SOCIUS.Blog

Strategiediskussionen in Organisationen, die wir begleiten, sind zunehmend von Spannungen gezeichnet. Wo um den „richtigen“ Wirkungsansatz gerungen wird, werden Diskussionen dabei leidenschaftlich und beherzt: Oft ist längst klar wogegen wir sind, aber wofür sind wir eigentlich? Und was genau braucht es, um das zu erreichen?

Während Wirkungsorientierung in den 2010er Jahren vor allem ein von großen Stiftungen getriebenes Thema war, gewinnt die Frage nach sozialen und gesellschaftspolitischen Wirkungen mit der zugespitzten Wahrnehmung der Polykrise neue Wucht. Wenn es fünf vor zwölf ist, sollten wir wissen, was sich durch unser bescheidenes Tun wirklich verändert. Und wenn alles mit allem zusammenknäult, müssen wir uns immer wieder vergewissern, was unsere Rolle und unser Beitrag auf dem Weg zu einer besseren Zukunft ist – wie auch immer wir sie definieren.

Verbinden wir die Linse der Wirkungsorientierung mit der Agenda gesellschaftlicher Transformation, öffnet sich der Blick auf die strategische Praxis sozialer Bewegungen – und damit auch auf das Dilemma ihrer konkurrierenden Komplementarität.

Tiefgreifender gesellschaftlicher Wandel erfordert Veränderung auf drei Ebenen:

  • Auf der Makroebene wird der Wandel des bestehenden Systems – neben der beharrlichen reformatorischen Arbeit in und an Strukturen – durch Widerstand und engagierten Kampf gegen etablierte Verhältnisse erwirkt – die „Straße“.
  • Auf der Mesoebene bieten gesellschaftliche Nischen Raum für ganzheitliche Experimente zur Entwicklung und Erprobung neuer sozialer Praxis – sei es in Conscious Communities, utopischen „Gewächshäusern“ oder Reallaboren – die „Insel“.
  • Auf der Mikroebene braucht es Räume persönlicher Entwicklung, um gesellschaftliche Transformation in neuen Praktiken und Haltungen individuell vorzubereiten und zu verankern – das „Kloster“.

Die drei Ansätze gehören zusammen: die Veränderung des Bestehenden macht ohne erprobte Alternativen keinen Sinn. Eine utopische Insel hat auf Dauer keinen Wert, wenn die Welt um sie herum in Flammen steht. Und eine neue Praxis, die mit überkommenen Gewohnheiten und (Schon)Haltungen ausgelebt wird, bleibt im Alten stecken. 

Das Zusammenspiel von Nischen und etablierten Systemen (Regimes) ist in der Multi-Level Perspektive gut beschreiben (Geels, 2022). Auch, wie Entwicklung auf individueller Ebene gesellschaftliche Entwicklung befruchten kann, liegt auf der Hand: Sowohl der Kampf als auch das Engagement in sozialen Innovationsräumen sind Booster persönlicher Entwicklung. Und: Kampagnen für systemischen Wandel brauchen einen Call to Action, der alle Akteur:innen in die Verantwortung nimmt, die soziale Reproduktion gesellschaftlicher Realität zu unterbrechen.

Die Forschung zu sozialen Bewegungen bestätigt diese Forderung nach integrierten Strategien: Bewegungen, die alle drei Ebenen verbinden, erwirken nachhaltigere Transformationen, als solche, die sich auf nur eine Ebene beschränken.

  • Als positives Beispiel integrierter Transformation lässt sich die von Gandhi geführte Indische Unabhängigkeitsbewegung betrachten. Sie wurzelt in der Grundhaltung der Satyagraha, deren Prinzipien in spirituellen Gemeinschaften (Ashrams) entwickelt und erprobt, dann innerhalb der Bewegung verbreitet und schließlich beharrlich in Kampagnen und Aktionen des gewaltfreien Widerstands ins System getragen wurden. 

  • Ein ähnliches Ineinandergreifen findet sich bei der Brasilianischen Landlosenbewegung (Movimento dos Sem Terra), die sich für radikale Landreformen einsetzt. Im Rahmen von Landbesetzungen werden neue kooperative Arbeits- und Lebensformen erprobt. Zugleich werden Aktivist:innen in Schulungszentren ausgebildet und auf die befreiungstheologisch und marxistisch inspirierten Haltungen der Bewegung orientiert. Mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen tritt die Movimento schließlich landesweit für Agrarreformen, gerechtere ländliche Entwicklung und rechtsstaatliche Prinzipien ein.
  • Auch die globale Umweltbewegung vereint alle drei Ebenen: Protestkontexte wie Fridays for Future auf der Straße, Ökodörfer und Regenerative Gemeinschaften als Inseln der Erprobung neuer Praxis und Nachhaltigkeits- und Umweltbildungsprogramme wie etwa „The Week“ als Ansätze von Bewusstseinsbildung und tiefgreifender Selbsttransformation (dabei sind die Ebenen nicht immer stringent miteinander verbunden: mitunter ist die Substrukturierung der Bewegung so stark, dass die Ansätze eigene Attraktorenbassins für unterschiedliche Zielgruppen bilden).  

In freier Wildbahn geraten die unterschiedlichen Transformations-Ansätze immer wieder in Konkurrenz: Conscious Communities lehnen den Kampf im System oft als verbitterte Selbstzerstörung ab, die in der Anti-Haltung auf das Bestehende fokussiert bleibt und im schlimmsten Fall durch politische Kompromisse von ihm korrumpiert wird. Widerstandsbewegungen beäugen utopische Projekte gerne als Eskapismus und Selbsttransformation als pseudo-aktivistisches Wellness-Programm. Menschen, die sich mit tiefer Transformation befassen, neigen dazu, Inner Work als wesentlicher zu betrachten, als die strukturellen Rahmen, die individuelle Entwicklung prägen. 

Die eingangs genannten Spannungen der Selbstverständigung werden von dieser Konkurrenz befeuert. Der Blick für das systemische Ineinandergreifen der drei Ebenen geht dabei oft verloren. Ja, Strategie ist die Kunst das Unwesentliche wegzulassen und einen klaren Fokus zu finden. Und-aber-auch: Nachhaltige Wirkungen in komplexen Systemen erfordern vielschichtige Interventionsansätze

Und wenn wir schon nicht alles alleine können, brauchen wir zumindest Ökosysteme oder Collective Impact Partnerschaften, in denen die Komplementarität der strategischen Ebenen zum Tragen kommt. Es geht nicht um die Alternative von Protest auf der Straße, Utopie auf der Insel oder Selbstentwicklung im Kloster – sondern um ihre sinnvolle Verbindung.

Autor Andi Knoth

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