Neuerscheinung: Die chronisch Kranke und die Organisation

Neuerscheinung: Die chronisch Kranke und die Organisation

Eine (potentielle) Liebesgeschichte

Die Organisation hatte so viel zu tun, dass sie nicht mehr wusste wo oben und unten war. Und dann war da auch die chronisch Kranke, die einfach nicht ruhig in ihrer Ecke bleiben, sondern unbedingt wirksam sein wollte. Doch so herausfordernd die Begegnungen manchmal auch waren, die Organisation transformierte sich jedes Mal ein wenig mehr zu einer Heimat für fantastische Menschen. 

In unseren Organisationen arbeiten viele Menschen mit – oftmals unsichtbarer – chronischer Erkrankung. Diese kleine Geschichte gibt einen ersten Einblick in die Themen, die über Exklusion und Inklusion entscheiden. Sie zeigt, dass Organisationen von einer engen Kooperation profitieren: Dort wo von Krankheit betroffene Menschen mitwirken, entsteht gesundes Arbeiten für alle. 

 

 

Einige visuelle Eindrücke:

 

Monia 

Monia ist immer überfordert, wenn man sie fragt, was sie beruflich macht. „Hm“, sagt sie dann, „vielleicht baue ich am ehesten Vorhaben auf, die die Welt ein bisschen besser machen sollen?!“ Meistens wenden sich Menschen an sie, wenn sie etwas planen, das es so noch nicht gibt. Dann entwickelt sie aus ihren vielfältigen Erfahrungen passgenaue Lösungen – oft den Aufbau einer Organisation. Sie bezeichnet sich daher gerne als hauptberufliche Lernende, weil die Themen so vielfältig sind. 

Monias Leben ist stark geprägt von ihrer chronischen Erkrankung. Seit 2007 gilt sie offiziell als nicht mehr arbeitsfähig, was bei ihr vor allem eine große Suche nach Lösungen ausgelöst hat. In Büchern wie Einfach Arbeiten und Minimalistisch Arbeiten sowie auf ihrer Plattform Gesunde Kranke teilt sie ihre Erkenntnisse zum Arbeiten mit chronischen Erkrankungen in vielfältigen Formaten – wie auch in diesem Buch. 

Julia 

Als visuelle Facilitatorin und Prozessbegleiterin unterstützt Julia Teams und Organisationen dabei, komplexe Themen greifbar zu machen und ihre kollektive Intelligenz zu nutzen. Mit einer Leidenschaft für visuelles Denken und kreatives Gestalten setzt sie visuelle Kommunikation gezielt ein, um Transformationsprozesse zu begleiten. Seit 2020 ist sie Teil von SOCIUS. 

Julias visuelle Arbeit ist geprägt von ihrer Begeisterung für Mixed Media sowie dem Experimentieren mit Farben und Formen. Die Leitung internationaler Projekte wie des Advocate Europe Ideenwettbewerbs und die Umsetzung kreativer Ansätze zu gesellschaftlichen Themen haben ihren beruflichen Weg entscheidend geprägt. Sie ist überzeugt, dass Kreativität und Resilienz gerade in Zeiten des Wandels unverzichtbar sind – und auch in der Arbeitswelt ihren festen Platz haben. 

Übersicht

Text: Monia Ben Larbi
Illustrationen: Julia Hoffmann
Layout: Anne Wilhelm

Kuratorinnen: Joana Ebbinghaus & Nicola Kriesel

Herausgeberin: SOCIUS Organisationsberatung gGmbH, Tempelhofer Ufer 21, 10963 Berlin

Preis: 17,50€ – nur bei SOCIUS

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Hope is the thing with feathers, remember?

Hope is the thing with feathers, remember?

For years, I’ve worked with democracies, connection, dialogue, and social impact—believing in a cohesive, just Europe. And yet, in times like these, it can feel like that work has barely made a dent.

But then, I see
Committed people,
In niches and circles,
In offices and community gardens,
In living rooms and beneath the trees.
Keeping the space open—in their hearts, heads, and hands—for a world that is alive, kind, and worth loving.

✨ What if these times are calling us to more perseverance?
✨ What if our connection is the answer?

Wherever you find yourself—in an local democracy office, a Brussels building, a kindergarten, your couch, or a train station—consider joining us this March 28-30 in Berlin. Let’s strengthen hope together.

Or share this with someone whose heart might also need this invitation.

 

Art of Hosting Training

Strengthening Resilient Democracies

28–30 March 2025, Berlin

 

How can we hold despair and hope, embrace diversity, and take action together—shaping our communities and reimagining democracy?

Context

We are living in times of collapse, crisis, and confusion. Many of us feel paralyzed by despair about what is happening in the world—a despair that often immobilizes us and feels impossible to overcome. This stems from the layered crises we face: ecocide, the climate emergency, multiple genocides, and the rise of the political far-right. Polarization is increasing, alongside the misuse and manipulation of media and artificial intelligence, and the erosion of citizen agency. Even democracy is in crisis with many questioning its relevance, or whether it is functioning at all.

To take meaningful action, we must reconnect with hope. We must recognize the incredible creativity and perseverance of those who refuse to surrender to despair—people who invite us to honor the beauty of diverse perspectives, find meaning in our shared humanity, and come together to navigate even the darkest moments.

Amid growing cracks in our systems, collectives and communities are rising in response, standing up for diversity and embracing the unique gifts carried by different identities. Diverse voices are growing louder: women’s movements, Indigenous people defending ecosystems, anti-racism conversations confronting institutionalized injustice, and testimonies of those who have endured long-term oppression and occupation.

