SOCIUS.Blog

Text von Kerstin Engelhardt.

Bitte beachten Sie die folgende Veranstaltung am 24. Mai 2018: SOCIUS labor: Bewegte Biografie

Die Beschäftigung mit der eigenen Biografie, die Einordnung des eigenen Lebensweges verstehe ich als einen wesentlichen Aspekt der Kunst des Lebens. Herkunft, Erlebnisse, private, berufliche und gesellschaftliche Kontexte bilden den Rahmen, in welchem Biografie sich vollzieht, gedeutet und beurteilt wird; verbunden mit Träumen, Sehnsüchten und Wünschen formiert sich daraus das Gesamtwerk, das den eigenen Lebensentwurf speist. Der Blick auf die eigene Biografie zeigt Linien, Brüche und Kontinuitäten; potenzielle Zukunft scheint auf und Ressourcen für praktisches Handeln werden freigelegt. Biografiearbeit ist daher immer auch Selbstsorge mit Wirkungen in das Umfeld. 

Biografische Reflexion beinhaltet stets den eigenen Blick auf sich selbst. Um aber Neues zu entdecken ist der Blick von Anderen hilfreich, denn er fördert den Bezug zur Welt, das Wahrnehmen alter Schätze und das Entdecken neuer Perspektiven. In diesem Sinn ist Biografie immer auch eine soziale Konstruktion und bildet Biografiearbeit einen Möglichkeitsraum durch die Interaktion mit Anderen.

Heutige Gesellschaften unterliegen schnellen Veränderungen; einmal erworbene Wissensbestände tragen nicht mehr über ein ganzes Leben und Wissen wird nicht mehr selbstverständlich von Generation zu Generation weiter gegeben. Auch der Prozess der Wissensaneignung ändert sich rasant und einmal erlernte Berufe müssen immer wieder neu angepasst werden; von „Patchwork-Berufsbiografien“ ist im Diskurs die Rede. Die Durchdigitalisierung von Kommunikation, Alltagsbewältigung und Erwerbsarbeit, so lauten zudem die Prognosen, werden Gesellschaft und Arbeitswelt weiter radikal umgestalten – ohne dass bislang klar erkennbar ist, in was oder wohin genau. Bisherige Selbstverständlichkeiten werden dadurch immer schneller in Frage gestellt und neue Handlungsstrategien erforderlich. Biografische Reflexionen und Re-Interpretationen bilden hier ein wichtiges Instrument, um sich als Individuum behaupten und die Umwelt konstruktiv mitgestalten zu können.

Die im Kontext von gesellschaftlicher Veränderung und individueller Behauptung aus der Praxis heraus entstandene Biografiearbeit kommt in diversen Berufsfeldern zum Einsatz: in der sozialen Arbeit, der Pflege, der Jugend- und Erwachsenenbildung, im Coaching und in der Organisationsberatung. Sie speist sich aus Einflüssen verschiedener (Psycho-)Therapien, aus den Sozialwissenschaften, insbesondere der Biografieforschung, aus den Geschichtswissenschaften und schließlich aus Erkenntnissen der neueren Hirnforschung. Biografiearbeit, so die Einschätzung der Gießener Professorin Ingrid Miethe, verfüge über das Potenzial, „nicht nur eine Methode unter anderen zu sein, sondern sich als konzeptioneller Ansatz in vielen Handlungsfeldern etablieren zu können.“ (Miethe: 9)

In der Fachliteratur wird Biografie definiert als ein lebenslanger Prozess von Aufschichtung und Interpretation von Erfahrungen, die bewusst oder unbewusst in unsere Weltdeutung, gegenwärtiges Handeln und Zukunftserwartungen eingehen. Herausgearbeitet wurde in den vergangenen 25 Jahren ferner, dass Menschen sogar von vorgeburtlichen Erfahrungen geprägt sein können, indem (unbearbeitete) Themen der Familie (unbewusst) an die nächste Generation weiter tradiert werden. Bahnbrechend waren hier die Forschungen zu den Folgewirkungen von Holocaust und Nationalsozialismus.

Unumstritten ist außerdem, dass wir Menschen alle Entscheidungen auf der Grundlage der Verknüpfung von Erfahrungen treffen: Erfahrungen aus unterschiedlichen Situationen zu unterschiedlichen Zeiten. Und schließlich, so formulierte es Gabriele Rosenthal schon 1995, basiert der Prozess der Erinnerns „auf einem Vorgang der Reproduktion, bei dem das Vergangene entsprechend der Gegenwart, der Erinnerungssituation und der antizipierten Zukunft einer ständigen Modifikation unterliegt“ (Rosenthal 1995: 70). Das bedeutet: Jedes Mal, wenn eine Erinnerung hervorgeholt wird, ist sie anfällig für Veränderungen – hier wird ein Detail ergänzt, dort ein Aspekt weggelassen. Die erzählte Erinnerung variiert je nach Gegenüber, also wem berichtet wird und welche Beziehung zu dieser Person oder Personengruppe besteht; sie variiert entsprechend der Botschaft, die ich als Erzählerin überbringen möchte, entsprechend des Bildes, das ich gerade von mir selbst haben möchte, sowie entsprechend des situativen Kontextes, in den sie beim Sprechen eingebettet ist. Und schließlich beeinflussen öffentlicher Diskurs und gesellschaftliche Bewertungen die Erinnerungen bzw. ihre Interpretation und Re-Interpretation.

