SOCIUS.Blog

Joana Ebbinghaus ist intensiv in der Vorbereitung des oe-tages aktiv. In diesem Interview erzählt sie von ihrer Motivation und der Bedeutung, die das Thema auch heute noch hat – für Menschen und Organisationen. 

Wieso ist dir dieses Thema so wichtig, dass es auf einem oe-tag aufgegriffen wird?

Ich könnte hier eine wirklich lange Abhandlung schreiben. Zum einen gibt es für mich biographische Bezüge. In West-Berlin geboren, waren für mich die Kategorien Ost und West mein Leben lang präsent, von Bedeutung, auch mit starken Emotionen und immer mit Neugier verbunden. In Kindheit und Jugend hatte der Osten eher etwas geheimnisvolles für mich, präsent, sichtbar, aber trotzdem für mich verschlossen. Zu Studienzeiten hatte ich eine WG-Mitbewohnerin aus Karl-Marx-Stadt, die ich während der gemeinsamen Zeit viel löcherte, um die Unterschiede im Lebensgefühl zu verstehen. Weit bin ich damals nicht gekommen. Vielleicht weil es auch für meine Mitbewohnerin damals noch zu nah war. Und ich zu unsensibel, um die richtigen Fragen zu stellen. 

So richtig holte mich das Thema dann erst wieder 20 Jahre später ein, als ich nach langer Zeit im Ausland wieder in Deutschland lebte und arbeitete. Ich erinnere mich sehr genau, als ich zum ersten Mal als Organisationsberaterin in einer aufgeladenen Situation innerhalb einer Organisation im Einzelgespräch verstand, dass tiefe Konflikte und Verbitterungen in einem Team, das sich nicht gesehen, wertgeschätzt und angemessen bezahlt fühlte, gleichzeitig auch mit tiefer liegenden Schichten verbunden waren, wo es um Ost- und West Biographien ging, Erfahrungen des Verlusts von sozialem Status im Zuge der Wiedervereinigung sowie unsensiblem Umgang mit deutlichen Rangunterschieden in der Organisation. 

Erst langsam dämmerte mir auch, dass ich selbst nicht wahrgenommen haben, wie stark die Ost-West Dimension noch viele soziale Situationen prägt – in Bezug auf eine schnelle Einordnung und Orientierung (“bist Du aus dem Osten oder aus dem Westen?”), vorschnelle Zuschreibungen und Kategorisierungen sowie ein Erleben von Zugehörigkeit und Fremdheit. 

Zu Beginn des Jahres 2024 organisierten Bea Schramm und ich bei SOCIUS ein 4-stündiges Labor zum Thema “Ost-West in Organisationen”. Was sich in den Gesprächen an diesem Nachmittag zeigte, öffnete für mich noch einmal ganz andere Dimensionen – die mich auch sehr berührten: So viele rohe und auch selten so offen benannte Gefühle standen im Raum (so eine teilnehmende Person damals: “ich war noch nie an einem Ort mit anderen Menschen, wo es explizit nur um die persönlichen Erfahrungen im Kontext Ost-West ging!”). Besonders hängen geblieben sind mir Aussagen, die damit zu tun hatten, wie schwer es offensichtlich noch immer ist, die faktischen Unterschiede, das Erleben von Bewertung oder fehlender Augenhöhe in Wort zu fassen. Sei es, weil das eigene Schmerzerleben als zu niedrig wahrgenommen wird, um Ost-Deutschsein zum Thema machen zu wollen, oder weil man nicht gern der “Jammer-Ossi” ist. Und dass durchaus auch westlich sozialisierte Menschen schmerzliche Erfahrungen mit Ausgrenzung gemacht haben. 

In den letzten 1-2 Jahren ist in meinem Gefühl viel passiert, was den öffentlichen Diskurs über Ost-West Sozialisationen und Erfahrungen angeht, es gab in letzter Zeit viele Veröffentlichungen, Bücher, Workshops und Podcasts. Und trotzdem steht für mich noch immer vor allem der Eindruck im Vordergrund, dass es noch so viel zu sagen gibt!  

Wo wird die Frage von „Biografien Ost und West“ in Organisationen heute konkret lebendig?