Beyond the human sphere, the non-human world is increasingly recognized not just as a set of resources for consumption but as an intelligent force offering guidance as we face these overlapping crises.

The juxtaposition of despair and hope, of crisis and potential, challenges us to move beyond binaries. In doing so, we open the door to co-creating systems that are not only resilient but also regenerative and just. What more could our societies become, and how might we reimagine democracy in practice?

This training invites you to explore this essential question. It calls for societal innovation where democracy transcends outdated paradigms of representation and corporate lobbying to give rise to new forms—participatory, polycentric, ecological, and intersectional. It is a call to shift toward new narratives, in response to a democracy in crisis.

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Desire Path – Das Informelle System als Entwicklungsanker

Desire Path – Das Informelle System als Entwicklungsanker

Für die Organisationsentwicklung sind Anleihen in anderen Disziplinen das Salz in der Sensemaking-Suppe: Sei es das zwischen Karte und Terrain aufgespannte Navigieren in der Nautik, das Geheimnis des kreativen Flows in der Kunst, das Zusammenwirken von Selbstheilung und Behandlung in der Medizin oder die Entwicklung von Betriebssysteme und Apps im Software-Engineering – mit jedem Bild öffnet sich ein anderes Fenster und eine andere Perspektive auf die Organisation. Dabei sind alle Metaphern – das hat Gareth Morgan eindrücklich beschrieben – immer hilfreich und unzulänglich zugleich.

Die Organisation der Stadt 

Für mich liegen einige der spannendsten Inspirationen für die OE in der Stadtentwicklung. Das Zusammenspiel von Design und Eigendynamik einer Stadt ist ein faszinierender Dialog. Städte und Organisationen sind sich vor allem in Bezug auf diese doppelte Natur recht ähnlich: Sie sind strukturierte Systeme von Regeln und Ressourcen und zugleich Organismen, die sich in ihrer eigenen Logik entwickeln und entfalten. 

Aus Sicht der Stadtplanung zeigt sich die Eigendynamik dabei oft von der widerspenstigen Seite: Man kann einen Flächennutzungsplan erstellen und eine Verkehrsinfrastruktur bauen, aber es ist deutlich schwieriger, die tatsächliche Nutzung von Räumen und Flächen zu steuern. Welche Art von Menschen und Unternehmen zuziehen und abwandern und damit Wachstum, Gentrifizierung oder Verfall einzelner Stadtteile bewirken, ist kaum zu kontrollieren. Man kann Wege durch einen Park anlegen, aber welche Pfade die Menschen tatsächlich einschlagen, zeigt sich erst mit der Zeit. Das Gleiche gilt für Organisationen: Man kann jemanden zur Leitung machen, aber wie stellt man sicher, dass er oder sie tatsächlich als Führungskraft akzeptiert wird? Man kann eine Wissens-Datenbank aufbauen, aber wie bringt man Leute dazu, ihr Wissen wirklich einzuspeisen? Man kann ein Qualitätshandbuch schreiben, aber wie wird ein Prozess verbindlich? Allzu oft weicht der tatsächliche Lauf der Dinge vom Formalen ab. Und das hat seinen Grund.

Die Dualität der Struktur

Stell Dir vor, Du gehst durch den Park. Es ist ein sonniger Tag und Du hast nichts weiter vor, als frische Luft zu schnappen. Der gepflasterte Weg, den Du entlangspazierst, mündet in eine Kreuzung mit einem anderen Weg, den Du nehmen willst. Im Normalfall gehst Du bis zur Kreuzung, nimmst die Kurve und spazierst auf dem neuen Weg weiter. 

Stell Dir nun die gleiche Szene an einem kalten Morgen vor, du bist auf dem Weg zur Arbeit. Du näherst Dich der Wegkreuzung und wirst vielleicht schon an der frühestmöglichen Stelle eine Abkürzung über den Rasen nehmen – das ist ökonomisch (was übrigens nicht dasselbe ist wie „menschlich“). Wenn Du die erste und einzige Person bist, die diese Abkürzung wählt, wird das Gras unter Deinen Schritten nachgeben und sich nach einigen Augenblicken wieder aufrichten. Wenn zehn andere am selben Tag diese Abkürzung wählen, wird eine kleine erdige Spur im Gras sichtbar. Diese Linie wirkt als Attraktor, als Einladung für andere, den Weg ebenfalls zu gehen, und sehr bald entsteht ein Trampelpfad.

 Die Mechanismen dieses Zusammenspiels werden von Anthony Giddens in seiner „Theorie der Strukturation“ beschrieben. Giddens verortet soziale Praktiken an der „untrennbaren Schnittstelle von Strukturen und Akteur:innen“. Gemäß der rekursiven Natur sozialen Lebens sind Strukturen dabei sowohl Medium als auch Ergebnis der Reproduktion sozialer Praktiken: Der Weg formt sich, wenn die Akteur:innen ihn gehen. Sie gehen ihn, weil sein struktureller Niederschlag als Attraktor wirkt. Giddens nennt dies die „Dualität der Struktur“.

Das Konzept erklärt, wie soziale Praktiken verstärkt werden, und wie sich dadurch Struktur bildet (die schlussendlich zu formalen Institutionen gerinnt). Es erklärt auch, wie diese Struktur untergraben wird, wenn Akteur:innen beschließen, sie zu ignorieren, zu ersetzen oder in Variation zu reproduzieren. Beide Bewegungen vollziehen sich schrittweise und fließend. Das Modell stellt dabei keinen spezifischen Moment in den Fokus, zu dem eine Regel oder Praxis formalisiert (oder aufgegeben) wird. Alle Ordnungen sind vorläufige Ordnungen. 

