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Wieviel Struktur braucht gelingende Selbstorganisation?

Jazz ist eine in vieler Hinsicht faszinierende Angelegenheit: Als Gegenstück zum symphonischen Korsett gefügter Partituren und dem Streben nach standardisierter Präzision ist er Sinnbild für den emergenten Fluss gemeinsamer Entwicklung. Die schillernde Jazz-Metapher hat Arbeiten von Karl Weick, Mary Jo Hatch und anderen inspiriert und den rationalistischen Managementdiskurs des letzten Jahrhunderts nachhaltig aufgemischt. Aktuell wird Jazz gerne als Bild gelingender spontaner Interaktion im Diskurs der Selbstorganisation bemüht. Wo Freiheitsgrade dabei in Antithese zur Struktur gestellt werden, schießt die Metapher manchmal auch über ihr Ziel hinaus.

Dass Jazz in besonderer Weise auf freien Formen des Zusammenwirkens und Improvisation basiert, trifft in jedem Fall zu. Aber natürlich hat er Strukturen – wenn auch manchmal nur in minimaler Form. Zu ihnen gehören Rhythmen, Tonarten und Akkordfolgen mit ihren Skalen als Bezugsrahmen der Improvisation. Jenseits des Free Jazz stellt dabei der Fundus an Jazz-Standards, den die meisten erfahrenen Jazzmusiker:innen zumindest teilweise inhaliert haben, eine gemeinsame Spielfläche dar. Die Interaktions- und Impulsdynamik regelt schließlich ein Codex, der beschreibt, wie in einer Session individueller Lead (Solo) und Background-Support (Comping) sequenziert werden, und wie sich Präsenz auf der Bühne flüssig und gleichgewichtig verteilt. Wenn sich alle dieser Spielregeln und Bezugspunkte bewusst sind (oder zumindest für sie sensibilisiert sind) und auch im experimentellen Modus auf sie zurückgreifen können, fließt Jazz. Wenn die Spielenden diese Konventionen nicht kennen oder ignorieren, wenn die strukturelle Offenheit für Ego-Shooting, exzessive Musterunterbrechungen oder Stimmen-Konkurrenz missbraucht wird, bricht der Flow schnell zusammen.

DIE TYRANNEI DER STRUKTURLOSIGKEIT 

Abgesehen von solchen Rahmungen und Soft Structures gibt es in jedem System informelle Strukturen. In den frühen 1970er Jahren brachte Jo Freeman eine kontroverse Kritik am Modell der „strukturlosen Gruppe“ innerhalb der feministischen Bewegung vor. In ihrem Aufsatz The Tyranny of Structurelessness argumentiert sie, dass das Fehlen formaler Strukturen und Hierarchien die unvermeidliche informelle Machtdynamik nur verschleiert.

 „Eine ‚laissez faire‘-Gruppe ist ungefähr so realistisch wie eine ‚laissez faire‘-Gesellschaft; die Idee wird zum Deckmantel für die Starken oder die Glücklichen, um eine unangefochtene Hegemonie über andere zu etablieren. Diese Hegemonie lässt sich so leicht errichten, weil die Idee der ‚Strukturlosigkeit‘ die nicht Bildung informeller Strukturen, sondern nur die formeller Strukturen verhindert. (…) Solange die Struktur der Gruppe informell ist, sind die Regeln, nach denen Entscheidungen getroffen werden, nur einigen wenigen bekannt, und das Herrschaftswissen ist auf diejenigen beschränkt, die die Regeln kennen“. (Freeman, 1971)

Das Hauptargument von Freeman ist klar und bestechend: Während informelle Macht keine Verpflichtung zur Verantwortung gegenüber der Gruppe als Ganzes beinhaltet, geht formalisierte Autorität immer mit ihrer Kehrseite einher – der Rechenschaftspflicht. Insofern ist es vorzuziehen, eine transparente formale Hierarchie zu etablieren (gerne auch themenbezogen oder in Rotation), als eine intransparente informelle Hierarchie entstehen zu lassen. Ein ähnliches Argument hat Max Weber in Bezug auf die Bürokratie gemacht: Der Fortschritt der Bürokratie besteht darin, dass sie willkürliche Herrschaft aufhebt und durch rationale Macht ersetzt, wodurch der Missbrauch von Macht, Privilegien und Diskriminierung eingeschränkt wird. Im besten Fall verbindet ein gut strukturiertes System also Macht mit Verantwortlichkeit.

