Bahn hatte schon wieder Verspätung.“ Davon unterscheidet sich der klinische Begriff fundamental. 

 

 

Grundlagen zum Thema Trauma

Die Deutsche Traumastiftung definiert Trauma als „ein belastendes Ereignis oder eine Situation, die von der betreffenden Person nicht bewältigt und verarbeitet werden kann. Es ist oft Resultat von Gewalteinwirkung – sowohl physischer wie psychischer Natur. Bildhaft lässt es sich als eine „seelische Verletzung“ verstehen.“ Beschrieben wird hier die Primäre Traumatisierung. Das Adjektiv „traumatisiert“ bezieht sich auf diesen psychischen Zusammenhang.

Das klinische Klassifikationssystem ICD-10 formuliert als Traumakriterium:

„[…] ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde (ICD-10) (z.B. Naturkatastrophe oder menschlich verursachtes schweres Unheil – man-made disaster –, Kampfeinsatz, schwerer Unfall, Beobachtung des gewaltsamen Todes Anderer oder Opfersein von Folter, Terrorismus, Vergewaltigung, Misshandlungen oder anderen Verbrechen)“. Und weiter: 

 

Dieses Ereignis

  • löst extremen Stress, Gefühle des Entsetzens, der Hilflosigkeit und des Kontrollverlusts aus; sowohl, wenn jemand selbst von dem Ereignis betroffen ist, als auch als Augenzeug:in, wie andere Menschen Opfer eines solchen Ereignisses werden
  • bewirkt die Verletzung der persönlichen Grenze und einen Vertrauensverlust in die Mitmenschen, in die Technik oder in die Umwelt

Trauma

Der Begriff „Trauma“ entstammt dem altgriechischen τραύμα: Wunde/ Verletzung. Im Plural: „Traumata“, “Traumen“. 

ICD 10

International Classification System of Diseases. Die ICD-10 ist die 10. Revision der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Sie dient der Verschlüsselung medizinischer Diagnosen. (Am 1. Januar 2022 ist die ICD-11 mit weiteren Krankheitsdiagnosen in Kraft getreten. Nach einer Übergangszeit von mindestens 5 Jahren soll die Kodierung nur noch nach ICD-11 erfolgen.)

  • und schließlich gelingt aufgrund der regelrechten Überflutung des Gehirns durch solch eine überwältigende Stressreaktion keine angemessene Verarbeitung des Erlebten; die gemachte Erfahrung lässt sich nicht wie gewohnt in den Erlebnisschatz integrieren und es ist nicht möglich, davon wieder Abstand zu gewinnen. In der Konsequenz dieser Überforderung des angeborenen biologischen Stresssystems kommt es zu seelischen, eventuell auch körperlichen Folgen.

Um von einem Trauma im klinischen Sinn auszugehen, müssen also folgende drei Kriterien erfüllt sein:

  1. Das Ereignis stellt eine existenzielle Bedrohung dar und würde von den meisten Menschen als schwere Bedrohung erlebt.
  2. Die Betroffenen sind mit der Verarbeitung des Erlebten überfordert und haben ihre persönlichen Möglichkeiten ausgeschöpft.
  3. Das Ereignis hat eine nachhaltige Auswirkung auf die Betroffenen, Leid und Beeinträchtigung der Alltagsbewältigung sind die Folgen.

Doch nicht jedes belastende Erlebnis bewirkt bei den Betroffenen eine Traumatisierung. Dazu unten weiter mehr.

Festhalten zum Phänomen Trauma lässt sich:

  • Ein psychisches Trauma kann jeden Menschen treffen
  • es ist ein extrem bedrohliches Ereignis 
  • es übersteigt unsere Bewältigungsmöglichkeiten 
  • ein Mensch kann das Ereignis (1) als Opfer, (2) als Zeug:in oder (3) indirekt erleben (z.B. über visuelle oder schriftliche Berichte verstörender Ereignisse oder die Konfrontation mit traumarelevanten Reizen im Rahmen der beruflichen Tätigkeit) 
  • das Ereignis erzeugt starke unangenehme Emotionen wie z.B. Angst, Hilflosigkeit, Ohnmacht 
  • das Ereignis würde so ziemlich jeden anderen Menschen ebenfalls in Verzweiflung stürzen 
  • das Ereignis erschüttert das Selbst- und Weltverständnis nachhaltig 
  • Traumata können eingeteilt werden nach Häufigkeit oder Ursache
  • Traumata können unterschieden werden in 
    • Schocktrauma: ein einzelnes abgegrenztes Ereignis, das meist gut im Gedächtnis geblieben ist
    • Entwicklungstrauma: zumeist hoher, über längere Zeit anhaltender Stress; oftmals damit verbunden, sich nirgends sicher zu fühlen
    • Soziales Trauma: ein Ereignis, das viele Menschen betrifft (z. B. Zugunglück) 
    • Trauma-Reaktivierung im Alter (siehe unten)
    • transgenerationales Trauma (siehe unten
    • Sekundärtrauma oder indirektes Trauma (siehe unten). 

PTBS

Die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) tritt als eine verzögerte psychische Reaktion auf. Typisch    für die PTBS sind die sogenannten Symptome des Wiedererlebens, die sich den Betroffenen tagsüber in     Form von Erinnerungen an das Trauma, Tagträumen oder Flashbacks, nachts in Angstträumen aufdrängen. Eine PTBS tritt teilweise erst nach langer Zeit auf.

Als Symptome und Traumafolgen gelten:

