Für die Organisationsentwicklung sind Anleihen in anderen Disziplinen das Salz in der Sensemaking-Suppe: Sei es das zwischen Karte und Terrain aufgespannte Navigieren in der Nautik, das Geheimnis des kreativen Flows in der Kunst, das Zusammenwirken von Selbstheilung und Behandlung in der Medizin oder die Entwicklung von Betriebssysteme und Apps im Software-Engineering – mit jedem Bild öffnet sich ein anderes Fenster und eine andere Perspektive auf die Organisation. Dabei sind alle Metaphern – das hat Gareth Morgan eindrücklich beschrieben – immer hilfreich und unzulänglich zugleich.
Die Organisation der Stadt
Für mich liegen einige der spannendsten Inspirationen für die OE in der Stadtentwicklung. Das Zusammenspiel von Design und Eigendynamik einer Stadt ist ein faszinierender Dialog. Städte und Organisationen sind sich vor allem in Bezug auf diese doppelte Natur recht ähnlich: Sie sind strukturierte Systeme von Regeln und Ressourcen und zugleich Organismen, die sich in ihrer eigenen Logik entwickeln und entfalten.
Aus Sicht der Stadtplanung zeigt sich die Eigendynamik dabei oft von der widerspenstigen Seite: Man kann einen Flächennutzungsplan erstellen und eine Verkehrsinfrastruktur bauen, aber es ist deutlich schwieriger, die tatsächliche Nutzung von Räumen und Flächen zu steuern. Welche Art von Menschen und Unternehmen zuziehen und abwandern und damit Wachstum, Gentrifizierung oder Verfall einzelner Stadtteile bewirken, ist kaum zu kontrollieren. Man kann Wege durch einen Park anlegen, aber welche Pfade die Menschen tatsächlich einschlagen, zeigt sich erst mit der Zeit. Das Gleiche gilt für Organisationen: Man kann jemanden zur Leitung machen, aber wie stellt man sicher, dass er oder sie tatsächlich als Führungskraft akzeptiert wird? Man kann eine Wissens-Datenbank aufbauen, aber wie bringt man Leute dazu, ihr Wissen wirklich einzuspeisen? Man kann ein Qualitätshandbuch schreiben, aber wie wird ein Prozess verbindlich? Allzu oft weicht der tatsächliche Lauf der Dinge vom Formalen ab. Und das hat seinen Grund.
Die Dualität der Struktur
Stell Dir vor, Du gehst durch den Park. Es ist ein sonniger Tag und Du hast nichts weiter vor, als frische Luft zu schnappen. Der gepflasterte Weg, den Du entlangspazierst, mündet in eine Kreuzung mit einem anderen Weg, den Du nehmen willst. Im Normalfall gehst Du bis zur Kreuzung, nimmst die Kurve und spazierst auf dem neuen Weg weiter.
Stell Dir nun die gleiche Szene an einem kalten Morgen vor, du bist auf dem Weg zur Arbeit. Du näherst Dich der Wegkreuzung und wirst vielleicht schon an der frühestmöglichen Stelle eine Abkürzung über den Rasen nehmen – das ist ökonomisch (was übrigens nicht dasselbe ist wie „menschlich“). Wenn Du die erste und einzige Person bist, die diese Abkürzung wählt, wird das Gras unter Deinen Schritten nachgeben und sich nach einigen Augenblicken wieder aufrichten. Wenn zehn andere am selben Tag diese Abkürzung wählen, wird eine kleine erdige Spur im Gras sichtbar. Diese Linie wirkt als Attraktor, als Einladung für andere, den Weg ebenfalls zu gehen, und sehr bald entsteht ein Trampelpfad.
Die Mechanismen dieses Zusammenspiels werden von Anthony Giddens in seiner „Theorie der Strukturation“ beschrieben. Giddens verortet soziale Praktiken an der „untrennbaren Schnittstelle von Strukturen und Akteur:innen“. Gemäß der rekursiven Natur sozialen Lebens sind Strukturen dabei sowohl Medium als auch Ergebnis der Reproduktion sozialer Praktiken: Der Weg formt sich, wenn die Akteur:innen ihn gehen. Sie gehen ihn, weil sein struktureller Niederschlag als Attraktor wirkt. Giddens nennt dies die „Dualität der Struktur“.