Segen und Fluch der Pfadabhängigkeit

Ein interessanter Aspekt der Entstehung von Pfaden ist das Zusammenspiel von individuellen und kollektiven Entscheidungen. In einer Tabula-Raza-Situation, in der ein System keine sinnvolle Substrukturierung, keine relevanten Attraktoren und keine etablierten Interaktionsmuster aufweist, handeln die Mitglieder allein gemäß ihrer individuellen Agenda. Im Jazz ist dies entweder das kakophone Chaos oder der Moment, in der alle darauf warten, mit was die anderen aufwarten. In der Gruppendynamik ist dies die Phase des Forming, in der Unsicherheit und mangelnder gemeinsamer Fokus durch einen klaren äußeren Rahmen ausgeglichen werden muss. Im Laufe der Zeit entwickeln die Akteur:innen dann Interaktionsmuster – im besten Fall „finden“ sie einen dynamischen Groove. Das System bildet dabei Substrukturierungen aus, die seinen Mitgliedern als Kontext gegenübertreten. Einige der entstehenden Muster verstärken sich, andere verschwinden schnell wieder oder werden unterdrückt. In dieser Phase ist das Verhalten sowohl individuell als auch systemisch bestimmt – die Akteur:innen bewegen sich mit ihren individuellen Absichten, werden aber auch von der Anziehungskraft verstärkter Muster beeinflusst. 

Der Moment emergenter Musterentstehung ist so kostbar, weil er nicht ewig andauert. Die auf ihn folgende Entwicklung ist in der Regel von fortschreitender Pfadabhängigkeit gekennzeichnet, bei der sich einzelne Bahnen der Interaktion zunehmend verfestigen. Handlungs- und Denkmuster, die eben noch im dynamischen Groove miteinander standen, bilden stabile, dominante Zonen aus, die Entwicklung nimmt feste Formen an, das System findet sein Flussbett und sein Fließgleichgewicht. Im extremen Fall wird die Homöostase zum „Lock-in“– das System friert ein und erstarrt. Wer schon einmal so ein Lock In auf einer Jam Session erlebt hat, weiß, dass die Fixierung auf eine Harmoniefolge für Spieler:innen und Publikum zum Fluch werden kann, der manchmal nur durch einen fast gewaltsamen modalen Bruch gestört wird, wenn jemand es nicht mehr aushält. 

Wenn wir in einem eingefrorenen System mit den Kräften der Emergenz arbeiten wollen, müssen wir Gruppen und Organisationen an den Punkt der relativen Offenheit und des dynamischen Fließens zurückzuführen (im obigen Bild Phase II). Hierfür stehen uns zwei Wege offen: Entweder wir warten, bis das System in eine Krise gerät, an seiner eigenen Starrheit zerbricht und sich nach kreativer Zerstörung neu zusammensetzt (eine Progression, die im Ecocycle beschrieben ist); oder es gelingt uns, es – in den Worten von Kurt Lewin – im laufenden Betrieb „aufzutauen“. Im Idealfall etablieren wir ein Modus, der es nie zur vollen Erstarrung kommen lässt: Keep the ground soft.

Exkurs: Kollektive Intelligenz (oder Makrointelligenz, die sich aus lokalem Wissen ableitet) lebt vom Zusammentreffen individuell motivierten Verhaltens mit sozialem Feedback. Eine Simulationssequenz veranschaulicht diesen Zusammenhang:

 Bild 1 zeigt eine virtuelle Parkanlage mit gekreuzten Gehwegen. Computergenerierte Avatare (schwarze Punkte), sind so programmiert, dass sie zufälligen individuellen Motiven folgen (z.B. von Ecke A nach C gehen; zur Mitte schlendern, dann zu Ecke B gehen usw.). Sie haben zudem eine Neigung dazu, Wegen zu folgen, die zuvor viel begangen wurden. Eine Nutzung führt zur Vertiefung des jeweiligen Weges, ein nicht genutzter Weg verschwindet mit der Zeit. Die Auswirkungen dieser Programmierung sind in den Bildern 2-4 zu sehen. Das Weg-System wandelt sich mit der Zeit zu einer neuen kompakteren Form. Für die einzelnen Avatare bedingt das resultierende Wegesystem in Abbildung 4 individuell minimale Umwege. Für das Gesamtsystem stellt es gegenüber der Ausgangsform eine verbesserte Variante dar, da es in Bezug auf die Gesamtweglänge optimiert ist. 

Die Simulation illustriert, wie individuelle Handlungen, die durch direkte oder indirekte Rückkopplung verbunden sind, ein kollektiv intelligentes System hervorbringen können. 

Weiterführende Einblicke hierzu finden sich in Steven Johnsons „Emergence – The Connected Lives of Ants, Brains, Cities, and Software“.

Der Pfad als Ausdruck von Bedürfnissen

Das deutsche Wort „Trampelpfad“ ist als Bezeichnung für einen informellen Fußweg eine etwas hässliche Erscheinung. Mir gefällt der poetische Begriff „Desire Path“ im Englischen deutlich besser. Er transportiert die Idee, dass jede Subversion ein Motiv markiert, das das formale System noch nicht berücksichtigt hat. Ein Desire Path deutet nicht auf Widerstand gegen das formale System an sich hin, sondern auf ein noch unentdecktes Potential des Systems. Ein Pfad sollte mithin kein Ärgernis, sondern eine wertvolle und willkommene Informationsquelle für Systemdesigner:innen sein. 