  • Hypervigilanz (ständige Übererregung): hohe Spannung, Schlaflosigkeit, Essen zur Beruhigung, Substanzmissbrauch (Sucht), innere Unruhe, Angst und Panikzustände, Panikattacken, Konzentrationsschwierigkeiten, Wutanfälle, Hyperaktivität, Sprunghaftigkeit
  • Flashbacks (Erinnerungen, die den Menschen einholen, als würde die Situation nochmals erlebt werden) 
  • Zwangsstörungen, Depression, Angststörungen
  • bei Untererregung: Erschöpfung, Kraftlosigkeit, Lustlosigkeit, gestörtes Essverhalten, Substanzmissbrauch (Sucht), Gefühl von Sinnlosigkeit, Abgeschnittensein, sich anders und fremd fühlen
  • sehr häufig treten aber auch subtilere, weniger eindeutige Symptome auf.
Traumata lassen sich im Kontext betrachten:
  • Traumata, die als Gruppe erlebt werden, sind leichter zu überwinden als solche, bei denen das Gefühl besteht, „mir allein“ ist es widerfahren
  • ein traumatisches Ereignis ist zudem leichter zu bewältigen bei schicksalshaften Ereignissen oder zufälligen Katastrophen, z. B. bei Naturkatastrophen
  • viel schwieriger ist es, wenn das Trauma von einem anderen Menschen – vielleicht sogar von einem nahestehenden/ vertrauten Menschen – verursacht wird („man made trauma“)
  • dauerhafte Traumatisierungen, d. h. mehrfache oder langandauernde Wiederholung, führen häufiger zu einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) als ein einmaliges Erlebnis
  • die Wirkungen sind ferner abhängig von persönlichen Faktoren (soziales Netzwerk, allgemeine psychische Verfassung, Lebensalter, Vorbelastungen, Ressourcen)
  • in vielen Fällen verschwinden nur wenige Wochen nach einem alleinigen Ereignis die akuten Belastungsreaktionen, ohne dass die betroffene Person viel dazu tun muss. Oft reicht schon ein Sicherheit gebendes Umfeld aus, damit die Psyche/ die Seele und der Organismus zur Ruhe finden und die betreffende Person die Kontrolle über das eigene (Er)Leben wiedererlangt.

Frühere Traumata können im Alter reaktiviert werden:

Oft gelingt es Menschen aufgrund ihrer zur Verfügung stehenden Kräfte und den ihnen gestellten Aufgaben, auch nach einem Trauma ein mehr oder weniger normales Leben zu führen. Die Bewältigungsstrategien sind ausreichend, um mit der Belastung umzugehen. Die Versorgung der eigenen Kinder, die Pflege von Angehörigen oder die beruflichen Anforderungen bedingen, dass der Fokus auf andere wichtige Lebensbereiche gelenkt ist; dadurch gerät das Trauma für eine Zeit, manchmal für Jahre, in den Hintergrund.

Mit zunehmendem Alter kommt es jedoch zur Abnahme der Ressourcen (Bewältigungsmechanismen), z.B. durch weitere Gebrechen, Erkrankungen oder andere Belastungen. Wenn eine kritische Schwelle überschritten wird, kann es sein, dass die Bewältigungsmechanismen nicht mehr ausreichen. Dann werden für die Betroffenen plötzlich Trauma-Erinnerungen sehr präsent und es können sich Traumafolgestörungen entwickeln, inkl. gesundheitlicher Symptomatik oder sozialer Probleme. Dann können auch eigentlich alltägliche Signale – Gerüche, Geräusche, bestimmte Situationen – die Ängste von früher wieder aktivieren (Trigger) und die betroffene Person überwältigen. Hier geschieht eine Reaktivierung des Traumas. Und manchmal geschieht es, ohne dass eine konkrete Erinnerung an das verursachende Ereignis besteht. 

Diese Reaktivierung betrifft vor allem Menschen ab dem 65. Lebensjahr. 

Eine weitere Traumaebene ist die Transgenerationale Traumaweitergabe: 

Wichtige Erkenntnisse liefert hier die Epigenetik. Die Epigenetik beschäftigt sich mit dem Zusammenspiel von Umwelt und Genetik. Demnach können äußere Faktoren Gene beeinflussen und sie auch an- und ausschalten. So kommt es, dass Vorfahren ihre Erlebnisse über ihre veränderten Gene an ihre Nachkommen weitergeben. Die Nachfahren tragen z. B. Ängste, Selbstzweifel oder Scham in sich, ohne die Gründe oder Zusammenhänge zu verstehen. 

Das heißt nicht, dass eine Traumafolgestörung bei den Nachkommen vorherbestimmt ist (jeder Mensch hat außerdem zwei Elternteile), aber es kann eine gewisse Verletzlichkeit (Vulnerabilität) gegeben sein.

Sexualisierte Gewalt

Von sexualisierten Gewalterfahrungen geht oft ein doppeltes Leiden aus: Das Thema der sexuellen Gewalt wurde damals verschwiegen und ist auch heute noch für die oder den Betroffenen schambesetzt – das kann die Verarbeitung oder Bearbeitung des Traumas massiv erschweren. 

PTBS im Alter

Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) sind überdurchschnittlich häufig bei älteren Patient:innen zu finden.

Sekundäre Traumatisierung

Ferner existiert die Sekundäre Traumatisierung, auch „indirekte“ Traumatisierung genannt:

Sekundäre Traumatisierung beschreibt eine Traumatisierung, die ohne direktes eigenes Erleben des Ausgangstraumas entsteht. Sie kann sich durch viel oder regelmäßigen Kontakt mit traumatisierten Personen und/ oder ihren Angehörigen entwickeln. Oder sie entsteht durch die – in der Regel ebenfalls häufige oder wiederkehrende – Beschäftigung mit visuellen, auditiven oder schriftlichen Zeugnissen belastender Ereignisse wie Gewaltverbrechen, Naturkatastrophen oder Kriegen. Die betroffenen Personen zeigen dabei Symptome, die denjenigen Symptomen von Menschen mit primärer Traumatisierung gleichen. Eine sekundäre Traumatisierung entwickelt sich in der Regel allmählich. 

Sekundäre Traumatisierung geschieht zumeist im beruflichen Kontext. Nach gegenwärtigem Forschungsstand sind Berufsgruppen wie Psychotherapeut:innen, Supervisor:innen und z. B. Polizist:innen davon betroffen; sowie allgemein Angehörige helfender Berufe wie Feuerwehrleute, Notfallhelfer:innen, Sozialarbeiter:innen, Pflegekräfte. Aber auch Archivar:innen, Journalist:innen und Wissenschaftler:innen können betroffen sein. Geschichtswissenschaftler:innen etwa beschäftigen sich beispielsweise jahrelang mit denselben grausamen Verbrechen, sprechen ausgiebig mit Zeug:innen, bearbeiten ungeschöntes Bild- und Tonmaterial. Oder Archivar:innen erfassen Unterlagen zu Strafprozessen, in denen es um Gewalthandlungen aller Arten geht. (Vergleiche auch: https://intrapsychisch.de/sekundaere-traumatisierung)

Wieso einige Menschen im beruflichen Kontext eine sekundäre Traumatisierung entwickeln und andere nicht, hängt neben der beruflichen Aufgabensituation auch von der jeweiligen Person und deren Lebensumstände ab.