In weiten Kreisen des liberalen und linken Spektrums herrscht trotz dieser Erkenntnis ein Misstrauen gegenüber formalisierten Strukturen: Struktur engt Freiheit ein, erstickt Initiative und erscheint generell als Gegenteil von Selbstbestimmtheit. Diese Position kommt prägnant in einem Artikel zum Ausdruck, der als Reaktion auf Freemans Position in der Anarchistischen Bibliothek unter der Überschrift Die Tyrannei der Tyrannei veröffentlicht wurde:

„Was wir definitiv nicht brauchen, sind noch mehr Strukturen und Regeln, die uns einfache Antworten und vorgefertigte Alternativen liefern, aber keinen Raum bieten, in dem wir unser Leben selbst gestalten können“ (Levine, 1979).

So sehr sich hier Resonanz zur Klaustrophobie der symphonischen Welt einstellt, so deutlich klingt die wichtige Rolle der minimalen Strukturen im Jazz nach. Gelingende Interaktion – auch im Kontext von Selbstorganisation – erfordert strukturelle Rahmen und Rollengerüste. Ralph Stacey stellt hierzu treffend fest: 

„Die Bedeutung von Selbstorganisation und der daraus entstehenden kollektiven Ordnung wird leicht missverstanden. Im Kontext von Organisationen neigen wir dazu, Selbstorganisation mit Selbstermächtigung oder schlimmer noch mit Regellosigkeit gleichzusetzen, in der jeder alles tun kann – was zu Anarchie führt… Selbstorganisation ist keine Regellosigkeit, sie ist genau das Gegenteil davon“. (Stacey, 2010)

ATTRAKTOREN IN SELBSTORGANISIERENDEN SYSTEMEN

Systemdynamisch gesehen hat Struktur zwei Gesichter: Strukturen stabilisieren ein System und machen es resilient gegen Umweltstörungen; gleichzeitig hemmen sie als stetig wachsende Betondecke (Struktur brütet mehr Struktur) zunehmend seine Anpassungs- und Entwicklungsfähigkeit. Als emergente Muster sind sie das Ergebnis von Selbstorganisation, als sedimentierte Konfigurationen sind sie ihr Feind. Was genau passiert dazwischen? Ein kleiner Ausflug in die Systemdynamik.

Selbstorganisation ist der Prozess, durch den Ordnung aus lokalen Wechselwirkungen zwischen Teilen eines ursprünglich ungeordneten offenen Systems entsteht. Wie diese Definition zeigt, geht es hier weder um einen absichtlichen oder gar zielgerichteten Gestaltungsakt noch um eine bestimmte resultierende Konstellation. Egal, ob im Kontext natürlicher oder sozialer Phänomene, der Prozess der Selbstorganisation folgt den Mechanismen der Systemdynamik: In dem Maße, wie ein offenes System Energie mit seiner Umwelt austauscht, erhält es Impulse, die seine Ordnung in Frage stellen und stören. Interne Rückkopplungsschleifen des Systems wirken sich dabei auf unterschiedliche Weise auf diese Störungen aus: Während negative Rückkopplungsschleifen das Gleichgewicht des Systems schützen (indem sie äußere Impulse dämpfen), verstärken positive Rückkopplungsschleifen sie und laden so zu einer eskalierenden Systemveränderung ein. Es kann dabei entweder zur systemweiten Transformation oder zur internen Differenzierung kommen.

Die Wirksamkeit dieser Gesetzmäßigkeiten in Systemen bedeutet nicht, dass sie nicht von außen manipuliert werden können: So wie die angewandte Physik Selbstorganisation in Energie- und Materiesystemen zu lenken sucht (z. B. um Laserstrahlen zu erzeugen), ist die Biologie bemüht, die Musterbildung in Bakterienkolonien zu steuern, während ein Teil der angewandten Sozialwissenschaft nach Wegen sucht, Diskurse und kollektives Handeln in Gruppen und Gesellschaften zu beeinflussen. Wenn wir gelingende Selbstorganisation befördern wollen, müssen wir in ähnlicher Weise die Musterbildung im System moderieren.