Zurück in den Park: Es kann sein, dass es dem Parkservice nicht recht ist, dass Du die Abkürzung über die Wiese nimmst. Man stellt also ein Schild oder eine Barriere auf. Das mag den einen oder die andere vom Rasen fernhalten, aber Schilder und Barrieren funktionieren nicht wirklich, wenn eine Abkürzung oder eine Attraktion stark genug ist. Also geht es einen Schritt weiter: man zieht einen Zaun oder stellt Park Security ein und verstärkt die Regulierungsmaßnahmen durch Sanktionen. Regulierung hat einen relativ geringen Wirkungsgrad, wenn es darum geht, intrinsische Motivation und kreative Dynamik in sozialen Systemen freizusetzen. Sie ist zudem auch psychologisch kostspielig, weil sie signalisiert, dass dies hier nicht wirklich Dein Park ist. Warum also solltest Du ihn pfleglich behandeln? 

Bilder: Applause for Design, Rienk Mebius

Alternativ lässt sich die Logik umdrehen: So wie in der Bionik technische Entwicklungen von der Natur inspiriert werden, lässt sich auch eine „Strukturbionik“ denken, bei der Entwickler:innen von in Pfaden abgebildetem Verhalten lernen. Wenn über eine unbefestigte Abkürzung zum Hauseingang immer wieder Dreck ins Treppenhaus gebracht wird, verlangt das eine Antwort. Die Antwort muss aber nicht darin bestehen, die Leute dazu zu bringen, die unpraktisch asphaltierte Zuwegung zu benutzen. Wir können ebenso gut die Abkürzung pflastern, um sie funktional zu machen.  Das informelle System wird so zum Anker der formalen Strukturierung. 

Dieser Design Ansatz lässt sich auch im größerem Maßstab denken: Wenn Du ein System von Gehwegen entwerfen willst, warte einige Zeit, um herauszufinden, wo die Menschen tatsächlich gehen, und lege aufgrund dieser Bewegungen das formale Wegsystem fest. Große Campusanlagen wie die Ohio State University oder die University of Toledo, Teile des Central Park New York sowie einige Wohnsiedlungen in Moskau wurden auf diese Weise gestaltet (letztere, indem man auf den ersten Schnee wartete, um festzustellen, wo die Bewohner:innen tatsächlich zwischen den Gebäuden und Zugängen laufen). Trampelfade als Ausdruck von Bedürfnissen ernst zu nehmen, kann durchaus sinnvolle Ergebnisse liefern.

Allerdings können wir dabei auch immer über das Ziel hinaus schießen. Ungeregelte Emergenz ist vor allem in interessenspluralen Systemen problematisch: nicht jede Entwicklung ist für alle Mitglieder der Organisation gleichermaßen vorteilhaft und nicht jeder Impuls mit dem Gesamtbild vereinbar. Nicht jeder ökonomische Trampelpfad ist dem übergeordneten Ziel dienlich, vor allem dann nicht wenn er eine Abkürzung darstellt, deren Kosten andere im System ausgleichen müssen. Insofern ist Emergenz nicht die alleinige Antwort, wir müssen die Aufgabe der Kuratierung ernst nehmen. Dies kann bedeuten, übergreifende Rahmen und Container zu schaffen, in dem die verschiedenen Impulse zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfließen. Es kann auch bedeuten, transparente Wege zu finden, Optionen gegeneinander abzuwägen und auszuhandeln. 

Desire Path Praxis in der OE

Wie lässt sich das Desire Path Prinzip auf den Bereich der Organisationsentwicklung übertragen? Was können wir konkret tun, um diesem Ansatz Raum zu geben?

In der einfachsten Version einer Strukturentwicklung geht es darum, den Prozess für eine bestimmte Aufgabe (neu) zu gestalten. Der Desire Path Ansatzes so einer Prozessentwicklung läßt sich in fünf Schritten beschreiben:

1. Mapping der Formalstruktur: Identifiziere die bestehenden Regelungen (oder auch die Standard Operating Procedures) für die spezifische Funktion oder den fokussierten Prozess (Prozessbeschreibungen, Manuals, Regelungen zu Abläufen und Verantwortlichkeiten).

2. Mapping der Informellen Abläufe: Führe ethnographische und teilnehmende Beobachtungen durch, um zu erfassen, wie der fokussierte Prozess tatsächlich im Alltag ausgeführt wird.  

3. Interpretation: Identifiziere Faktoren, die die informellen Praktiken motivieren. Erkläre die Abweichungen zwischen formellen Regelungen und informellen Praktiken (z.B. in Bezug auf Attraktoren und Bedürfnislagen).

4. Bewertung: Unterscheide zwischen funktionalen und dysfunktionalen informellen Praktiken. Wo handelt es sich um eine Abweichung von der Formalstruktur, die das Ergebnis besser macht? Wo unterlaufen Akteur:innen mit den informellen Praktiken die übergeordneten Ziele des Systems? Wie kann damit umgegangen werden?

5. Integration: Etabliere einer neue Formalstruktur, die die funktionalen informellen Praktiken einbezieht und praktikable Alternativen zu den dysfunktionalen Praktiken bietet, bei denen die zugrundeliegenden Motive berücksichtigt werden.

Dieses Vorgehen muss dabei nicht auf Prozesse beschränkt bleiben, sondern kann in ähnlicher Weise auf mikropolitische Felder und Rollengefüge (wer sind die tatsächlich Führenden?) oder emergente Strategien (was „tut“ die Organisation wirklich?) angewandt werden. 