So verfügen Personen mit sekundärer Traumatisierung zumeist über eine mitfühlende Haltung: Im Gehirn entsteht eine emotionale Reaktion auf das geschilderte oder dokumentierte Ereignis. Dabei werden dieselben Stresshormone ausgeschüttet wie bei den Personen, die das Trauma direkt erleben. 

Eine Rolle spielen ferner Faktoren wie die Resilienz bzw. vorhandene oder nicht ausreichend vorhandene Bewältigungsstrategien, der jeweilige situative Kontext, das soziale Umfeld und eigene Traumaerfahrungen der beteiligten Person. Und schließlich entwickeln Gewaltdarstellungen von Menschen an Menschen (man made trauma/ man made disaster) zumeist mehr verstörende Kraft als z. B. Naturkatastrophen.

Den größten Risikofaktor allerdings bildet eine dauerhafte Beschäftigung mit einem traumatischen Inhalt, wobei dieser traumatische Inhalt variieren kann. 

Friedrich Nietzsche formulierte es so: „Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“

Traumasensibel im Arbeitskontext:

Gegenwärtig diskutiert und zum Teil eingefordert wird ein traumasensibler Umgang miteinander im Arbeitszusammenhang. Konkret bedeutet dies, „auch ohne Kenntnis über eventuelle Traumatisierungen eines anderen Menschen traumabewusst, traumalindernd und Retraumatisierung vermeidend zu arbeiten und allen Personen, mit und ohne Traumaerfahrungen, so zu begegnen, in Zusammenarbeit und Dialog zu treten, sie zu begleiten“.

Zu vermeiden gilt dabei eine vorschnelle Zuschreibung wie „Sie ist traumatisiert„ und daraus sofort einen Handlungsauftrag abzuleiten. Auch wenn eine Person Symptome zeigt, die eventuell auf eine Traumatisierung hindeuten. Im Rahmen eines im Frühjahr 2024 bei SOCIUS durchgeführten Labors zeigten sich folgende Fragen als hilfreich, um die jeweils eigene (Handlungs-)Perspektive zu schärfen:

  • Handelt es sich um eine tatsächliche Diagnose oder um meine individuelle Einschätzung?
  • Was ist der konkrete Gruppen-, Team- oder Organisationskontext?
  • Was ist hier mein Auftrag?
  • Ist hier, in meinem Mikrokontext, der richtige Ort/ der richtigen Rahmen für eine Intervention meinerseits?
  • Und was kann ich überhaupt halten bzw. bin ich hier wirklich kompetent?

Mögliche eigene Reaktionen bzw. Interventionen lassen sich außerdem im Rahmen interner oder externer Beratung reflektieren. Intern kann dies in Form eines vertraulichen Gesprächen mit Kolleg:innen, Vorgesetzten, Personalverantwortlichen und – sofern vorhanden – Gesundheitsbeauftragten geschehen; oder mithilfe der ebenfalls vertraulichen Instrumente Kollegiale Beratung und Supervision. Ich kann aber auch externe Beratung in Anspruch nehmen, z. B. bei Krisendiensten wie dem Berliner Krisendienst oder der Telefonseelsorge. Auf diese Weise werde ich aktiv und übernehme ich Verantwortung bei zugleich größtmöglichem Schutz der betreffenden Person sowie meiner selbst. Und letzteres ist schließlich auch wichtig.

sinnvoll zusammen wirken

Erkundungsreise – Was haben wir Neues über uns entdeckt?

Erkundungsreise – Was haben wir Neues über uns entdeckt?

Am 19. August kam eine feine kleine Gruppe zusammen, um sich auf drei Ebenen mit den Wirkungen der Pandemie auf das eigene Leben zu befassen: der Ebene des Individuums, der Ebene der Organisation und schließlich der Ebene der Gesellschaft. Der Ansatz war ressourcenorientiert. Im Fokus standen dabei folgende Fragestellungen:

  • Was hat sich verändert?
  • Welche Erkenntnisse haben wir über uns selbst in unseren privaten und beruflichen Kontexten sowie in Hinblick auf gesellschaftliche Veränderung gewonnen?
  • Welche gesundheitlichen, mentalen und emotionalen Ressourcen haben wir durch die Erfahrungen der Pandemie für uns neu entdeckt oder gestärkt?
  • Was heißt das für unser weiteres Handeln?

Die Reflektionen waren eingebettet in unterschiedliche Methoden aus der Körperarbeit, der Stressbewältigung und der Resilienzforschung. Jana Hornberger und Kerstin Engelhardt als intergenerationelles SOCIUS-Team leiteten das Labor an.

Der Einstieg erfolgte über die Aufgabe: „Nenne ein Erlebnis aus den vergangenen zwei Monaten, für das du dankbar ist“. Anschließend erläuterten Jana Hornberger und Kerstin Engelhardt ihre Perspektiven, in welche sie die Labor-Fragestellungen einordneten. Den größeren Kontext bildeten dabei die schnellen gesellschaftlichen Veränderungen durch Globalisierung, technologische Entwicklungen und Digitalisierung. Den konkreteren, aktuellen Kontext bildeten die Pandemie und der Klimawandel mit ihren Anfragen an das menschliche Handeln.

Weiter ging es mit einer paarweisen Körperübung mit jeweils 1,50 Meter langen schmalen Holzstäben zum Thema: „Einlassen und Kontakt – Nähe und Distanz / Nähe mit Distanz?“ Die Holzstäbe bildeten dabei eine Art Verlängerung der Arme. Die Paare hielten die Stäbe gemeinsam so über ihre Finger, dass zwischen ihnen eine feste Verbindung bestand, und bewegten sich dann im Raum, nonverbal (mit Corona-Abständen). Wie sie das taten und wer jeweils das Tempo und die Figuren vorgab, blieb ihnen überlassen.

Nach dieser Interaktion auf der Paarebene und einer kleinen Reflektion wechselten die Teilnehmenden auf die Individualebene. Nun beschäftigten sie sich einzeln mit der Frage: „Die Pandemie und ich: Wie ging es mir in der Pandemie?“ Dafür erhielten sie jeweils zwei kleine Pappschachteln sowie Papier, beides in zwei unterschiedlichen Farben, ferner jeweils eine Schere. Die Aufgabe lautete, die Schachteln mit Zetteln zu folgenden Fragen zu füllen (pro Zettel ein Aspekt):

  • Was war schwierig / belastend?
  • Was war gut? Und was war mein Beitrag dazu?

