SOCIUS.Blog

Als wir im Oktober 2024 die Salon-Reihe „Krankheit in Organisationen“ starteten, hatten wir uns bereits seit einem Jahr regelmäßig einmal im Monat zu dritt mit unserer Kollegin und Freundin Monia ausgetauscht zu persönlichen Erfahrungen und Erkenntnissen, was es bedeutet, mit einer chronischen Krankheit arbeiten und wirksam sein zu wollen. Im Verlauf dieser Gespräche wurde immer deutlicher, wie groß und wichtig das Thema ist und gleichzeitig wie unterrepräsentiert und undiskutiert es ist in der Welt der Organisationen: Laut einer Studie der Kassenärztlichen Bundesvereinigung In Deutschland sind 41% der Männer und 48% der Frauen im Alter zwischen 35 und 59 Jahren von mindestens einer lang andauernden Krankheit betroffen, die regelmäßig medizinisch behandelt werden muss. 

Die theoretische Ausgangsbasis lautete außerdem: Chronische Erkrankungen können mit zahlreichen Einschränkungen und Belastungen einhergehen, die das Leben der Betroffenen erheblich beeinflussen. Neben dauerhaften oder schubweise auftretenden Schmerzen, die den Alltag erschweren, geht oft auch viel Zeit für Therapien, medizinische Behandlungen, Besuche bei Ärzt:innen oder Krankenhausaufenthalte verloren. Besonders herausfordernd ist, dass viele Symptome chronischer Erkrankungen unsichtbar sind. Sie bleiben für Außenstehende verborgen, obwohl sie die Leistungsfähigkeit im Alltag und insbesondere am Arbeitsplatz erheblich einschränken können. Diese Unsichtbarkeit führt oft zu Scham, Unsicherheit und der Angst vor negativen Reaktionen aus dem sozialen Umfeld, wie zum Beispiel von Kolleg:innen oder Vorgesetzten. Diese Ängste können zusätzliche psychische Belastungen hervorrufen. Tatsächlich ist das Risiko, an einer Depression oder Angststörung zu erkranken, bei Menschen mit chronischen körperlichen Erkrankungen deutlich erhöht: Rund 40 % von ihnen sind davon betroffen – ein signifikant höherer Anteil im Vergleich zu gesunden Menschen. Die psychischen Belastungen zeigen sich oft schon in alltäglichen Situationen:. Beispielsweise können häufige Ausfälle bei der Arbeit zu Schuldgefühlen gegenüber Kolleg:innen führen, insbesondere wenn diese nicht über die Hintergründe informiert sind. Viele Betroffene haben wiederum Sorge vor den möglichen Konsequenzen einer Offenlegung ihrer Krankheit. Sie fürchten einen Karriereknick oder gar den Verlust ihres Arbeitsplatzes. Arbeitssuche nach einer längeren Zeit der Arbeitsunfähigkeit infolge einer chronischen Krankheit, ist wiederum extrem herausfordernd, da Lücken im Lebenslauf erklärt werden müssen und das Gegenüber von der eigenen Arbeitsfähigkeit überzeugt werden muss. Gleichzeitig wirft die Erkrankung Fragen darüber auf, wie sie die Beziehungen zu Kolleg:innen, Vorgesetzten und anderen Menschen im persönlichen Umfeld beeinflusst.

Wie kann es also sein, dass wir so selten über (chronische) Krankheiten in der Arbeit sprechen und wissen?

Unsere Grundannahme war von daher, dass insbesondere Führungskräfte, aber letztendlich wir alle nicht umhin können, handlungs- und sprechfähig zu werden und sich damit auseinandersetzen müssen, was es – weit über Formate und Ansätze des Betrieblichen Gesundheitsmanagements hinaus – in der Arbeitswelt bedeutet, von einer chronischen Krankheit betroffen zu sein und wie eine Arbeitsfähigkeit ermöglicht werden kann. 

So war die Idee mit dem neuen Format SOCIUS salon einen offenen Austauschraum anzubieten zum Thema “Gesunde Kranke” anzubieten, um uns gemeinsam mit den Teilnehmenden dem Thema anzunähern, uns über Erfahrungen auszutauschen und gemeinsam über Lösungsmöglichkeiten nachzudenken.  Das Echo auf diese drei3 zweistündigen Veranstaltungen entlang der Überschriften „Besprechbarkeit“, „Sichtbarkeit“ und „Rücksichtnahme“ überstieg bei weitem unsere Erwartungen und war zutiefst berührend. Selten hatte ich das Gefühl, dass ein so zentrales gesellschaftliches Thema so tabuisiert ist und es so wenig Selbstverständlichkeit, Neugier und Verantwortungsbereitschaft gibt, eine offene Kommunikation zu ermöglichen und gemeinsam angemessene Lösungen zu finden!