In jedem Fall wird dabei das klassische Vorgehen auf den Kopf gestellt: Es geht nicht mehr darum, wie wir Strukturen durch Verhaltensregulierung festigen können, sondern wie wir durch Beobachtung von Verhalten sinnvolle Strukturen gestalten und etablieren.

Während eine so gefundene neue Formalstruktur das kollektive Handeln hoffentlich besser und reibungsloser kanalisiert, ist auch sie vorerst auch nur ein zartes Pflänzchen und zugleich nur eine vorläufige Ordnung. Die klassische Organisationsentwicklung fokussiert den Akt der pointierten Formalisierung. Irgendwann fällt die Entscheidung über erin Modell und damit ist es besiegelt. Es ist durchaus denkbar, dass diese Faszination mit formaler Strukturierung am Kern der Sache vorbei geht: Eine Struktur kommt nicht dadurch ins Leben, dass wir sie in einem Organigramm festhalten. Eine Struktur existiert, wenn sie durch wiederholte Praxis reproduziert wird. 

Meiner Erfahrung nach sind die meisten Organisationen, die Unterstützung in der Organisationsentwicklung suchen, bereit, in die Entwicklung neuer Strukturen zu investieren, gehen aber davon aus, dass der Umsetzungsprozess quasi von alleine funktioniert. Die Annahme dahinter lautet: Wenn die Mitarbeitenden in den Gestaltungsprozess eingebunden sind, haben sie Ownership und werden bei der Umsetzung mit voller Kraft mitziehen. Zwar ist die Einbeziehung der von einer Entwicklung Betroffenen sicher alternativlos, aber Beteiligung allein garantiert nicht die reibungslose Umsetzung. Es braucht einen unterstützten Prozess der Einübung neuer Praktiken. Neue Pfade müssen sich eintreten und können sich dabei auch noch verändern.

Autor Andi Knoth

 

 

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Was hilft beim Abbau von Hierarchien?

Was hilft beim Abbau von Hierarchien?

Ob wir Teams und Organisationen auf dem Weg zur Selbstorganisation begleiten oder unseren eigenen Prozess bei Socius reflektieren: Macht ist dabei immer wieder ein Thema, das einerseits dringlich besprochen werden will, andererseits oft auch viel Unbehagen mit sich bringt. 

Macht haben meistens „die anderen“, bei uns selbst nennen wir es lieber „Verantwortung“. Macht hat etwas mit Hierarchien zu tun, und die wollen wir mindestens verringern, wenn nicht gar gleich ganz abbauen; viele von uns verbinden mit dem Begriff der Macht vor allem Machtmissbrauch.

Zwar gibt es schon viele Beiträge, in denen Macht positiv besetzt wird: Gestaltungsmacht, geteilte Macht, Entscheidungsmacht, Macht mit anderen zu haben, statt Macht über sie (“power with instead of power over”). Macht bringt Freiheit mit sich (und kann Freiheit einschränken). Oder wie Hannah Arendt es sagt: „Macht entspringt der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. Über Macht verfügt niemals ein Einzelner; sie ist im Besitz einer Gruppe und bleibt nur solange existent, als die Gruppe zusammenhält“ und sie führt weiter aus, dass die Macht von Einzelnen, ihnen stets von einer Gruppe verliehen wurde. 

Uns mit unserer eigenen Macht auseinanderzusetzen ist Teil der #innerwork, die in der Selbstorganisation so wesentlich ist. 

Mit der eigenen Macht gilt es verantwortungsvoll umzugehen. Für jede*n einzelne*n ist das wahrscheinlich klar und in selbstorganisierten Teams bedienen wir uns gerne der Arbeit mit Rollen und dem Rollenboard um sowohl Macht als auch Verantwortung im Team gleichmäßiger zu verteilen. 

Wir haben also eine ganze Menge an Instrumenten, die uns im Team helfen können, Macht zu verteilen, über Machtunterschiede zu reflektieren und einen bewussten Umgang damit zu finden. 

Und gleichzeitig erleben wir sowohl bei uns bei SOCIUS als auch bei den Organisationen und Teams, die wir begleiten, dass der Umgang mit und der Austausch über persönliche Macht immer wieder eine große Herausforderung ist. 

Strukturelle Machtverhältnisse ansprechen

Mir z.B. fällt es immer noch schwer, die strukturellen Machtverhältnisse und -ungleichgewichte z.B. zwischen Männern* und Frauen* anzusprechen, wenn doch die Männer* mit denen ich das besprechen müsste, so feine, aufgeschlossene Menschen sind, und ich Sorgen habe, dass sie sich angegriffen fühlen, wenn ich “einfach nur” eine Dynamik reflektieren will. 

Dass mir das so schwer fällt, liegt in der Regel daran, dass es nicht um eine (1) Dynamik geht, sondern meist um eine Vielzahl. Und während wir über strukturelle Machtverteilung zwischen Männern* und Frauen* sprechen, spielen gleichzeitig vielleicht das Lebensalter, die Ausbildungssituation, biografische (Diskriminierungs-)Erfahrungen und etliche andere Dimensionen, die uns strukturell mit Macht ausstatten (oder nicht), eine Rolle.
In Organisationen sind das neben den persönlichen und gesellschaftlich strukturellen, oft auch Funktionen/Positionen, die betitelt sind und gesellschaftlich mit einem angesehenen Status einhergehen.
In unserem Team haben wir uns vor einige Jahren von den Begriffen Geschäftsführung und Vorständ*innen getrennt, weil wir gemerkt haben, dass diese nicht nur Außenwirkung haben, sondern auch nach innen wirken. Heute sind alle Berater*innen, die Genossenschaftsmitglieder sind, *vertretungsberechtigt* für die Genossenschaft, und haben damit einerseits rechtlich dieselben Rechte und andererseits dieselbe Verantwortung. Auf der formalen/strukturellen Ebene haben wir die Macht in unserer Organisation geteilt. 

