Liebe Leser:innen,
seit 2008 gestalten wir einmal im Jahr den oe-tag – das Forum für (gemeinnützige) Organisationsentwicklung. Jedes Jahr widmen wir uns einem Thema der Organisationsentwicklung und beleuchten es in Tiefe – etwa Leadership, Kultur, Selbstorganisation oder Improvisation. Der oe-tag war dabei nie ein Event zum bloßen Konsumieren, sondern immer Einladung und Angebot, miteinander ins Gespräch zu kommen: Erfahrungen, Perspektiven und Fragen zu teilen; neue Ideen im kognitiven Austausch oder im aktiven Experimentieren zu erkunden.
Warum ich diese „Vorrede“ schreibe?
In diesem Jahr widmen wir uns den Erfahrungen, Eindrücken und Nachwirkungen der sogenannten „Wendezeit“ – einer Zeit, die in uns allen auf je eigene Weise emotional und erinnerungskulturell nachwirkt. Dabei geht es um strukturelle Themen wie die ausgewogene Repräsentation ostdeutscher Führungskräfte ebenso wie um subtilere Fragen, wie z.B.
- Welche Erzählungen finden heute Resonanz – und welche nicht?
- Wieviel Ambivalenz, Widersprüchlichkeit und Komplexität ist erlaubt in der Verortung von Menschen jenseits plakativer Gegensätze von Wendegewinner oder -verlierer?
- Wie können Erfahrungen von Privilegierung und Verletzung angesprochen und damit weiter be- und verarbeitet werden?
Zum ersten Mal erlebe ich, dass ich im Freund:innenkreis – neben Zustimmung und Anerkennung – auch kritisch hinterfragt werde: „Was ist eigentlich eure Fragestellung?“ – und gleich darauf: „Ist euch bewusst, dass ihr überwiegend westdeutsch sozialisiert seid?“. Diese Fragen und meine emotionale Reaktion darauf haben mir verdeutlicht, wie eng der Diskurs mit unseren persönlichen und kollektiven Identitäten verwoben ist. Ich war – vielleicht etwas naiv – überrascht, wie tief das Thema berührt und wie unsicher ich mich plötzlich fühlte. So paradox es klingen mag, hatte ich zeitweise das Gefühl, als „Wessi“ weniger legitimiert zu sein, überhaupt ein Gespräch zu beginnen, zuzuhören, Fragen zu stellen, zu reden.
Dass wir den diesjährigen oe-tag nicht in Berlin durchführen und vor dem Hintergrund unterschiedlicher thematischer Zugänge einen dialogischen Fokus gewählt haben, war eine bewusste Entscheidung. Vielleicht sind das nur kleine, symbolische Schritte – aber gerade solche Zeichen können bedeutsam sein. Denn wenn wir – unabhängig davon, ob „Ost“ oder „West“ – uns nicht gemeinsam, auch mit Unsicherheit, in den Dialog begeben: Wo und wie soll er dann sonst stattfinden?
Gleichzeitig habe ich in den vorbereitenden Gesprächen ganz andere Erfahrungen gemacht: Gespräche, die mich inspiriert haben – in denen über’s Telefon Neugier, Verbindung und das Bedürfnis nach tiefem Austausch spürbar wurden. Das hat mir Lust gemacht auf mehr – und auf diesen oe-tag. Es macht mich mutig.
Ich gehe diesmal mit mehr Fragen als sonst in den oe-tag. Das wiederum zeigt mir, dass wir dem ursprünglichen Anliegen des oe-tags nahekommen: Räume zu schaffen, in denen echte Begegnung möglich ist – Räume, in denen Freude ebenso Platz hat wie Schmerz, Irritation, Ratlosigkeit oder Erkenntnis. Der oe-tag ist kein Ort für glatte Präsentationen. Er ist ein Ort des Zuhörens, der geteilten Geschichten, der strukturellen Fragen, der Perspektivwechsel – und des gemeinsamen Suchens nach Sprache und Sinn.
Und natürlich stellen wir uns auch die Frage:
Was können wir vom oe-tag mitnehmen, das über diesen einen Tag hinaus trägt? Was lässt sich lernen, das hilft, Strukturen zu schaffen, die echten Austausch ermöglichen – nicht nur einmal, sondern immer wieder?
Wenn es gelingt, dass sich Erfahrung und Widerspruch, Neugier und Wertschätzung begegnen, dann entsteht ein Bild von Wirklichkeit, das nicht unbedingt einfacher, aber ganz sicher reicher ist. Und wenn wir an diesem Tag anfangen, eine Sprache für das Unausgesprochene zu finden und erleben, dass ehrliche Gespräche Verbindung stiften, dann könnte der Tag Teil einer Kultur des Zuhörens werden, die wir in Organisationen und gesellschaftlich so dringend brauchen.
Dafür lohnt sich der Versuch.
Christian Baier
Autor Christian Baier

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