In sehr persönlichen Austauschrunden trugen wir die folgenden Erfahrungen und Einsichten zusammen:

Besprechbarkeit: Über Krankheiten reden – aber wie?

Eine Teilnehmerin brachte es auf den Punkt: „Ich spreche so viel darüber, aber am nächsten Tag ist es wie weg. Wie können wir Formen der Kommunikation finden, die nachhaltig sind, wo wir nicht immer wieder bei Null anfangen zu erklären, was wir brauchen?“ Hier wurde klar, dass es nicht nur Mut braucht, um über Krankheiten zu sprechen, sondern auch Strukturen, die ein solches Gespräch erleichtern und in regelmäßigen Abständen wiederholt werden.

Scham spielt dabei eine zentrale Rolle. Viele Teilnehmende berichteten, dass sie sich verletzlich und unsicher fühlen, wenn sie über ihre Erkrankung sprechen. Eine Teilnehmerin erklärte: „Ich will mich nicht verantwortlich fühlen für das, was andere fühlen, wenn ich über Krankheit spreche.“ Um solche Gespräche zu enttabuisieren, brauche es sowohl Co-Regulation in Gruppen als auch mehr gesellschaftliche Offenheit. Gleichzeitig sprachen andere Teilnehmende auch über die Unsicherheit und Hilflosigkeit der Nicht-Kranken, ein offenes Gespräch zu beginnen. Ein wichtiger Aspekt war dabei der Umgang mit Scham: „Der einzige Weg raus aus der Scham ist, sich verletzlich zu zeigen – aber dazu braucht es auch ein verletzliches Gegenüber.“

Die Diskussion verdeutlichte, dass es oft an Werkzeugen fehlt, um über Krankheiten zu sprechen. Eine inklusivere Sprache und Formate wie Deep-Listening-Räume können helfen, Kommunikation auf Augenhöhe zu ermöglichen. Solche Räume schaffen die Möglichkeit, ohne Unterbrechungen und ohne Wertung über die eigenen Herausforderungen zu sprechen – ein Ansatz, der in Organisationen etabliert werden könnte.

Sichtbarkeit: Krankheiten sichtbar machen und anerkennen

Genau diese Unsichtbarkeit chronischer Krankheiten stellt Betroffene vor große Herausforderungen. „Wenn die Krankheit nicht sichtbar ist, wird sie schnell vergessen“, beschrieb eine Teilnehmerin ihre Erfahrungen. Es braucht Symbole und klare Signale, um das Bewusstsein für chronische Erkrankungen in Teams und Organisationen zu verankern. 

Doch Sichtbarkeit birgt auch Risiken: Sich sichtbar zu machen, ohne dass darauf reagiert wird, wird als besonders verletzend empfunden. „Menschen brauchen Symbole, um sich daran zu erinnern, dass jemand krank ist. Wenn dann aber nichts passiert, ist es das Schlimmste“, so eine Teilnehmerin. Auch die Art der Erkrankung spielt eine Rolle: „Mit einem Hirntumor bekommt man mehr Sympathie als mit Depression. Das bringt auch einen Raum zum Schweigen.“ In Anlehnung an die Diversity-Arbeit wurde als Wunsch an die Nicht-Kranken formuliert: „Vergiss, wenn Du mit mir sprichst, dass ich eine kranke [schwarze] Person bin. Und vergiss nie, dass ich eine kranke [schwarze] Frau bin!“. Dies setzt also eine Bereitschaft zu einer tieferen Auseinandersetzung und zu persönlichen Lernprozessen voraus. 

 

Gleichzeitig berichteten viele Betroffene unter den Teilnehmenden von vielfachen Diskriminierungserfahrungen am Arbeitsplatz durch Vorgesetzte, die auch den vorsichtigen Umgang mit der Selbstoffenbarung rechtfertigen

Eine offene Sichtbarkeit kann nicht nur Betroffene entlasten, sondern auch Organisationen bereichern. Eine Teilnehmerin berichtete, dass ihre Organisation sich bei ihr für das Wissen bedankt habe, das ihre Krankheit dem Team gebracht habe. Diese Haltung ermöglicht es, chronische Erkrankungen nicht nur als Belastung, sondern auch als Quelle von Reflexion und Transformation zu sehen.

Rücksichtnahme: Zwischen Empathie und Veränderung

Rücksichtnahme ist ein vielschichtiger Begriff. Für viele bedeutet er eine Balance zwischen individueller Fürsorge und der Forderung nach Veränderungen in Organisationen. „Verlässlichkeit ist zentral. Versprechen, die nicht gehalten werden, sind die echte Katastrophe“, wurde betont. Hier liegt eine große Verantwortung bei Führungskräften und Teams, um eine Kultur der Verbindlichkeit zu schaffen.