Gleichwohl bleibt die Herausforderung die gesellschafts-strukturellen Dimensionen, die uns so persönlich betreffen, auch besprechbar zu machen.
Um diese Herausforderung leichter meistern zu können, ist die Arbeit zum Thema Rang von Arnold und Amy Mindell von großem Nutzen. 

Rangdynamik aus der Prozessarbeit

In der Prozessarbeit nach Arnold und Amy Mindell bezieht sich der Begriff „Rang“ auf eine dynamische Position oder Rolle, die Menschen innerhalb eines Systems oder einer Gruppe einnehmen. Das Konzept des Rangs ist eng mit der Idee der Macht verbunden, aber es bezieht sich nicht nur auf formelle Autorität oder Hierarchie, sondern auch auf informelle Einflüsse und Dynamiken.

In einer Gruppe oder einem System können Personen unterschiedliche Ränge einnehmen, die sich aus verschiedenen Faktoren ergeben, wie zum Beispiel persönliche Eigenschaften, soziale Positionen, Fachkenntnisse, biografische Erfahrungen oder emotionale Ausdrucksfähigkeit. 

Personen mit höherem Rang haben oft mehr Einfluss oder Autorität in einer Gruppe, während Personen mit niedrigerem Rang möglicherweise weniger Einfluss haben oder von anderen dominiert werden.

Ein wichtiger Aspekt von Rang in der Prozessarbeit ist die Anerkennung und das Bewusstsein für die verschiedenen Ränge innerhalb einer Gruppe. Hierbei geht es nicht darum, dass höhere Ränge von niedrigeren still gewürdigt werden, zumal es eine Reinfom von hoch-/niedrigrangig ohnehin nicht gibt, sondern darum, dass wir anerkennen, dass wir uns je nach Kontext in unterschiedlichen Ränge begegnen. 

Probleme können auftreten, wenn Rangunterschiede nicht erkannt oder nicht reflektiert werden, was zu Konflikten, Unterdrückung oder Ausgrenzung führen kann. Die Wahrnehmung von Rangunterschieden ist für Menschen in niedrigen Rängen deutlich klarer spürbar als für solche in höheren. Besonders “verwirrend” wird es, wenn die Ränge in unterschiedlichen Dimensionen dynamisch miteinander „spielen“. 

Wenn Ränge miteinander spielen

Als Juristin mache ich seit vielen Jahrzehnten die Erfahrung von umfangreicher Anerkennung, sobald ich äußere, dass ich zwei Staatsexamen gemacht habe und im familienrechtlichen Kontext gearbeitet habe. Mit einer solchen Äußerung kann ich mich (z.B in unbekannten Settings) umgehend in eine höhere Rangposition bringen, in der ich mich sicherer fühle.

Im Team von SOCIUS habe ich den Eindruck, dass mein Studium im Alltag überhaupt keine Rolle spielt und in *meiner* Rangwahrnehmung ist die Kollegin mit dem Master in Organisationsentwicklung ausbildungsmäßig deutlich höherrangig als ich. Weil ich aber schon viel länger bei SOCIUS bin und schon länger lebe als sie, also neben Lebenserfahrung auch mehr Erfahrung in der Begleitung von Organisationsentwicklungsprozessen habe, nimmt sie mich als deutlich höherrangig wahr, währenddessen ich denke, dass sie im Gegensatz zu mir jahrelang in einer großen staatlichen Organisation als Leitungskraft gearbeitet hat und hier eine Berufserfahrung mitbringt, auf die ich nicht zurückgreifen kann. 

Wir sind also oft beide darum bemüht, den niedrigeren Rang gegenüber der anderen wahrzunehmen. Mit dieser Dynamik stehen wir uns im Zweifel selbst und gegenseitig im Weg. 

Ziel der Prozessarbeit

Ein Ziel der Prozessarbeit ist es, die Dynamiken von Rang in einer Gruppe bewusst und damit besprechbar zu machen und Möglichkeiten zu schaffen, wie Menschen mit unterschiedlichen Rängen respektvoll und konstruktiv miteinander interagieren können. Dies kann dazu beitragen, ein unterstützendes und gleichberechtigtes Umfeld zu schaffen, in dem alle Mitglieder der Gruppe ihre Fähigkeiten und Perspektiven einbringen können.

Besonders wichtig ist hier der Aspekt der dynamischen Position, was in lebendigen Systemen dazu führt, dass viele von uns gleichzeitig unterschiedliche Ränge haben und diese eben miteinander „spielen“. 

Die Prozessarbeit schenkt uns mit ihren Betrachtungen zum Thema „Rang“ eine gute Möglichkeit Macht und Hierarchien – die außerhalb des Formellen liegen – bewusst und besprechbar zu machen, und damit insbesondere in selbstorganisierten Settings eine Sprache zu finden dafür, dass Ränge auch noch wirksam sind, wenn wir formal gleichgestellt sind.

