Biografiearbeit in der Organisationsentwicklung
Biografiearbeit in der Organisationsentwicklung klingt erst einmal nach einem Gegensatz. Wieso soll ich mich mit biographischen individuellen Entwicklungen beschäftigen wenn ich doch eine gesamte Organisation in ihrer Entwicklung begleiten will.
Vertrauen durch Kennenlernen: OE Ablauf
In meiner Arbeit habe ich den persönlichen biografischen Arbeitsansatz und die Wirksamkeit in der Gruppe nicht als Gegensatz, sondern als Grundbedingung erlebt. Denn um in der Organisation zu arbeiten, müssen wir erst einmal einen Kontakt mit den Personen herstellen. Darüber kann dann langsam Vertrauen wachsen, so dass man zu einem Verstehen kommen kann. Letztendlich geht es in dieser ersten Phase darum, zu akzeptieren und wertzuschätzen, was da ist. Wenn dann eine Beziehung entstanden ist, kann man sich anschauen was für Potenziale noch nicht wirklich erschlossen sind. Über die gewachsenen vertrauensvollen Beziehungen kann ich also erst an die Analyse von Abläufen oder gar Strukturen gehen. Wenn ich das vorher – also ohne Beziehung – tue, dann ernte ich meist nur Widerstand, denn das Neue ist dann erstmal nur der Feind des jetzigen.
Alles ist Biografiearbeit
Damit erhält die Biografiearbeit einen zentralen Stellenwert als vertrauensbildende Maßnahme zu Beginn eines Organisationsentwicklungsprozesses. Was ist aber nun genau Biographiearbeit? Tatsächlich könnte man sagen, dass überall wo persönlich kommuniziert wird auch Biographiearbeit stattfinde. Wenn man mit jemand persönlich spricht, versucht man ja das Gegenüber in seiner Bedingtheit – also letztlich auch seiner Biografie – zu verstehen.
Biografiearbeit nach innen: Therapeutisch
Etwas besser eingrenzen kann man Biografiearbeit über die Ausrichtung: Zum einen gibt es die nach innen gerichtete Biographiearbeit, die auf eine Integration des persönlichen Werdeganges, vielleicht auch Versöhnung mit dem eigenen Lebensweg ausgerichtet ist. Häufig hat dies einen Platz in der Altenarbeit oder in der Arbeit mit dementen oder traumatisierten Personen. Meist ist diese Arbeitsrichtung therapeutisch begründet.
Biografiearbeit nach außen: Gesellschaftlich
Daneben gibt es aber auch die Biografiearbeit, die nach außen gerichtet ist – dann auch eher Biografieforschung genannt, zu der auch z.B. die „mündliche Geschichte „ (Oral History) gezählt wird. Die Fragestellung ist hier: „Wo bin ich einsortiert in den Zeitläuften, in der Gesellschaft“. Die Zugehörigkeit zu Gruppen und die eigene (Gruppen-) Identität spielen eine Rolle. Ein übliches Vorgehen ist dabei die Arbeit mit einer zeithistorischen Zeitleiste.
Biografiearbeit als Methode in der OE
In meiner Arbeit setze ich die Methode der berufsbiographischen Kurve sehr häufig als Möglichkeit sich gegenseitig nicht nur neu und anders kennenzulernen, sondern auch mit seinem je spezifischen Hintergrund wertgeschätzt und „akzeptiert“ zu werden. Indem so jede/r Beteiligte einige wesentliche Momente seiner Biografie mit der Gruppe teilt, wächst das gegenseitige Verständnis und Vertrauen.
Methode konkret: Fragestellung, Seil und Materialien
Die Aufgabenstellung lautet „Warum bin ich beruflich da wo ich bin?“. Welche Momente Entscheidung oder Grundlagen möchte ich gerne markieren. Benötigt werden für jede teilnehmende Person ein Seil und verschiedene Materialien wie Bauklötze, Steine, Perlen, Muscheln, Federn oder Spielfiguren. Alle benutzen ihre Schnur, um sie gewunden oder geradlinig oder verschlungen auszulegen und dort an bestimmten Punkten auch Materialien hinzulegen, die einen Moment oder eine besondere Entscheidung symbolisieren.