Das Phänomen, dass sich unangenehme bis hin zu verstörenden Ereignissen stärker im Gedächtnis ablegen und häufiger in der Erinnerung abgerufen werden als angenehme und freudvolle, liegt nach neuesten Erkenntnissen in den menschlichen Überlebensstrategien begründet: Negative Erfahrungen, so lautet verkürzt formuliert die Erkenntnis, wertet das Gehirn in unterschiedlicher Intensität als bedrohlich ein und setzt ein Achtungszeichen – die Erfahrung soll uns weiterhin zur Verfügung stehen, um neue vergleichbare Situationen vermeiden oder anders handhaben zu können.

Auch Bedeutungsreduzierung und Verdrängung als Reaktion auf traumatische Erlebnisse sind ein Schutzmechanismus, um nicht zerstört zu werden. (Unter Trauma verstehe ich Erlebnisse, die die bis dahin individuell erworbenen Bewältigungsmöglichkeiten der Betroffenen übersteigen.) Allerdings, auch das wissen wir aus der Forschung, bleiben traumatische Erfahrungen dauerhaft unbearbeitet, können sie destruktive Folgen entwickeln.

In der Psychotherapie wird dabei wie in der Biografiearbeit die Beschäftigung mit der Biografie in den Mittelpunkt gestellt; Biografiearbeit, so lautet im Fachdiskurs eine wesentliche Abgrenzung, geht jedoch nicht von Störung oder Krankheit aus, sondern baut auf biografisch verankerte (Selbst-)Bildungsprozesse.

Laut Forschung sind unsere Erinnerungen bei allen subjektiven Konstruktionen und Re-Interpretationen im Kern ausreichend genau; ausreichend in dem Sinn, dass der Zweck des autobiografischen Erinnerns nicht darin besteht, die Vergangenheit möglichst unverändert abzuspeichern, sondern uns eine (unverwechselbare) Identität zu geben und uns in der Gegenwart und für die Zukunft Orientierung zu ermöglichen – das heißt den Zusammenhang von Gestern–Heute-Morgen zu verstehen, woraus sich wiederum unser individuelles Selbstvertrauen und unsere Sinnfindung speisen. In der Regel schaffen wir durch unsere formbaren Erinnerungen ein positives Bild unserer Selbst, mit dem wir gut leben können. Und dieses positive Selbstbild ist eine der Grundvoraussetzungen für psychische Gesundheit.

Unter „positivem Selbstbild“ verstehe ich auch einen selbstkritischen Reflexionsprozess, der neben Versöhnung mit schwierigen Erfahrungen oder unangenehmen Eigenanteilen auf Verantwortungsübernahme für und Lernfähigkeit aus destruktivem Verhalten mir selbst und anderen gegenüber basiert – und in verantwortungsvollem Handeln mündet.

Biografiearbeit als kognitiver, emotionaler und immer wieder auch sinnlicher Prozess ist Bestandsaufnahme und, für Menschen mitten im Leben, zugleich Visionsentwicklung. Die Erinnerung an die eigenen Wurzeln und Ideale der Vergangenheit, die Vergewisserung der Motive und Werte und schließlich der Blick auf die eigenen Entwicklungsprozesse – all das hilft zu überprüfen, ob die derzeitige Lebensgestaltung und berufliche Situation mit der inneren Einstellung und den Wünschen an das Leben übereinstimmen. Dies wiederum bildet die Basis, um neue Perspektiven für die Zukunft gewinnen zu können.

Der Austausch dazu mit anderen erweitert den Horizont und gibt Anregungen. Indem eigene Erfahrungen mit neuem Wissen verknüpft und/oder mit Erlebnissen Anderer kombiniert werden, entstehen neue Ideen, blitzen neue Möglichkeiten auf. Und wir gewinnen Verständnis für andere in ihrem Anderssein, ihren anderen Entscheidungen und ihren anderen Handlungsstrategien.

Schließen möchte ich mit einem Zitat, das der politischen Philosophin Hannah Arendt zugeschrieben wird und das die Substanz von Biografiearbeit prägnant erfasst:

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„Wir können über das Leben nichts wissen, es sei denn, wir erzählen Geschichten.“

 

Literatur und Links

Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. Bonn 2007

GEOkompakt. Wer bin ich? Neue Erkenntnisse aus der Lebenslaufforschung. Nr. 50, 2017

Girrulat, Heidrun/ Markert, Elisabeth Christa/ Nischak, Almute/ Schollas, Thomas/ Stachowske, Ruthard: Systemische Erinnerungs- und Biografiearbeit. Tübingen 2007

Herriger, Norbert: Ressourcenorientierte Biografiearbeit. 2012 http://www.empowerment.de/empowerment.de/files/Materialien-4-Ressourcenorientierte-Biografiearbeit.pdf. Abruf 22.02.2018

Klingenberger, Hubert/ Ramsauer, Erika: Biografiearbeit als Schatzsuche. Grundlagen und Methoden. Für Erwachsenenbildung und Beratung. 2017

Miehte, Ingrid: Biografiearbeit. Lehr- und Handbuch für Studium und Praxis. Weinheim Basel 2017/3

Rosenthal, Gabriele: Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen. Frankfurt/Main, New York 1995

Ruhe, Hans Georg: Praxishandbuch Biografiearbeit. Methoden, Themen, Felder. Weinheim und Basel 2014

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