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Autor: Andreas Knoth

 

Everything will unfold with more grace if we stop trying to control and instead choose to simply sense and respond.

(Frederic Laloux, Reinventing Organisations)

 

Zwischen „nicht immer nur auf die Umwelt reagieren“ und „nicht wieder nur für die Schublade planen“ läuft in der Strategiearbeit ein schmaler Grat. Die zuletzt von Laloux in den Diskurs gebrachte Denkfigur des „Sense & Respond“ beschreibt einen Modus zwischen diesen beiden Klippen. Sie ist weder sauber durchdekliniert noch widerspruchsfrei – aber sie verströmt den Duft einer zeitgemäßen Epochenüberschrift.

Das periphere Sichtfeld der Organisation

Im Sense & Respond Modus (unbeholfen übersetzbar als „Spüren & Antworten“) werden Resonanzen zu internen und externen Dynamiken gesucht, die gerade erst entstehen. Es geht um das Aufgreifen einer Zukunft, deren Keime im Hier und Jetzt sichtbar werden. Dieses Spüren in die Welt hinein ist dabei alles andere als trivial: Denn das Neue oder Unpassende blenden wir bekanntlich oft in selektiver Wahrnehmung aus oder interpretieren es durch Filter, die unseren mentalen Modellen gerecht werden. Wenn ich Zeitung lese, ist die Chance hoch, dass ich die Dinge finde und im Kopf behalte, die in meine Sicht der Welt passen. Das Unpassende überlese ich schnell oder deute es um. Im strategischen Prozess unterliegen „Schwache Signale“, die als Vorboten großer Entwicklungen im Rauschen der Welt aufblinken, ebenfalls diesen Filtern und Verformungen. Wir müssen sie bewusst suchen – auch an den Rändern unseres Sichtfeldes.

Gestützt werden kann diese Suche zum Beispiel durch die Kultivierung von Netzwerken als erweiterte Wahrnehmungsoberfläche – sozusagen ein Training des peripheren Sehens der Organisation. Hierfür muss das Netzwerk zunächst einmal mitgeteilt bekommen, an welcher Art von Signalen die Organisation interessiert ist, und wohin solche Hinweise gesendet werden können. Auch kognitive Filter lassen sich strukturell ausgleichen, etwa durch die systematische Kontrastierung der Perspektiven und Interpretationen unterschiedlicher Beobachter. Ein anderer Weg ist es, den Signalen mit möglichst unverbauter Intuition zu begegnen, wie es Otto Scharmer im Ansatz des Presencing beschreibt.

Das Sensing bezieht sich aber nicht nur auf Signale aus der Umwelt, sondern ebenso auf das Spüren in den sozialen Innenraum, auf die Achtsamkeit für Impulse und Entwicklungen in der Organisation. Wo entstehen gerade neue Ideen und Handlungsrichtungen? Wer hat gerade etwas Wesentliches aufgespürt? Wo ist Potential zur Bündelung von Aufmerksamkeit (oh wertvollste Ressource unserer Zeit…)? Wie sensibel und synchronisiert die Reaktion auf solche Dynamiken ist, hat etwas mit der Jazz-Improvisations-Kompetenz und Eingespieltheit der Mitglieder zu tun: zuhören, mitgehen und eigene Impulse setzen – all das macht gelingende emergente Entwicklung aus und ist nicht selbstverständlich. Laloux’s Konzept des Evolutionären Sinns beschreibt, wie mit einer so gelebten Achtsamkeit und der strukturellen Erlaubnis, Richtungs-Entscheidungen nicht nur an der Spitze, sondern in jedem Teil der Organisation zu treffen, das „Bigger Picture“ der strategischen Linien im gemeinsamen Prozess entsteht. Planung und Umsetzung sind dabei nicht mehr getrennte Abläufe, sondern verwoben. Die Sinngebung ergibt sich im Laufen.