Um die Entstehung von Verhaltensmustern in offenen nichtlinearen Systemen zu verstehen, ist es hilfreich, sich mit dem Konzept von Attraktoren vertraut zu machen. Ein Attraktor markiert einen bestimmten Bereich in der Karte möglicher Systemzustände. Die vollständige Karte wird als „Zustandsraum“ bezeichnet. Der Attraktor beschreibt die Menge der Zustände innerhalb dieses Raums, zu denen das System auf natürliche Weise tendiert. Dabei kann es sich um einen einzelnen Gleichgewichtspunkt (z.B. den tiefsten Punkt eines Wasserbasins), eine Linie (z.B. die Umlaufbahn eines Planeten um die Sonne) oder sogar um einen sich ständig ändernden Pfad handeln (z.B. ein Eiswagen, der sich durch ein Stadtviertel bewegt – in der Systemtheorie poetisch Strange Attractor genannt).

Je nach Stärke der Attraktoren weist das System mehr oder weniger „Rauschen“ auf, also Systemzustände, die nicht zum Attraktorensatz gehören und somit das „Mainstream“-Verhaltensmuster verwischen (nebenbei bemerkt: dieses Rauschen ist eine der Voraussetzungen für Innovation). Im Jazz ist einer der Hauptattraktoren die verwendete Akkordfolge – sie definiert eine Reihe von Skalen mit Tönen, die das Rückgrat der Musik bilden. Die Spieler:innen können von diesem Pfad abweichen und Töne außerhalb der Skala verwenden, um kreative Spannung aufzubauen. Wenn dies überstrapaziert wird, schlägt die Spannung in dissonantes Chaos um. Womit wir wieder bei den minimalen Strukturen sind…

STÜTZSTRUKTUREN

Die Idee der Minimum Viability geht auf Eric Ries‘ Konzept des Minimum Viable Product (MVP) zurück, das „nur die Merkmale aufweist, die den Release des Produkts ermöglichen, und nicht mehr“. Eine Übertragung auf die Gestaltung sozialer Systeme wurde im Rahmen des Agilitätsdiskurses etwa mit der Idee der Minimum Viable Bureaucracy (MVB) vorgestellt. Hierbei geht es darum, genau so viele Prozesse zu etablieren, dass Systeme funktionieren, aber nicht so viele, dass sie schwerfällig werden.  Das Konzept der Minimum Viable Structures bezieht sich nicht auf Produktfeatures oder Prozesse, sondern auf stabile Konfigurationen überhaupt. Es fragt, mit wie viel Fluidität wir leben können und wollen und wo Rankgitter nötig sind, um eine bestimmte Ordnung oder ein bestimmtes Handlungspotenzial aufrechtzuerhalten. 

So wie Tonleitern nicht vorschreiben, welche Note zu welchem Zeitpunkt zu spielen ist, schreiben Rankgitter nicht vor, wie Pflanzen wachsen – sie bieten lediglich einen unterstützenden Rahmen für fruchtbares und produktives Wachstum. Sie sind Stützstrukturen (Scaffolding Structures), die sich in den Worten der Forschungsgruppe MD als „Design höherer Ordnung bezeichnen lassen.

Sie ermöglichen es, „Emergenz zu nutzen, anstatt zu versuchen, sie entweder wegzuplanen oder sie als Unvollkommenheit unserer Vorhersagetechniken zu betrachten. Wir sind mit Emergenz konfrontiert, also sollten wir herausfinden, wie wir sie nutzen können! Die Idee ist, das Design auf die Strukturen auszurichten, die die Dynamik des Systems steuern, und nicht auf die Ergebnisse selbst: Wir bezeichnen solche Strukturen als Stützstrukturen“. (MD-Manifest/Emergencebydesign, 2018)

Ich stelle im Folgenden zwei relevante Arten solcher Stützstrukturen vor: Gestaltungsprinzipien, die die Grundlage für Praktiken im Einklang mit der gemeinsamen Wertebasis bilden; und Adapterpraktiken, die auf Vereinbarungen und Standards beruhen, mit denen Kompatibilität und reibungslose Zusammenarbeit innerhalb des Systems gewährleistet wird.