Auswertung in zwei Phasen
Die Auswertung sollte dann in zwei Etappen stattfinden: Zuerst sucht sich jede/r eine Partnerin, einen Partner seines Vertrauens und spricht mit ihm über seine Kurve. Dies ist ein wenig ein Ausprobieren in einem vertrauensvollen bilateralen Setting und erst in der zweiten Etappe wird es dann in der Gruppe geteilt. So gebe ich dem einzelnen auch die Möglichkeit seine je persönliche Einlasstiefe auch zu selbst zu bestimmen.
Ausführliche Variante der Auswertung
In der Auswertung gibt es je nach Zeitrahmen auch noch die Möglichkeit dass man die Ausstrahlung des kleinen Kunstwerkes noch mal kurz in der Gruppe bespricht, bevor derjenige oder diejenige, die die Kurve gelegt hat, die persönlichen Erläuterungen gibt. So hat man erst einmal die ästhetische Anmutung, die Assoziationen zur Verfügung, die einem beim bloßen Betrachten des „Kunstwerkes“ in den Sinn kommen. Meist sind diese nicht intendierten Botschaften der Künstlerin / des Künstlers zusätzlich spannend. Der oder die Künstler/in erhalten so nochmal zusätzlich Interpretationsmöglichkeiten und Nachdenkens werte Anregungen.
Dauer und Dokumentation
Der Zeitbedarf liegt bei etwa 5-10 Minuten pro Person. Wenn man eine größere Gruppe hat, kann man die einfache Variante der Auswertung nutzen und die Aufgabenstellung auf beispielsweise drei Punkte beschränken, die man markieren soll. Grundsätzlich gilt, dass je vielfältiger die Materialien gewählt werden, auch die Erzählungen intensiver werden.
Vorsicht: Persönlich
Die Kurve hat manchmal eine starke Wirkung auf die Betroffenen. Es kann auch zu „Trigger-Momenten“ der Traurigkeit oder Euphorie kommen, die weder von der Moderation noch von den Betroffenen so vorhergesehen werden können. In jedem Fall handelt es sich um eine recht intensive Übung und man sollte als Moderator*in auf eine ruhige Atmosphäre Wert legen und auf die zweiteilige Auswertung achten: Erst bilateral und dann anschließend gruppenöffentlich. Die Kurve sollte der persönlichen Symbolik wegen auch nur von dem Ersteller, der Erstellerin selbst aufgelöst werden.
Bücher:
Einen sehr guten Überblick über das Thema Biografiearbeit bietet die Gießener Professorin Ingrid Miethe, Biografiearbeit, Lehr- und Handbuch für Studium und Praxis, Beltz Juventa, 3. Aufl. 2017, 175S., 19,95 Euro. Sehr klärend ist die Unterscheidung in verschiedene Traditionslinien (Therapie und Forschung) und hilfreich für die Praxis ist auch insbesondere der Beitrag der Berliner Professorin Silke Birgitta Gahleitner zu Traumasensibler Biografiearbeit. Wer stärker an den Methoden interessiert ist, für den bieten sich zwei Klassiker an: Hans Georg Ruhe, Methoden der Biografiearbeit, Lebensspuren entdecken und verstehen, 6. Aufl 2014, (seit 1998) 152S 19,90 Euro. Über siebzig Übungen in eher poetischer Gliederung. Auf die Arbeit mit Zeitzeugen, im Seniorenbereich oder in therapeutischer Absicht ausgerichtet. Mit sehr individuell gestalteten Glossar und mit vielen Anregungen für diejenigen, die sich nicht an den etwas in die Jahre gekommenen Stilmitteln stören. Herbert Gudjons, Birgit Wagener-Gudjons, Marianne Pieper, Auf meinen Spuren, Übungen zur Biografiearbeit, Klinkhardt 2008, 296S 19.90 Euro. Über 200 Übungen auch zur Selbsterforschung und therapeutischen Arbeit sortiert nach Lebensthemen (Kind, Körper, Beziehungen etc.) erscheinen seit 1986 nun aktualisiert in der siebten Auflage.