Anschließend teilten die Teilnehmenden Aspekte, Eindrücke oder entstandene Fragen der Runde mit. Hier zeigte sich eine große Bandbreite an Erfahrungen sowie Bewertungen der Erfahrungen. Das Spektrum reichte von (sinngemäß) „Ich habe mein Berufsfeld in der Pandemie komplett verloren und es ist unklar, ob es sich wieder aufbauen lässt“ bis „Meine Familie und ich sind dann nach einer ersten schwierigen Phase sehr gut damit klargekommen; wir waren nicht einmal krank und ich stehe sowieso nicht auf so viel körperliche Nähe und Enge – mir gefallen die Abstandsregeln und ich werde auch weiterhin Maske tragen“.

Diskutiert wurde sodann, welche Erkenntnisse und Strategien sich aus den je eigenen Umgangsweisen mit der Pandemie ableiten lassen. Besprochene Aspekte waren hier u. a.: Unsicherheit und Nicht-Planbarkeit erfordern ein hohes Maß an Anpassungsfähigkeit, Flexibilität und Pragmatismus – es ist wie es ist, und irgendwie müssen wir damit umgehen. Hilfreich können, je nach Situation, auch Risikobereitschaft und Mut zur Investition sein, auch und gerade in sich selbst, ganz nach dem Motto: Wenn nicht jetzt, wann dann?

Die Schachteln mit ihrer Pandemie-Bilanz behielten die Teilnehmenden und nahmen sie am Ende mit nach Hause – was ihnen sichtlich Freude bereitete.

Der nächste Schritt vollzog den Übergang zwischen den Ebenen Individuum und Organisation. Die Teilnehmenden befassten sich anhand der Methode „Energietanker“ (s. Abbildung) mit den Kräften, die jeweils Energie ziehen, und den Kräften, die jeweils Energie für das eigene Leben spenden. Bezogen auf die Ebene Gesellschaft – Beruf, Ehrenamt, zivilgesellschaftliches/ politisches Engagement – erarbeiteten die Teilnehmenden schließlich Antworten zu folgenden Fragen:

  • Was ist zurzeit mein größter Einflussbereich?
  • Wieso gerade dieser?
  • Wie übe ich den Einfluss aus?
  • Wo hätte ich gern mehr Einfluss?

Die Einzelnen stellten ihre Ergebnisse in der Runde vor. Wer wollte, erhielt von den anderen Anwesenden eine Resonanz. Alle wollten und es entspannten sich schöne, unterstützende Gespräche.

Die Rückmeldungen der Teilnehmenden zu dem Labor fielen sehr positiv aus, alle äußerten sich motiviert, die erarbeiteten nächsten Schritte in die Praxis umzusetzen. Es hätte noch ein bisschen mehr Körperarbeit sein dürfen, so eine weitere Aussage – hier, so reflektierten Jana Hornberger und Kerstin Engelhardt anschließend, zeigte sich bei ihnen (noch) eine Unsicherheit, welche und wieviel Körperarbeit mit Gruppen in geschlossenen Räumen angesichts der Pandemiesituation schon möglich und sinnvoll ist.

sinnvoll zusammen wirken

Weiterhin die Welt ein kleines bisschen besser machen

Weiterhin die Welt ein kleines bisschen besser machen

In unserer neuen Kategorie „SOCIA Ausblicke“ wollen wir versuchen regelmäßig unser Augenmerk auf die Situationen von Frauen* im Arbeitsleben in NGOs, im Beratungsgeschäft und in Führungsverantwortung zu richten.

Teil davon wird eine Interviewreihe sein, in der hier Kerstin Engelhardt den Auftakt macht.

 

Kerstin Engelhardt, 59 Jahre; Beraterin, Coach und Supervisorin

  • Was ist deiner Meinung nach der beste Weg eine Gesellschaft zu verändern? Bündnispartner*innen finden; Gespräche und Aktionen
  • Wie bist du zu deinem jetzigen Job gekommen?  Ich bin von socius nach der Teilnahme an einer Fortbildung gefragt, ob ich als Selbstständige einsteigen möchte (war damals auf der Suche nach einer beruflichen Alternative zu meinem Job). Jetzt bin ich außerdem als Beraterin im Ev. Kirchenkreis Spandau: öffentliche Stellenausschreibung, ich kam von Außen.
  • Was möchtest du mit deinem Job erreichen? Weiterhin die Welt ein kleines bisschen besser machen.
  • Welche Beruf wolltest du lernen als du ein Mädchen* warst?  Erst Lehrerin; dann Kriminalkommissarin, die sich mit Verbrechern wilde Verfolgungsjagden liefert.
  • Wen oder was bewunderst du?  Meine Vorbilder, jeweils in spezifischen Punkten: Simone de Beauvoir und Hannah Arendt; Nelson Mandela, Miriam Makeba und Desmond Tutu; Rosa Luxemburg und Clara Zetkin; Frida Kahlo, Hannah Höch und Louise Bourgoise; Angela Merkel in ihrem unaufgeregten Politikstil und ihrer Nicht-Korrumpierbarkeit.
  • Wie sieht dein Traum von einer besseren Welt aus?  Abwesenheit von Gewalt und Armut; Gleichwertigkeit aller Menschen und gleiche Rechte und Möglichkeiten für alle Menschen im Rahmen eines demokratischen Systems; ein gesundes, intaktes Ökosystem
  • Was bedeutet Erfolg für dich?  Im Sinne meiner Zielsetzungen und meines Wertesystems wirksam/ hilfreich zu sein für andere und für die Umwelt; gut für mich zu sorgen, beruflich wie privat.
  • Aus welchem Fehler hast du am meisten gelernt? Nicht dem eigenen Gefühl/ dem eigenen Einschätzungsvermögen zu vertrauen.
  • Siehst du dich als Vorbild?  Manchmal ja, manchmal nein.
  • Hast du einen Grundsatz nach dem du lebst? 1) „Was du nicht willst, dass mensch dir tu‘, das füg auch du niemandem zu“. 2) Reden und Handeln sollten möglichst übereinstimmen.
  • Was bedeutet Feminismus für dich?  Eine – auch mal streitbare – Lebenshaltung und -praxis.
  • Lebst Du Feminismus in Deinem Team/ Arbeitsbereich? Wenn ja, wie? Indem ich für mich und ggf. auch für andere Frauen und für Benachteiligte / Diskriminierte einstehe; indem ich gerecht spreche und handle und ggf. Gerechtigkeit einfordere.
  • Wie versuchst du die Sichtbarkeit von Minderheiten in deinem Team/Deinem Arbeitsbereich zu verbessern? Indem alle gleichermaßen Gehör finden und Raum zum Sprechen bekommen; indem ggf. auch mal ein geschützter Raum zur Verfügung gestellt wird; indem auf Macht- und Einflussebenen sowie auf Sensibilitäten genau geachtet wird.
  • Welche familienfreundliche Maßnahmen konntest du/würdest du gern in deinem Team /Deinem Arbeitsbereich umsetzen? Kinderbetreuung vor Ort; Unterstützung im Fall pflegebedürftiger Angehöriger; Bedingungen und Anreize schaffen, die auch Männer dazu bringen, sich den Frauen vergleichbar / im selben Umfang bei Familienarbeit, Haushalt und Kinderbetreuung zu engagieren bzw. engagieren zu können.
  •  
  • Was möchtest Du jüngeren Frauen und Berufsanfängerinnen mit auf den Weg geben? Sich selbst zu vertrauen; den Mut haben, auch mal unbequem zu sein; sich ggf. Unterstützung suchen – Mentor*innen, ein gleichgesinntes Netzwerk, professionelle Beratung.