Rangtypenbeschreibung

Soziale Identität (sozialer Rang)

Sozio-ökonomischer Status, Herkunft und Familie: Status, Region, Sprache, Land und seine Geschichte, soziale Integration, Ausbildung, Beruf und Ausübung des Berufs; Einkommenssituation; Geschlechtsidentität, sexuelle Orientierung; Familienstand; Erscheinungsbild (Größe, Gewicht …), Hautfarbe, Gesundheitsstatus usw.

Persönliche Kraft

(Kombination aus psychologischem und spirituellem Rang)

Gelernte und erworbene persönliche Eigenschaften und Ressourcen; Kreativität; Durchhaltevermögen; Selbstbewusstsein; Reflektionsfähigkeit; Introvertiertheit-Extrovertiertheit; Fähigkeiten, Freund*innen zu finden und sich in Gruppen „zu bewegen

Strukturell-informeller Rang

Stellung / Position in der Gruppe; Zugehörigkeit; Anerkennung und Wertschätzung; Einbindung im Netzwerk, Besondere Fähigkeiten und Verhaltensweisen in der Gruppe

Quelle für die Übersicht der Rangtypen: Institut für Prozessarbeit

Autorin Nicola Kriesel

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Minimum Viable Structure

Minimum Viable Structure

Wieviel Struktur braucht gelingende Selbstorganisation?

Jazz ist eine in vieler Hinsicht faszinierende Angelegenheit: Als Gegenstück zum symphonischen Korsett gefügter Partituren und dem Streben nach standardisierter Präzision ist er Sinnbild für den emergenten Fluss gemeinsamer Entwicklung. Die schillernde Jazz-Metapher hat Arbeiten von Karl Weick, Mary Jo Hatch und anderen inspiriert und den rationalistischen Managementdiskurs des letzten Jahrhunderts nachhaltig aufgemischt. Aktuell wird Jazz gerne als Bild gelingender spontaner Interaktion im Diskurs der Selbstorganisation bemüht. Wo Freiheitsgrade dabei in Antithese zur Struktur gestellt werden, schießt die Metapher manchmal auch über ihr Ziel hinaus.

Dass Jazz in besonderer Weise auf freien Formen des Zusammenwirkens und Improvisation basiert, trifft in jedem Fall zu. Aber natürlich hat er Strukturen – wenn auch manchmal nur in minimaler Form. Zu ihnen gehören Rhythmen, Tonarten und Akkordfolgen mit ihren Skalen als Bezugsrahmen der Improvisation. Jenseits des Free Jazz stellt dabei der Fundus an Jazz-Standards, den die meisten erfahrenen Jazzmusiker:innen zumindest teilweise inhaliert haben, eine gemeinsame Spielfläche dar. Die Interaktions- und Impulsdynamik regelt schließlich ein Codex, der beschreibt, wie in einer Session individueller Lead (Solo) und Background-Support (Comping) sequenziert werden, und wie sich Präsenz auf der Bühne flüssig und gleichgewichtig verteilt. Wenn sich alle dieser Spielregeln und Bezugspunkte bewusst sind (oder zumindest für sie sensibilisiert sind) und auch im experimentellen Modus auf sie zurückgreifen können, fließt Jazz. Wenn die Spielenden diese Konventionen nicht kennen oder ignorieren, wenn die strukturelle Offenheit für Ego-Shooting, exzessive Musterunterbrechungen oder Stimmen-Konkurrenz missbraucht wird, bricht der Flow schnell zusammen.

DIE TYRANNEI DER STRUKTURLOSIGKEIT 

Abgesehen von solchen Rahmungen und Soft Structures gibt es in jedem System informelle Strukturen. In den frühen 1970er Jahren brachte Jo Freeman eine kontroverse Kritik am Modell der „strukturlosen Gruppe“ innerhalb der feministischen Bewegung vor. In ihrem Aufsatz The Tyranny of Structurelessness argumentiert sie, dass das Fehlen formaler Strukturen und Hierarchien die unvermeidliche informelle Machtdynamik nur verschleiert.

 „Eine ‚laissez faire‘-Gruppe ist ungefähr so realistisch wie eine ‚laissez faire‘-Gesellschaft; die Idee wird zum Deckmantel für die Starken oder die Glücklichen, um eine unangefochtene Hegemonie über andere zu etablieren. Diese Hegemonie lässt sich so leicht errichten, weil die Idee der ‚Strukturlosigkeit‘ die nicht Bildung informeller Strukturen, sondern nur die formeller Strukturen verhindert. (…) Solange die Struktur der Gruppe informell ist, sind die Regeln, nach denen Entscheidungen getroffen werden, nur einigen wenigen bekannt, und das Herrschaftswissen ist auf diejenigen beschränkt, die die Regeln kennen“. (Freeman, 1971)

Das Hauptargument von Freeman ist klar und bestechend: Während informelle Macht keine Verpflichtung zur Verantwortung gegenüber der Gruppe als Ganzes beinhaltet, geht formalisierte Autorität immer mit ihrer Kehrseite einher – der Rechenschaftspflicht. Insofern ist es vorzuziehen, eine transparente formale Hierarchie zu etablieren (gerne auch themenbezogen oder in Rotation), als eine intransparente informelle Hierarchie entstehen zu lassen. Ein ähnliches Argument hat Max Weber in Bezug auf die Bürokratie gemacht: Der Fortschritt der Bürokratie besteht darin, dass sie willkürliche Herrschaft aufhebt und durch rationale Macht ersetzt, wodurch der Missbrauch von Macht, Privilegien und Diskriminierung eingeschränkt wird. Im besten Fall verbindet ein gut strukturiertes System also Macht mit Verantwortlichkeit.