Das Konzept erklärt, wie soziale Praktiken verstärkt werden, und wie sich dadurch Struktur bildet (die schlussendlich zu formalen Institutionen gerinnt). Es erklärt auch, wie diese Struktur untergraben wird, wenn Akteur:innen beschließen, sie zu ignorieren, zu ersetzen oder in Variation zu reproduzieren. Beide Bewegungen vollziehen sich schrittweise und fließend. Das Modell stellt dabei keinen spezifischen Moment in den Fokus, zu dem eine Regel oder Praxis formalisiert (oder aufgegeben) wird. Alle Ordnungen sind vorläufige Ordnungen.
Segen und Fluch der Pfadabhängigkeit
Ein interessanter Aspekt der Entstehung von Pfaden ist das Zusammenspiel von individuellen und kollektiven Entscheidungen. In einer Tabula-Raza-Situation, in der ein System keine sinnvolle Substrukturierung, keine relevanten Attraktoren und keine etablierten Interaktionsmuster aufweist, handeln die Mitglieder allein gemäß ihrer individuellen Agenda. Im Jazz ist dies entweder das kakophone Chaos oder der Moment, in der alle darauf warten, mit was die anderen aufwarten. In der Gruppendynamik ist dies die Phase des Forming, in der Unsicherheit und mangelnder gemeinsamer Fokus durch einen klaren äußeren Rahmen ausgeglichen werden muss. Im Laufe der Zeit entwickeln die Akteur:innen dann Interaktionsmuster – im besten Fall „finden“ sie einen dynamischen Groove. Das System bildet dabei Substrukturierungen aus, die seinen Mitgliedern als Kontext gegenübertreten. Einige der entstehenden Muster verstärken sich, andere verschwinden schnell wieder oder werden unterdrückt. In dieser Phase ist das Verhalten sowohl individuell als auch systemisch bestimmt – die Akteur:innen bewegen sich mit ihren individuellen Absichten, werden aber auch von der Anziehungskraft verstärkter Muster beeinflusst.
Der Moment emergenter Musterentstehung ist so kostbar, weil er nicht ewig andauert. Die auf ihn folgende Entwicklung ist in der Regel von fortschreitender Pfadabhängigkeit gekennzeichnet, bei der sich einzelne Bahnen der Interaktion zunehmend verfestigen. Handlungs- und Denkmuster, die eben noch im dynamischen Groove miteinander standen, bilden stabile, dominante Zonen aus, die Entwicklung nimmt feste Formen an, das System findet sein Flussbett und sein Fließgleichgewicht. Im extremen Fall wird die Homöostase zum „Lock-in“– das System friert ein und erstarrt. Wer schon einmal so ein Lock In auf einer Jam Session erlebt hat, weiß, dass die Fixierung auf eine Harmoniefolge für Spieler:innen und Publikum zum Fluch werden kann, der manchmal nur durch einen fast gewaltsamen modalen Bruch gestört wird, wenn jemand es nicht mehr aushält.
Wenn wir in einem eingefrorenen System mit den Kräften der Emergenz arbeiten wollen, müssen wir Gruppen und Organisationen an den Punkt der relativen Offenheit und des dynamischen Fließens zurückzuführen (im obigen Bild Phase II). Hierfür stehen uns zwei Wege offen: Entweder wir warten, bis das System in eine Krise gerät, an seiner eigenen Starrheit zerbricht und sich nach kreativer Zerstörung neu zusammensetzt (eine Progression, die im Ecocycle beschrieben ist); oder es gelingt uns, es – in den Worten von Kurt Lewin – im laufenden Betrieb „aufzutauen“. Im Idealfall etablieren wir ein Modus, der es nie zur vollen Erstarrung kommen lässt: Keep the ground soft.
Exkurs: Kollektive Intelligenz (oder Makrointelligenz, die sich aus lokalem Wissen ableitet) lebt vom Zusammentreffen individuell motivierten Verhaltens mit sozialem Feedback. Eine Simulationssequenz veranschaulicht diesen Zusammenhang:
Bild 1 zeigt eine virtuelle Parkanlage mit gekreuzten Gehwegen. Computergenerierte Avatare (schwarze Punkte), sind so programmiert, dass sie zufälligen individuellen Motiven folgen (z.B. von Ecke A nach C gehen; zur Mitte schlendern, dann zu Ecke B gehen usw.). Sie haben zudem eine Neigung dazu, Wegen zu folgen, die zuvor viel begangen wurden. Eine Nutzung führt zur Vertiefung des jeweiligen Weges, ein nicht genutzter Weg verschwindet mit der Zeit. Die Auswirkungen dieser Programmierung sind in den Bildern 2-4 zu sehen. Das Weg-System wandelt sich mit der Zeit zu einer neuen kompakteren Form. Für die einzelnen Avatare bedingt das resultierende Wegesystem in Abbildung 4 individuell minimale Umwege. Für das Gesamtsystem stellt es gegenüber der Ausgangsform eine verbesserte Variante dar, da es in Bezug auf die Gesamtweglänge optimiert ist.