Wie beim Open Space Ansatz frage ich mich hier: Ist das dann eigentlich noch strategisch? Und wenn nicht: Ist das schlimm? Hat nicht die Entdeckung der Achtsamkeit eine post-strategische Epoche eingeläutet, in der es sich gut leben lässt? Wenn mich eine Organisation anfragt, einen Strategieprozess zu begleiten, ist meine erste Rückfrage, wofür sie überhaupt eine Strategie braucht. Oft löst diese Frage eine Mischung aus Schulterzucken und hochgezogener Augenbraue aus: Strategie braucht man halt. Ach ja? Wenn Strategie tatsächlich nur ein Muster im Strom von Entscheidungen ist, dann muss da ja erstmal nichts vorgedacht werden – sie entsteht von selbst. Die Augenbraue bleibt hochgezogen und ich merke, dass auch mir diese Deutung nicht reicht. Ich will die Welt ja nicht einfach nur entdecken und mit ihr driften, sondern sie auch gestalten. Die großen Linien brauchen eine Leinwand. Irgendeine Zutat fehlt also noch. Geht es auch vielleicht ein bisschen evolutionär und ein kleines bisschen klassisch? Wie können Kompassleistungen und minimale Steuerung im Sense and Respond Modus aussehen?

 

Navigation durch Sondierung

Zunächst lohnt sich hier der Blick auf den Kontext. Kontexte weisen mehr oder weniger wahrnehmbare Ordnungen auf, die jeweils unterschiedliche Navigationsformen erfordern. Eine hilfreiche Landkarte bietet dazu das Cynefin Framework, das vier Ordnungen beschreibt:

  • simple Systeme (einfache Ordnungsregeln, Beispiel: ein Toaster),
  • komplizierte Systeme (vielschichtige Ordnungsregeln, Beispiel: ein Computer),
  • komplexe Systeme (dynamisch sich überlagernden Ordnungsregeln, Beispiel: ein Wald) und
  • chaotische Systeme (undurchsichtige Ordnungsregeln, die keine Vorhersage erlauben, Beispiel: äh… ein Kindergeburtstag mit 9jährigen Jungs).

Quelle: Snowden & Boone, Harvard Business Review, Nov 2007

Auch wenn komplexe Umwelten derzeit die größte Faszination ausstrahlen, kann die Beschwörung der VUCA Welt nicht darüber hinwegtäuschen, dass Leben immer schon Dynamik und Komplexität bedeutet. Die Zutaten Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität sind eine treffende Beschreibung der Welt an sich, mit oder ohne ihre fortschreitende Verdichtung und Beschleunigung. Sie markieren den Unterschied zwischen der (vereinfachenden statischen) Karte und dem (komplexen dynamischen) Terrain. Insofern haben wir es derzeit vor allem mit dem lange fälligen Zusammenbruch der modernen Wahnvorstellung der Beherrschbarkeit zu tun.

Das Cynefin Framework lässt sich unter anderem zur differenzierten Indikation strategischer Ansätze nutzen. Nach Snowden & Boone (unbedingt lesen!) erfordern Komplexe Umwelten etwa einen Strategie-Ansatz, bei dem an Stelle des klassischen analytischen Herangehens („Sense-Analyse-Respond“) ein experimentelles Vorantasten durch Sondierungen und Testballons steht („Probe-Sense-Respond“). In chaotischen Kontexten ist wiederum ein robustes Handeln mit laufender Beobachtung seiner Wechselwirkungen angebracht („Act-Sense-Respond“). Dies passt zu der Einsicht, dass komplexe Strategien nur in simplen Kontexten funktionieren, während komplexe Umwelten zwar ebenso komplexe Innenwelten aber möglichst simple Handlungsregeln erfordern.

Ich lese das, finde es super und frage mich, wie ich mir das nun vorstellen kann. Was genau machen wir denn da auf der nächsten Strategie-Klausur? Und gibt es jetzt am Ende einen Plan oder nicht?

 

Die Kunst der Drei-Viertel-Offenheit

Um hier weiterzukommen, lohnt sich eine Sichtung von Modellen, die große Offenheit und minimale strategische Verankerung verbinden. Sie sind nicht so dicht gesät, aber sind im Kommen (als schon nicht mehr ganz so schwaches Signal). Im Servicebrief Oktober 2016 haben wir bereits den Ansatz der Chancenorientierten Entwicklung (opportunity driven development) nach Peter Skat-Rördam vorgestellt. Er nimmt die Frage in den Fokus, welche Entwicklungen es braucht, damit die Organisation im Sinne ihrer „Strategischen Absicht“ einen relevanten Ausschnitt der Chancen ihrer Umwelt gut erkennen und nutzen kann. Die großen Linien beziehen sich damit nicht auf das Außen, sondern auf den Innenraum der Organisation. Strategiearbeit wird damit zur Organisationsentwicklung und zum kontinuierlichen Schleifen an den Funktionen des Sensing und Responding.