 

sinnvoll zusammen wirken

„Ich entschied: Ich engagiere mich im Prozess.“

„Ich entschied: Ich engagiere mich im Prozess.“

Dokumentation des OE-Prozesses bei pro familia Landesverband Berlin e.V.

 

„Nicht alle haben sich an den Gruppenprozessen, die dann zu den Entscheidungen führten, beteiligt, aber ein relevanter Teil. Von dem anderen Teil gab es die Erlaubnis, die Entscheidungen zu treffen.“ (2018)

„Die Probleme sind teilweise gelöst.“ (2019)

„Wir sind gerade dran … Bereich Digitalisierung. Mit allem anderen bin ich rund zufrieden.“ (2021) –

So lauten einige Stellungnahmen von Prozessbeteiligten für diese Dokumentation. Eine Dokumentation, die zugleich eine Evaluation darstellt und aufzeigt, was die Beteiligten als gelungen und als schwierig beurteilen.

Der Anlass

Große Unzufriedenheit, vielfältige Konflikte bis hin zu Mobbingvorwürfen und Arbeitsgerichtsprozessen und schließlich ein hoher Krankenstand unter den Mitarbeitenden – das war die Ausgangslage, als Rudi Piwko und ich für den OE-Prozess engagiert wurden. Der Prozess, teilweise gefördert von unternehmens-wert:Mensch, begann 2017 und endete mit einer Überprüfung 2019. 2021 erfolgte ein kurzer Rückblick seitens der Geschäftsführung.

Es war ein schwieriger, alle Beteiligte herausfordernder Prozess, der von Beginn an stark auf Partizipation und Gestaltung durch die Mitarbeitenden setzte. Sämtliche Beschäftigte inklusive der Leitungskräfte sowie der komplette ehrenamtliche Vorstand waren eingebunden. Nicht alle konnten dem Prozess und dem Ergebnis etwas abgewinnen; aber die große Mehrheit nutzte die Möglichkeiten und engagierte sich bei der Entwicklung einer neuen Leitungs- und Kommunikationsstruktur. Am Ende entschieden sich die Beteiligten deutlich für das Modell von Shared Leadership und verlagerten die zentralen Entscheidungskompetenzen in eine Steuerungsgruppe. Die Geschäftsführung ist fester Bestandteil der Steuerungsgruppe, die übrigen Mitglieder können wechseln und repräsentieren verschiedene Bereiche der Organisation, die ebenfalls wechseln können. Das Modell lebt vom Engagement der Beschäftigten, ihrer Kompetenz im Aushandeln auch schwieriger Fragen und Situationen sowie ihrer Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen.

Die Leitungsebene

Besonders viel abverlangt wurde den vormaligen Leitungskräften: Die mittlere Leitungsebene wurde komplett abgeschafft und zahlreiche alleinige Entscheidungsbefugnisse der Geschäftsführung eingeschränkt. Das bedeutete Macht- und Einflussverlust, zum Teil auch Statusverlust gegenüber Außenstehenden. Aber auch andere Machtpositionen, die sich einzelne im informellen Rahmen erobert hatten, wurden durch das neue Modell in Frage gestellt bzw. minimiert. Und schließlich können und mögen sich nicht alle Mitarbeitenden bei der internen Organisation engagieren oder Verantwortung dafür übernehmen. Während des gesamten Prozesses gab es daher immer wieder Widerstand und Rückzug, offen oder verdeckt. Dieser Widerstand, auch Rückzüge, konnten manchmal aufgelöst, manchmal aber auch schlicht nur akzeptiert werden.

Erfolgsfaktoren

Insgesamt war der Prozess erfolgreich. Folgende Faktoren haben wesentlich dazu beigetragen:

* Geschäftsführung und ehrenamtlicher Vorstand unterstützten den Prozess über den gesamten Zeitraum, die Vorständ*innen nahmen an allen wesentlichen Klausuren und Gruppentreffen teil, sofern es ihnen beruflich möglich war. Auch gegenwärtig ist jemand vom Vorstand an der Steuerungsgruppe beteiligt, wenn es beruflich machbar ist.

* Wir Berater*innen arbeiteten zu zweit und gemischtgeschlechtlich, verfügten dadurch über viel Kraft und boten den Beteiligten durch unsere verschiedenen Persönlichkeiten und manchmal auch differierenden Herangehensweisen unterschiedliche Andockflächen.

* Der Leidensdruck der Beschäftigten einerseits und die Bereitschaft zur Mitgestaltung andererseits war so hoch, dass von Beginn an wesentliche Teile der Beschäftigten ein großes Engagement zeigten.

* Die Beteiligten erarbeiteten sich das neue Leitungs- und Kommunikationsmodell selbst und entschieden sich dafür im Konsentverfahren – dadurch besteht eine hohe Identifikation mit dem Modell.

* Die meisten Beteiligten verfügen über das Bewusstsein, dass das gewählte Modell immer wieder zu überprüfen und gegebenenfalls anzupassen ist.

* Und schließlich nimmt die Geschäftsführung Supervision in Anspruch, wenn sie eine distanzierende Reflexion benötigt.