Die Simulation illustriert, wie individuelle Handlungen, die durch direkte oder indirekte Rückkopplung verbunden sind, ein kollektiv intelligentes System hervorbringen können.
Weiterführende Einblicke hierzu finden sich in Steven Johnsons „Emergence – The Connected Lives of Ants, Brains, Cities, and Software“.
Der Pfad als Ausdruck von Bedürfnissen
Das deutsche Wort „Trampelpfad“ ist als Bezeichnung für einen informellen Fußweg eine etwas hässliche Erscheinung. Mir gefällt der poetische Begriff „Desire Path“ im Englischen deutlich besser. Er transportiert die Idee, dass jede Subversion ein Motiv markiert, das das formale System noch nicht berücksichtigt hat. Ein Desire Path deutet nicht auf Widerstand gegen das formale System an sich hin, sondern auf ein noch unentdecktes Potential des Systems. Ein Pfad sollte mithin kein Ärgernis, sondern eine wertvolle und willkommene Informationsquelle für Systemdesigner:innen sein.
Zurück in den Park: Es kann sein, dass es dem Parkservice nicht recht ist, dass Du die Abkürzung über die Wiese nimmst. Man stellt also ein Schild oder eine Barriere auf. Das mag den einen oder die andere vom Rasen fernhalten, aber Schilder und Barrieren funktionieren nicht wirklich, wenn eine Abkürzung oder eine Attraktion stark genug ist. Also geht es einen Schritt weiter: man zieht einen Zaun oder stellt Park Security ein und verstärkt die Regulierungsmaßnahmen durch Sanktionen. Regulierung hat einen relativ geringen Wirkungsgrad, wenn es darum geht, intrinsische Motivation und kreative Dynamik in sozialen Systemen freizusetzen. Sie ist zudem auch psychologisch kostspielig, weil sie signalisiert, dass dies hier nicht wirklich Dein Park ist. Warum also solltest Du ihn pfleglich behandeln?
Bilder: Applause for Design, Rienk Mebius
Alternativ lässt sich die Logik umdrehen: So wie in der Bionik technische Entwicklungen von der Natur inspiriert werden, lässt sich auch eine „Strukturbionik“ denken, bei der Entwickler:innen von in Pfaden abgebildetem Verhalten lernen. Wenn über eine unbefestigte Abkürzung zum Hauseingang immer wieder Dreck ins Treppenhaus gebracht wird, verlangt das eine Antwort. Die Antwort muss aber nicht darin bestehen, die Leute dazu zu bringen, die unpraktisch asphaltierte Zuwegung zu benutzen. Wir können ebenso gut die Abkürzung pflastern, um sie funktional zu machen. Das informelle System wird so zum Anker der formalen Strukturierung.
Dieser Design Ansatz lässt sich auch im größerem Maßstab denken: Wenn Du ein System von Gehwegen entwerfen willst, warte einige Zeit, um herauszufinden, wo die Menschen tatsächlich gehen, und lege aufgrund dieser Bewegungen das formale Wegsystem fest. Große Campusanlagen wie die Ohio State University oder die University of Toledo, Teile des Central Park New York sowie einige Wohnsiedlungen in Moskau wurden auf diese Weise gestaltet (letztere, indem man auf den ersten Schnee wartete, um festzustellen, wo die Bewohner:innen tatsächlich zwischen den Gebäuden und Zugängen laufen). Trampelfade als Ausdruck von Bedürfnissen ernst zu nehmen, kann durchaus sinnvolle Ergebnisse liefern.
Allerdings können wir dabei auch immer über das Ziel hinaus schießen. Ungeregelte Emergenz ist vor allem in interessenspluralen Systemen problematisch: nicht jede Entwicklung ist für alle Mitglieder der Organisation gleichermaßen vorteilhaft und nicht jeder Impuls mit dem Gesamtbild vereinbar. Nicht jeder ökonomische Trampelpfad ist dem übergeordneten Ziel dienlich, vor allem dann nicht wenn er eine Abkürzung darstellt, deren Kosten andere im System ausgleichen müssen. Insofern ist Emergenz nicht die alleinige Antwort, wir müssen die Aufgabe der Kuratierung ernst nehmen. Dies kann bedeuten, übergreifende Rahmen und Container zu schaffen, in dem die verschiedenen Impulse zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfließen. Es kann auch bedeuten, transparente Wege zu finden, Optionen gegeneinander abzuwägen und auszuhandeln.