GESTALTUNGSPRINZIPIEN

Die erste Art von Stützstrukturen sichert die Integrität der kollektiven Wertebasis und die Abgrenzung zur Umwelt, mithin die Identität des Systems. 

Attraktoren sind nicht notwendigerweise das Ergebnis bewusster Organisationsgestaltung. Sie ergeben sich häufig auch aus der Einbettung in Systeme höherer Ordnung. So können beispielsweise kulturelle Normen oder auf einem Markt vorherrschende Strategien die Verhaltensdynamik auf Organisationsebene prägen. Bewusst gestaltete Strukturen schirmen Organisationen vor solchen Umwelteinflüssen ab und schaffen neue Attraktoren, die eine gewünschte interne Entwicklung fördern. Ein praktisches Handwerkszeug für diese Gestaltungsarbeit findet sich in der Operating System Canvas, die von The Ready entwickelt wurde. Sie fußt auf folgender Logik: Für jede Funktion, die wir nicht bewusst gestalten, werden wir höchstwahrscheinlich die dominante Lösung unserer Umwelt „erben“. Wenn wir unser Vergütungsmodell nicht bewusst (zum Beispiel bedarfsorientiert) gestalten, werden wir wahrscheinlich auf die „normalen“ leistungsbezogenen Vergütungsmodelle zurückgreifen. Wenn wir nicht bewusst eine rotierende oder verteilte Machtstruktur etablieren, werden wir höchstwahrscheinlich die klassischen Führungskonstellationen (und mit ihnen die bekannten Verantwortungsengpässe und Machtkonflikte) erben. Gleiches gilt für Entscheidungsmodelle und vieles mehr. Es ist dabei sinnvoll, sich auf die Aspekte zu konzentrieren, die für unseren Purpose und unsere Wertebasis von besonderer Bedeutung sind. Die Grundlagen dieser Aspekte werden in den Gestaltungsprinzipien (Core Principles) kodifiziert.

ADAPTERPRAKTIKEN

Die zweite Gruppe relevanter Stützstrukturen in selbstorganisierten Systemen ist eher funktional: Sie bezieht sich auf die Kompatibilität der Beiträge innerhalb des Systems. Da eine der Kerneigenschaften der Selbstorganisation ein hohes Maß an Autonomie der Untereinheiten ist, sind Standards und Prozesse, die das Zusammenspiel dieser Einheiten strukturieren, unabdingbar

  • Wo werden Informationen gespeichert?
  • Was sind Koordinationspunkte und Gefäße der gemeinsamen Abstimmung?
  • Wie werden die Einheiten und Rollen beauftragt und wie werden sie für ihre Aufgabenerfüllung zur Rechenschaft gezogen?
  • Welche Standards muss ein interner Service oder ein internes Produkt erfüllen, um nutzbar zu sein?
  • Wie sehen Entscheidungsprozesse aus, wenn mehr als eine Einheit beteiligt ist?
  • Wie definieren wir gemeinsame Schlüsselkonzepte und Metriken?

Diese und weitere Fragen wollen beantwortet werden, damit ein lose gekoppeltes System von Einheiten synergetisch und reibungslos zusammenarbeiten kann. Auch hier geht es nicht darum, alles zu standardisieren, sondern die kritischen Punkte herauszuarbeiten, die das Zusammenwirken befördern. Methodisch findet sich für diese Arbeit einiges im Handwerkskasten der Prozessentwicklung, z.B. im Bereich der Smart Structured Workflows, die ad hoc dezentral getriebene und verbindlich strukturierte Prozesselemente verbinden.

Wo landen wir nun? Strukturlosigkeit ist eigentlich nicht denkbar – Struktur ist einfach immer da, in der Musik wie in der Organisation. Wir können uns lediglich bewusst zu machen, wie wir Strukturen hilfreich gestalten und wie wir uns souverän in ihnen bewegen. Dass dabei nicht möglichst viel, sondern möglichst wenig regulierte Verbindlichkeit ins Spiel kommt – gerade genug, um das strategisches Zusammenwirken zu garantieren, aber so wenig, dass Improvisation und Emergenz ihre Magie entfalten können – dies ist der Grundgedanke von Minimal Viable Structures. 

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