Die gesamte Dokumentation

Wer mehr über den Prozess mit seinen Höhen und Tiefen erfahren und mehr über die verschiedenen Einschätzungen der Befragten wissen möchte, kann hier die gesamte autorisierte Dokumentation lesen.

Für mich und meinen Kollegen Rudi Piwko war es jedenfalls ein spannender und sehr lehrreicher Prozess, der uns so manches Mal Kopfschmerzen bereitete, aber auch immer wieder große Freude.

Kerstin Engelhardt

Sinnvoll zusammen wirken

Weiterhin die Welt ein kleines bisschen besser machen

SOCIA Ausblicke: „Ich möchte etwas Sinnvolles tun“ – Frauen in Non-Profit-Organisationen

Ein persönliches Vorwort

Der Beginn

Ich war Berufsanfängerin, als ich 1991 von Berlin nach Bayern zog, um dort eine Projektstelle im Kontext der KZ-Gedenkstätte Dachau anzutreten. Das Ziel war der Aufbau einer Internationalen Jugendbegegnungsstätte. Mein Arbeitgeber, der Förderverein für Internationale Jugendbegegnung und Gedenkstättenarbeit in Dachau e. V., kämpfte schon eine Weile für dieses Vorhaben, gegen den zum Teil erbitterten politischen Widerstand der CSU und eines Teils der Dachauer Bevölkerung. Über die Stiftung Jugendmarke konnte nun eine mehrjährige entsprechende Projektstelle finanziert werden. Ich war von dem Vorhaben und der Stellenbeschreibung begeistert, ließ mich von einem Freund für das Bewerbungsgespräch coachen und nahm dann mit Freude die Stelle an.

Der Vereinsvorstand bestand damals aus 12 Personen. Ich, eine Historikerin frisch von der Uni, aber mit Erfahrung in Antirassismus- und Jugendarbeit, war die einzige Angestellte. Unterstützung in der praktischen Arbeit bekam ich durch eine Honorarkraft (einen Tag die Woche) sowie durch Freiwillige der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste.

Meine Aufgabe lautete, Konzepte für die vor allem internationale Bildungsarbeit an der Gedenkstätte weiter zu entwickeln und zu erproben, da die Gedenkstätte damals noch über keine eigene Bildungsabteilung verfügte; ferner galt es Zeitzeug*innen zu betreuen, die Internationale Jugendbegegnungsstätte politisch durchzusetzen und schließlich klassische Vereinsorganisation zu leisten.

Ich war jung, hochgradig motiviert und reichlich aufgeregt ob der anspruchsvollen Aufgabe und des neuen Lebensumfeldes. Und tatsächlich entwickelten sich die Jahre in Dachau zu einer prägenden Zeit: bezüglich meiner ethischen Haltung und meiner Vorstellungen von gelingender Arbeit sowie hinsichtlich meines Bildes von fördernden Vorgesetzten. Auch entstanden Freundschaften, die bis heute Bestand haben.

Die Mentorin

Von Beginn an brachte mir der Vorstand großes Vertrauen entgegen und ließ mich viel selbstständig arbeiten. Der Vorsitzende, ein gut vernetzter Münchner SPD-Politiker, überließ mir sogar Blankounterschriften zur freien Verfügung. Und passierten Fehler, stellten sich die Vorständ*innen hinter mich.

Zu einem lebenslangen Vorbild als Mentorin wurde dann Barbara Distel, langjährige Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau und stellvertretende Vereinsvorsitzende. Die Gedenkstätte wurde 1965 aufgrund des internationalen Drucks errichtet und hatte sich zu einem internationalen Besuchsmagneten entwickelt. Barbara Distel übernahm die Leitung im Zuge der Gründung, eine für die damalige Zeit außergewöhnliche Leitungsposition für eine Frau. Über Jahrzehnte immer wieder von konservativen und rechten Kreisen stark angefeindet, trat sie konsequent parteiisch für die Verfolgten des Naziregimes ein und ließ sich durch die massiven Widerstände nicht beirren – sie hatte eine inhaltliche Mission, ihren Ort dafür gefunden, nutzte alle bestehenden Möglichkeiten und setzte die Mission um.

Barbara Distel nahm mich unter ihre Fittiche. Ich zählte zu den festen Teilnehmer*innen der wöchentlichen Dienstbesprechungen in der Gedenkstätte und wurde regelmäßig zum Mittagessen und einem damit verbundenem inhaltlichen Austausch eingeladen. Und schon nach kurzer Zeit ermächtigte mich Barbara Distel, bei Veranstaltungen und Tagungen im In- und Ausland als Vertreterin der KZ-Gedenkstätte Dachau aufzutreten.

Die immense Bedeutung dieser Förderung meiner Person war mir zu Beginn nicht klar; so richtig bewusst wurde es mir erst, als ich im Lauf des weiteren Berufslebens feststellte, dass es sich hier mitnichten um Selbstverständliches handelt. Barbara Distel, ihr Engagement und ihre vertrauensvolle (Nachwuchs-)Frauenförderpolitik sind mir immer ein Maßstab für eigenes Handeln geblieben.

Irgendwann lief die Finanzierung meiner Stelle aus, eine Folgefinanzierung für die volle Stelle konnte der Verein nicht akquirieren. So orientierte ich mich beruflich neu. Aber der Beschluss zur Errichtung einer Internationalen Jugendbegegnungsstätte in Dachau war auf höchster politischer Ebene gefasst – das inhaltliche Ziel damit erreicht. 1998 wurde das Haus eröffnet.

Frauen in Non-Profit-Organisationen (NPO) heute 

Daten und Fakten

Seit es den NPO-Sektor gibt, engagieren sich hier Frauen für die unterschiedlichsten Belange, zunehmend auch in Form von Erwerbstätigkeit. Auf die Frage, warum sie für eine NPO arbeite, antwortete eine Frauen-Führungskraft im Rahmen einer 2017 publizierten Studie: „Ich möchte was Sinnvolles tun, möchte mich einsetzen, möchte was für die Gesellschaft tun“. Beweggründe, die mir, angefangen bei der oben vorgestellten Barbara Distel, bei Frauen in NPOs immer wieder begegnen.