Im Umgang mit chronischen Erkrankungen ist wiederum ein Perspektivwechsel essentiell: Statt auf Heilung zu fokussieren, geht es darum, ein gutes Leben mit der Krankheit zu führen und sie in den Alltag zu integrieren. Gut gemeinte Ratschläge wie „Probier doch mal…“ helfen nicht, da sie die Realität chronischer Erkrankungen verkennen. Wichtiger ist es, Betroffenen zuzuhören, ihre individuelle Bewältigung und Kompetenz im Umgang mit ihrer Krankheit anzuerkennen und passgenaue Aufgabenzuschnitte zu ermöglichen. „Wenn mir Aufgaben übergeben werden, die nicht passgenau ausgerichtet sind auf das, was ich leisten kann, wird mein Leben nicht einfach nur etwas anstrengender, sondern es ist eher ein Rausschmiss oder komplette Exklusion für mich!“, lautete eine Aussage. 

Doch Rücksichtnahme darf nicht in Bevormundung ausarten. Betroffene berichteten, dass sie sich oft unter Druck gesetzt fühlen, dadurch, dass sich ein riesiger „sozialer Schuldenberg“ auftürmt. Eine Teilnehmerin plädierte dafür, klare Strukturen zu schaffen: „Ich brauche die Macht, selbst zu bestimmen, was ich tue und was ich nicht tue. Andererseits ist es oft viel einfacher, Verantwortung für andere zu übernehmen, als für sich selbst einzustehen.“

Auch für Teams ist es wichtig, eine klare Differenzierung zwischen akuten und chronischen Erkrankungen vorzunehmen. In einem Beispiel aus einem kleinen Team mit zwei chronisch Kranken und einer gesunden Person wurde deutlich, wie belastend unklare Rollen und Erwartungen sein können, dass bei aller Offenheit im Umgang sich auch leicht Ungleichgewicht einschleichen kann zwischen dem, was geleistet werden will und kann. „Es braucht viel Weichheit und Flexibilität im Umgang miteinander“, lautete ein Fazit. 

Transformation der Arbeitswelt

Die Veranstaltungen zeigten, dass chronische Erkrankungen in der Arbeitswelt eine Vielzahl von Herausforderungen mit sich bringen, für die wir bislang noch wenig Räume, Instrumente und angemessene Sprache besitzen. Angesichts der Entwicklungen in der Gesellschaft und auf dem Arbeitsmarkt können wir es uns nicht leisten, weiter in der Unbeholfenheit und Unwissenheit zu verharren. Es geht darum, in Organisationen eine Kultur des Austauschs zu schaffen, in der Menschen über ihre Krankheit sprechen können, ohne sich schämen oder rechtfertigen zu müssen. Sichtbarkeit und Rücksichtnahme sollten keine Ausnahmen sein, sondern selbstverständliche Elemente inklusiver Arbeitswelten. Gleichzeitig braucht es eine gesellschaftliche Debatte auf Augenhöhe darüber, was echte Inklusion bedeutet. 

In einem angemessenen Umgang mit chronischen Krankheiten in Organisationen stecken allerdings nicht nur Herausforderungen, sondern auch große Potenziale. Chronisch Kranke sind oft Vorreiter einer Transformation, wenn wir sie als Seismographen verstehen für das, was falsch läuft und zu Stress und Überlastung in gesamten Teams führt. „Ständige Meetings sind mir unmöglich – aber auch für andere Kolleg:innen oft sehr anstrengend. Letztendlich sind es Auswüchse von Bequemlichkeit, sich selbst Informationen zusammen zu suchen“. „Wir brauchen chronisch Kranke, um die Arbeitswelt zu verändern“, hieß es in der Diskussion. Mit kreativen Lösungen wie flexiblen Arbeitszeiten, Buddy-Systemen und Reflektionsräumen können Organisationen ein Umfeld schaffen, in dem alle – ob gesund oder krank – produktiv im Rahmen ihrer Möglichkeiten und zufrieden arbeiten können. 

Am Ende der drei Veranstaltungen hatten wir das Gefühl, gerade nur ein wenig an der Oberfläche gekratzt zu haben. „Wir brauchen eine Bewegung!“, lautete eines unserer Fazits. Genau deswegen und weil wir mehrfach gehört haben „dies ist das erste Mal, dass ich mich so offen austauschen konnte“, werden wir 2025 weitermachen. Von Januar bis Juni haben wir sechs weitere SOCIUS salons geplant:

Autorin Joana Ebbinghaus

sinnvoll zusammen wirken

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