Desire Path Praxis in der OE
Wie lässt sich das Desire Path Prinzip auf den Bereich der Organisationsentwicklung übertragen? Was können wir konkret tun, um diesem Ansatz Raum zu geben?
In der einfachsten Version einer Strukturentwicklung geht es darum, den Prozess für eine bestimmte Aufgabe (neu) zu gestalten. Der Desire Path Ansatzes so einer Prozessentwicklung läßt sich in fünf Schritten beschreiben:
1. Mapping der Formalstruktur: Identifiziere die bestehenden Regelungen (oder auch die Standard Operating Procedures) für die spezifische Funktion oder den fokussierten Prozess (Prozessbeschreibungen, Manuals, Regelungen zu Abläufen und Verantwortlichkeiten).
2. Mapping der Informellen Abläufe: Führe ethnographische und teilnehmende Beobachtungen durch, um zu erfassen, wie der fokussierte Prozess tatsächlich im Alltag ausgeführt wird.
3. Interpretation: Identifiziere Faktoren, die die informellen Praktiken motivieren. Erkläre die Abweichungen zwischen formellen Regelungen und informellen Praktiken (z.B. in Bezug auf Attraktoren und Bedürfnislagen).
4. Bewertung: Unterscheide zwischen funktionalen und dysfunktionalen informellen Praktiken. Wo handelt es sich um eine Abweichung von der Formalstruktur, die das Ergebnis besser macht? Wo unterlaufen Akteur:innen mit den informellen Praktiken die übergeordneten Ziele des Systems? Wie kann damit umgegangen werden?
5. Integration: Etabliere einer neue Formalstruktur, die die funktionalen informellen Praktiken einbezieht und praktikable Alternativen zu den dysfunktionalen Praktiken bietet, bei denen die zugrundeliegenden Motive berücksichtigt werden.
Dieses Vorgehen muss dabei nicht auf Prozesse beschränkt bleiben, sondern kann in ähnlicher Weise auf mikropolitische Felder und Rollengefüge (wer sind die tatsächlich Führenden?) oder emergente Strategien (was „tut“ die Organisation wirklich?) angewandt werden.
In jedem Fall wird dabei das klassische Vorgehen auf den Kopf gestellt: Es geht nicht mehr darum, wie wir Strukturen durch Verhaltensregulierung festigen können, sondern wie wir durch Beobachtung von Verhalten sinnvolle Strukturen gestalten und etablieren.
Während eine so gefundene neue Formalstruktur das kollektive Handeln hoffentlich besser und reibungsloser kanalisiert, ist auch sie vorerst auch nur ein zartes Pflänzchen und zugleich nur eine vorläufige Ordnung. Die klassische Organisationsentwicklung fokussiert den Akt der pointierten Formalisierung. Irgendwann fällt die Entscheidung über erin Modell und damit ist es besiegelt. Es ist durchaus denkbar, dass diese Faszination mit formaler Strukturierung am Kern der Sache vorbei geht: Eine Struktur kommt nicht dadurch ins Leben, dass wir sie in einem Organigramm festhalten. Eine Struktur existiert, wenn sie durch wiederholte Praxis reproduziert wird.
Meiner Erfahrung nach sind die meisten Organisationen, die Unterstützung in der Organisationsentwicklung suchen, bereit, in die Entwicklung neuer Strukturen zu investieren, gehen aber davon aus, dass der Umsetzungsprozess quasi von alleine funktioniert. Die Annahme dahinter lautet: Wenn die Mitarbeitenden in den Gestaltungsprozess eingebunden sind, haben sie Ownership und werden bei der Umsetzung mit voller Kraft mitziehen. Zwar ist die Einbeziehung der von einer Entwicklung Betroffenen sicher alternativlos, aber Beteiligung allein garantiert nicht die reibungslose Umsetzung. Es braucht einen unterstützten Prozess der Einübung neuer Praktiken. Neue Pfade müssen sich eintreten und können sich dabei auch noch verändern.
Autor Andi Knoth
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