Insgesamt hat sich der NPO-Sektor in Deutschland zu einem bedeutenden Arbeitsfeld entwickelt, 2019 wurden hier 3,1 Millionen Erwerbstätige gezählt. Das waren 8% aller Beschäftigten, davon stellten Frauen rund 75%. Allgemein nähert sich die Erwerbstätigenquote von Frauen laut Aussage des Statistischen Bundesamtes vom März 2020 der Erwerbstätigenquote von Männern immer weiter an; insbesondere unter älteren Frauen bis 64 Jahren ist sie stark gestiegen. Dies entspricht auch meinem Erleben, sowohl im beruflichen wie im privaten Kontext. Viele Frauen arbeiten allerdings in Teilzeit, mit Folgen für die soziale Absicherung bei Arbeitslosigkeit und Rente: Während 2018 nur knapp 9% der Männer in Teilzeit beschäftigt waren, waren es Frauen zu 47%. Auch in NPOs arbeiten deutlich mehr Frauen als Männer in Teilzeit: 58% gegenüber 24% bei Männern (2019).

Bislang finden sich – leider – nur wenige Untersuchungen speziell zur Beschäftigtensituation von Frauen in NPOs. Noch unklar ist momentan außerdem, wie sich hier mittel- und langfristig die Pandemie 2020/21 auswirken wird. Untersuchungen zur allgemeinen Erwerbstätigkeit kommen jedenfalls zu dem Ergebnis, dass insbesondere Frauen von der Reduzierung des Erwerbseinkommens sowie der Übernahme der familiären Sorgearbeit betroffen sind: „Die Wirtschaftskrise infolge der Pandemie … (hat) Männer und Frauen unterschiedlich getroffen. Frauen arbeiten häufiger im Gesundheitswesen, in der unbezahlten Pflege und in der Hausarbeit, wodurch sie anfälliger für die Folgen der Pandemie sind.Auch sind Frauen oft die ersten, die ihren Job verlieren. Eine weitere, sehr unerfreuliche Folge der pandemiebedingten Lockdowns ist die massive Zunahme häuslicher Gewalt gegen Frauen und Kinder, auch die Zunahme der Schwere der Verletzungen. Inwiefern sich diese Gewaltverhältnisse auf die Erwerbstätigkeit von Frauen auswirken, bleibt noch zu untersuchen.

Strukturbesonderheiten von NPOs

NPOs sind im Vergleich zu Wirtschaftsunternehmen und Behörden vor allem aufgrund ihrer Strukturbesonderheiten für Frauen so attraktiv:

  • NPOs erfüllen mit ihrer Werte- und Normenorientierung in hohem Maße die Erwartungen von Frauen an eine sinnvolle und gesellschaftlich nützliche Arbeit.
  • NPOs sind oftmals partizipativ ausgerichtet, bieten flache Hierarchien und Arbeitsbereiche mit hoher Eigenverantwortlichkeit.
  • NPOs ermöglichen flexible Arbeitszeiten und bieten familienfreundliche Arbeitsbedingungen.

Laut Forschung ziehen NPOs Frauen und Männer an, die weniger an einer klassischen Karriere als an einer gesellschaftlich relevanten Tätigkeit und zudem an einer möglichst ausgewogenen Balance von Erwerbsarbeit und Privatleben interessiert sind. Die meisten – oftmals hochqualifizierten – Frauen sind außerdem mit ihrer Bezahlung zufrieden.

Erneut decken sich hier Forschung und mein eigenes Erleben. Ferner liegen meiner Erfahrung nach die Hemmschwellen für Entlassungen bei NPOs wesentlich höher als im Profitbereich, was ein zusätzliches attraktives Merkmal von NPOs bildet.

 

Frauen und NPO-Leitungsebenen

Der starke Anteil von Frauen in NPOs auf der Beschäftigtenebene spiegelt sich allerdings nicht auf der Leitungsebene: Die Vorstände sind mehrheitlich von Männern dominiert. Insbesondere auf den Führungsebenen großer, einflussreicher NPOs wie beispielsweise finanzstarker Stiftungen finden sich nur wenige Frauen. Als Faustregel lässt sich formulieren: Je größer, finanzkräftiger und älter eine Organisation ist, desto weniger Frauen bekleiden Spitzenpositionen. Die KZ-Gedenkstätte Dachau bildet in dieser Frage eine Ausnahme: Nicht nur übernahm schon im Zuge der Gründung 1965 eine Frau die Leitung, sondern wird die Leitung bis heute von einer Frau ausgeübt.

Doch wieso sind NPO-Leitungsebenen immer noch größtenteils von Männern dominiert? Hier formuliert die schon erwähnte Studie von 2017 folgende Erklärungen:

  • Leitung und Führung wird eher Männern zugetraut – auch etliche Frauen denken so.
  • Frauen verfügen über weniger Selbstbewusstsein als Männer und trauen sich deshalb Leitung weniger zu.
  • Außerdem rekrutieren sich die überwiegend männlich besetzten Leitungsgremien inkl. der Zuständigkeit für Personalauswahl zumeist aus ihresgleichen: „Thomas wählt Thomas“.
  • Die primäre Verantwortlichkeit für Kinder und Familie wird Frauen zugesprochen, wiederum auch von Frauen selbst.
  • Frauen sehen sich mit größeren Leistungsanforderungen konfrontiert als Männer.

Dies alles bildet den Grundstoff, aus dem die berühmt-berüchtigte „Gläserne Decke“ besteht, die zu durchdringen für Frauen so mühevoll ist.

Weitere Gründe sind laut Studie:

  • Die unattraktiven Arbeitszeiten für Leitungspersonen: Wichtige Gremiensitzungen insbesondere mit Ehrenamtlichen finden an Wochenenden oder abends zu später Stunde statt. Und nicht selten werden ständige Erreichbarkeit und unbezahlte Überstunden erwartet.
  • Frauen sind seltener als Männer bereit, die Risiken eines Sprungs in die Leitungsebene einzugehen, zumal, wenn damit das Einarbeiten in einen neuen Bereich und/ oder ein Wohnortwechsel verbunden sind.
  • Frauen sind mit dem Vorhandenen inkl. einer guten Arbeitsatmosphäre zufrieden und richten sich auf mittleren Positionen ein.

Eine NPO-Mitarbeiterin bringt diese Haltung folgendermaßen auf den Punkt: „Verantwortung, Stress, keine Freizeit, viel Koordinierungstätigkeit. Ich sehe das nicht besonders positiv und mich in Zukunft auch nicht in einer Führungsposition.“

So bleibt als Frage, wie sich diese aus meiner Sicht mindestens unbefriedigende Situation perspektivisch ändern lässt.