Die nach der Wiedervereinigung in vielen Bereichen entstandene Situation, dass die Leitungsebene größtenteils westdeutsch sozialisiert war, während die Teams eher ostdeutsch waren, hat sich im letzten Jahrzehnt sicherlich aufgeweicht – und ist trotzdem in manchen Bereichen tendenziell immer noch zu beobachten. Aber ich denke, es ist insgesamt sehr differenziert, vielfältig und auch ambivalent. Ost-West als Kategorien reichen oft nicht aus. Hier überlagern sich inzwischen verschiedene Kategorien der Diversität: Generationenunterschiede, Geschlechter und Prägungen aufgrund von vermeintlichen “Klassenunterschieden”. Ich nehme aber zum Beispiel durchaus Unterschiede wahr in Führungs- und Kommunikationsstilen zwischen ost und west.

Und was macht es manchmal schwer, darüber zu reden?

Ich denke, wir leben in einer Zeit und bewegen uns in sozialen und in sinn-getriebenen Organisationen oft in einem Feld, wo die Menschen überwiegend sensibilisiert sind für Themen von Privilegien, Diskriminierung und Rassismus. Die Dimension ost-deutsch – west-deutsch-sozialisiert wird, glaube ich, zum Teil als nicht gewichtig genug erlebt, um es zum Thema zu machen. Wir sind hier noch zu wenig geübt, Sprache zu finden, für etwas, das sich meistens sehr subtil abspielt. Und wenn ich von meiner eigenen Erfahrung her komme, würde ich sagen, dass gerade west-deutsch geprägte Menschen – wie es so oft der Fall ist im Kontext von Privilegien –  zu weiten Teilen wenig Bewusstsein dafür haben, dass sich dieselbe Situation für eine ost-deutsch sozialisierte Person anders anfühlen kann. Dass es biographische Unterschiede geben kann, z.b. in der eigenen Bildungsbiographie, in den Auswirkungen, wie die eigene Familie von den Transformationen der Wendezeit betroffen waren (oder während der DDR Zeit Freiräume genutzt oder zur Anpassung gezwungen wurden) und diese verarbeitet haben, welche noch ins Hier und Jetzt hineinwirken.

Über was würdest Du Dich am oe-tag besonders freuen?

Mich würde sehr freuen, wenn mindestens genauso viele west-deutsch sozialisierte Teilnehmende mit viel Neugier im Rucksack den Weg nach Halle finden, wie ost-deutsche. Denn am Ende geht es ja um Austausch und Dialog und darum, sich gemeinsam auf eine Suche zu begeben, einander Geschichten zu erzählen, Gemeinsames und Unterschiede zu entdecken. Und ich würde mich riesig freuen, wenn viele Teilnehmende am Ende des Tages sagen: Ich habe spannende neue Menschen kennengelernt und viel Neues gelernt! 

Warum seid Ihr dieses Jahr in Halle? Und wird der jährliche oe-tag jetzt häufiger reisen?

Es lag ja auf der Hand, zu diesem Thema die Berlin-Zentrierung, die wir natürlich durch unseren Bürostandort und unser Betätigungs- und Vernetzungsfeld haben, zu verlassen. Aber wenn wir etwas über deutsch-deutsche Geschichte verstehen wollen, müssen wir eben auch die “Hauptstadt-Blase” mal verlassen. Es ist eine Freude, in der Vorbereitung zu erleben, welche neuen Möglichkeiten sich daraus ergeben, an einem ganz anderen Standort zu sein: Die Wege sind überschaubarer, die Kontakte direkter und persönlicher. Meine Kollegin, Lysan, die in Halle lebt, scheint mit fast allen interessanten Menschen in der Region persönlich bekannt zu sein 🙂: Vom Buchladen, den wir mit einbeziehen, zum Kaffee-Feuerwehrauto, das uns mit gutem Kaffee versorgen wird, zu spannenden Referent:innen vor Ort. Ich hoffe, wir können langjährige oe-tags Besucher:innen zusammenbringen mit ganz neuen Menschen, die bisher noch nicht den Weg zu uns gefunden haben! Wenn die Resonanz hoch ist, reisen wir gern das nächste Mal zu einem anderen Ort weiter!

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