Als weiteres drei-viertel-offenes Modell lässt sich der Ansatz der Gelenkten Evolution betrachten, den Lechner & Bär beschreiben. Hier werden in einem kontinuierlichen Experimentiermodus strategische Initiativen gestartet und selektiv verstärkt oder abgeschwächt. Entwicklungsimpulse werden dabei strukturiert durch drei Phasen geführt: „Variation“ (Generieren neuer Ideen), „Selektion“ (Filtern vielversprechender Ansätze) und „Retention“ (Verankerung erfolgreicher Modelle durch Ressourcenausstattung, oder auch Dämpfung nicht erfolgreicher Modelle). Wie in Laloux’ Bild des evolutionären Sinns können die Initiativen und Impulse an jeder Stelle der Organisation entstehen. Die Selektion und Steuerung ist hier allerdings klassisch in einer strategischen Instanz lokalisiert und nicht dispersiv.

Spannend ist nun noch die Frage, was Evolutionäre Strategie an organisationalen Voraussetzungen braucht? Was genau sind die „Dynamischen Fähigkeiten“ (dynamic capbilities), die es Organisationen erlauben, ihre strategischen Antworten, vielleicht sogar ihre Ressourcenbasis und ihre Geschäftsmodelle im Laufen zu verändern? Drei Dinge springen ins Auge: Erstens ist ein hohes Maß an „Real Time Kommunikation“ nötig, also möglichst direkte Interaktion mit kurzen Reaktions- und Feedbackzeiten (dies muss gar nicht immer face-to-face laufen, sondern kann durchaus auch intelligent medial vermittelt sein). Jazz-Improvisation ohne Unmittelbarkeit funktioniert nicht so recht. Zweitens erfordern evolutionäre Strategien experimentierfreudige Kulturen, in denen beherztes und sensibles Agieren gleichermaßen gefördert werden. Räume für spielerische Freiheit, Fehlerfreundlichkeit, flüssige Wechsel von Leadership und Followership – auch das will gelernt sein. Drittens sind Strukturen angezeigt, die schnell rekonfiguriert werden können. Hierfür stehen – den Netzwerk- und Agilitäts-Diskursen sei Dank – mittlerweile diverse Modelle zur Verfügung – von elastischen Rahmenbauten („Semi-Strukturen“), Dynamischen Rollenboards bis hin zu modularen Bausteinsystemen im Lego-Modell.

Und schon wieder Buzz Words… Soweit ich sehen kann, beginnt nun also die eigentliche Arbeit. Es kann durchaus sein, dass es ab hier keine sinnvollen Modellrezepte mehr gibt, sondern dass die jeweils passende Ausgestaltung der Strategie-Praxis individuell zu entwickeln ist. Mir scheint dabei: die größte Herausforderung des Sense and Respond Modus ist weder prozessual noch strukturell aufgehängt, sondern hat etwas mit dem zu tun, was die Entwicklungspsychologie „Urvertrauen“ nennt.

 

Literatur

  • Frederic Laloux, (2015): Reinventing Organizations: Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit, Vahlen.
  • Snowden & Boone (2007): „A Leader’s Framework for Decision Making“. Harvard Business Review, Nov 2007
  • Schoemaker, P.J.H. and Day, G.S., (2009): „How to make sense of weak signals“ from Sloan Management Review 50 80-89, Cambridge, Mass.: Massachussetts Institute of Technology
  • Peter Skat-Rördam (1999): Changing Strategic Direction: Practical Insights into Opportunity Driven Business Development Copenhagen Business School Press
  • Lechner, Christoph& Bär, Lukas (2008) Gelenkte Evolution – Strategiearbeit in Zeiten erhöhter Unsicherheit. Scorecard: das Themenmagazin für Führungskräfte, (2). 12-13.

 

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