Handlungsempfehlungen

Die Autor*innen der Studie formulierten hierfür Handlungsempfehlungen. Diese reichen von der Einführung einer gesetzlichen Quote für Leitungsebenen über interne Netzwerkbildung bis hin zum Aufbau von Mentoring-Angeboten für berufliche Einsteiger*innen. Wenn ich an meinen eigenen beruflichen Werdegang und an mir bekannte Frauen denke, die in NPOs Leitungspositionen bzw. Stabstellen erlangten, dann fallen mir folgende ergänzende Punkte ein:

  • In Partnerschaften eine Aufteilung praktizieren, die den Beteiligten gleichermaßen Karrierewege ermöglicht. Sich außerdem durch Unterstützungssysteme bis hin zu professionellen Dienstleister*innen entlasten.
  • Als Frau in sich selber investieren z. B. in Form von Coaching oder kollegialer Beratung – das stärkt das Selbstbewusstsein und die eigene strategische Denkfähigkeit.
  • Frauenförderung durch konkretes Handeln praktizieren, auch ohne dass dafür in der Organisation ein explizites Programm besteht.

Unter ökonomischen Gesichtspunkten sollten sich Frauen meines Erachtens zudem genau überlegen, ob die eigene mittel- und langfristige soziale Absicherung wirklich über einen männlichen Partner geplant werden sollte (was vielleicht auch den männlichen Partner überfordert bzw. unter unguten Druck setzt). Diese Reflexion schließt das noch geltende Ehegattensplitting ein – verheiratete Frauen können es ablehnen und gemeinsam mit dem Partner ein ökonomisch gleichberechtigtes Modell praktizieren. Zudem betrifft es die Entscheidungen zur Teilzeitarbeit: Wenn Teilzeitarbeit, dann wie lange und in welchem Umfang mit jeweils welchen langfristigen Konsequenzen für wen? Hinzu kommt, dass – leider – Teilzeitkräfte oft geringere Chancen auf Leitungspositionen besitzen.

Doch insgesamt, unter Berücksichtigung aller genannten Faktoren, ist aus meiner Sicht festzuhalten: NPOs bieten Frauen interessante, sinnstiftende, sich in mehrfacher Hinsicht lohnende Arbeitsfelder und Arbeitsbedingungen – ich jedenfalls bin dem Bereich treu geblieben. Und wenn viele Frauen es wollen, davon bin ich zutiefst überzeugt, lassen sich die NPOs weiter im Sinne von Gendergerechtigkeit und Diversity ausgestalten.

Weiterführende Links, Studien, Literatur

Inwiefern hier von einer „Retraditionalisierung“ gesprochen werden kann, ist nicht ganz eindeutig. Vgl. Kohlrausch, B./ Zucco, A.: Was bedeutet die Corona-Pandemie für die Gleichstellung zwischen Mann und Frau? 24.11.2020. https://www.wsi.de/de/blog-17857-was-bedeutet-die-corona-pandemie-fur-die-gleichstellung-zwischen-mann-und-frau-28569.htm.

Vgl. außerdem dies.: Die Corona-Krise trifft Frauen doppelt. Weniger Erwerbsarbeit und mehr Sorgearbeit. WSI – Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut der Hans-Böckler-Stiftung: POLICY BRIEF Nr. 40, 05/2020. https://www.wsi.de/de/faust-detail.htm?sync_id=8906.

Vgl. außerdem: Pressemitteilung: Neue Ergebnisse der Böckler-Erwerbspersonenbefragung: Corona und Arbeitszeit: Lücke zwischen den Geschlechtern bleibt – Frauen erhalten seltener Aufstockung bei Kurzarbeit. 29.12.2020. https://www.wsi.de/de/pressemitteilungen-15991-corona-und-arbeitszeit-lucke-zwischen-den-geschlechtern-bleibt-29563.htm.

 

sinnvoll zusammen wirken

Bewegte Biografie – die Kunst des Lebens

Bewegte Biografie – die Kunst des Lebens

Text von Kerstin Engelhardt.

Bitte beachten Sie die folgende Veranstaltung am 24. Mai 2018: SOCIUS labor: Bewegte Biografie

Die Beschäftigung mit der eigenen Biografie, die Einordnung des eigenen Lebensweges verstehe ich als einen wesentlichen Aspekt der Kunst des Lebens. Herkunft, Erlebnisse, private, berufliche und gesellschaftliche Kontexte bilden den Rahmen, in welchem Biografie sich vollzieht, gedeutet und beurteilt wird; verbunden mit Träumen, Sehnsüchten und Wünschen formiert sich daraus das Gesamtwerk, das den eigenen Lebensentwurf speist. Der Blick auf die eigene Biografie zeigt Linien, Brüche und Kontinuitäten; potenzielle Zukunft scheint auf und Ressourcen für praktisches Handeln werden freigelegt. Biografiearbeit ist daher immer auch Selbstsorge mit Wirkungen in das Umfeld.  (mehr …)

Psychodrama und Organisationsburnout

Die Journalistin Kathrin Schrader trifft Kerstin Engelhardt:

Wie Coach und Organisationsberaterin Kerstin Engelhardt Teamcoaching definiert, den Burnout-Faktor bestimmt und wieso sie gerade den 1. Berliner Fachtag für Coaching und Supervision in
Nonprofit-Organisationen vorbereitet, lest ihr in diesem Interview. Und wer lernen möchte, wie man gute Artikel schreibt und schriftlich kommuniziert, kann dies bei Kathrin Schrader im Seminar citizen-journalist Mitte September tun.

(mehr …)

Wandel zur inklusiven Organisation

Autorinnen: Kerstin Engelhardt und Nicola Kriesel

„Inklusion und Beteiligung als Chance in der Organisations- und Regionalentwicklung“

Wandel zur inklusiven Organisation

Im Folgenden stellen wir zunächst kurz dar, was wir unter „Inklusion“ und „Organisationsentwicklung“ verstehen. Im nächsten Schritt beschreiben wir die Bedeutung von Inklusion für Organisationen. Darauf aufbauend beschreiben wir (mögliche) Vorgehensweisen für einen Wandel zur inklusiven Organisation. Abschließend haben wir mit zwei Menschen über gelungene Beispiele inklusiver Organisationen gesprochen.

(mehr …)

Visit Us On LinkedinVisit Us On FacebookVisit Us On InstagramVisit Us On Youtube