In weiten Kreisen des liberalen und linken Spektrums herrscht trotz dieser Erkenntnis ein Misstrauen gegenüber formalisierten Strukturen: Struktur engt Freiheit ein, erstickt Initiative und erscheint generell als Gegenteil von Selbstbestimmtheit. Diese Position kommt prägnant in einem Artikel zum Ausdruck, der als Reaktion auf Freemans Position in der Anarchistischen Bibliothek unter der Überschrift Die Tyrannei der Tyrannei veröffentlicht wurde:

„Was wir definitiv nicht brauchen, sind noch mehr Strukturen und Regeln, die uns einfache Antworten und vorgefertigte Alternativen liefern, aber keinen Raum bieten, in dem wir unser Leben selbst gestalten können“ (Levine, 1979).

So sehr sich hier Resonanz zur Klaustrophobie der symphonischen Welt einstellt, so deutlich klingt die wichtige Rolle der minimalen Strukturen im Jazz nach. Gelingende Interaktion – auch im Kontext von Selbstorganisation – erfordert strukturelle Rahmen und Rollengerüste. Ralph Stacey stellt hierzu treffend fest: 

„Die Bedeutung von Selbstorganisation und der daraus entstehenden kollektiven Ordnung wird leicht missverstanden. Im Kontext von Organisationen neigen wir dazu, Selbstorganisation mit Selbstermächtigung oder schlimmer noch mit Regellosigkeit gleichzusetzen, in der jeder alles tun kann – was zu Anarchie führt… Selbstorganisation ist keine Regellosigkeit, sie ist genau das Gegenteil davon“. (Stacey, 2010)

ATTRAKTOREN IN SELBSTORGANISIERENDEN SYSTEMEN

Systemdynamisch gesehen hat Struktur zwei Gesichter: Strukturen stabilisieren ein System und machen es resilient gegen Umweltstörungen; gleichzeitig hemmen sie als stetig wachsende Betondecke (Struktur brütet mehr Struktur) zunehmend seine Anpassungs- und Entwicklungsfähigkeit. Als emergente Muster sind sie das Ergebnis von Selbstorganisation, als sedimentierte Konfigurationen sind sie ihr Feind. Was genau passiert dazwischen? Ein kleiner Ausflug in die Systemdynamik.

Selbstorganisation ist der Prozess, durch den Ordnung aus lokalen Wechselwirkungen zwischen Teilen eines ursprünglich ungeordneten offenen Systems entsteht. Wie diese Definition zeigt, geht es hier weder um einen absichtlichen oder gar zielgerichteten Gestaltungsakt noch um eine bestimmte resultierende Konstellation. Egal, ob im Kontext natürlicher oder sozialer Phänomene, der Prozess der Selbstorganisation folgt den Mechanismen der Systemdynamik: In dem Maße, wie ein offenes System Energie mit seiner Umwelt austauscht, erhält es Impulse, die seine Ordnung in Frage stellen und stören. Interne Rückkopplungsschleifen des Systems wirken sich dabei auf unterschiedliche Weise auf diese Störungen aus: Während negative Rückkopplungsschleifen das Gleichgewicht des Systems schützen (indem sie äußere Impulse dämpfen), verstärken positive Rückkopplungsschleifen sie und laden so zu einer eskalierenden Systemveränderung ein. Es kann dabei entweder zur systemweiten Transformation oder zur internen Differenzierung kommen.

Die Wirksamkeit dieser Gesetzmäßigkeiten in Systemen bedeutet nicht, dass sie nicht von außen manipuliert werden können: So wie die angewandte Physik Selbstorganisation in Energie- und Materiesystemen zu lenken sucht (z. B. um Laserstrahlen zu erzeugen), ist die Biologie bemüht, die Musterbildung in Bakterienkolonien zu steuern, während ein Teil der angewandten Sozialwissenschaft nach Wegen sucht, Diskurse und kollektives Handeln in Gruppen und Gesellschaften zu beeinflussen. Wenn wir gelingende Selbstorganisation befördern wollen, müssen wir in ähnlicher Weise die Musterbildung im System moderieren.

Um die Entstehung von Verhaltensmustern in offenen nichtlinearen Systemen zu verstehen, ist es hilfreich, sich mit dem Konzept von Attraktoren vertraut zu machen. Ein Attraktor markiert einen bestimmten Bereich in der Karte möglicher Systemzustände. Die vollständige Karte wird als „Zustandsraum“ bezeichnet. Der Attraktor beschreibt die Menge der Zustände innerhalb dieses Raums, zu denen das System auf natürliche Weise tendiert. Dabei kann es sich um einen einzelnen Gleichgewichtspunkt (z.B. den tiefsten Punkt eines Wasserbasins), eine Linie (z.B. die Umlaufbahn eines Planeten um die Sonne) oder sogar um einen sich ständig ändernden Pfad handeln (z.B. ein Eiswagen, der sich durch ein Stadtviertel bewegt – in der Systemtheorie poetisch Strange Attractor genannt).

Je nach Stärke der Attraktoren weist das System mehr oder weniger „Rauschen“ auf, also Systemzustände, die nicht zum Attraktorensatz gehören und somit das „Mainstream“-Verhaltensmuster verwischen (nebenbei bemerkt: dieses Rauschen ist eine der Voraussetzungen für Innovation). Im Jazz ist einer der Hauptattraktoren die verwendete Akkordfolge – sie definiert eine Reihe von Skalen mit Tönen, die das Rückgrat der Musik bilden. Die Spieler:innen können von diesem Pfad abweichen und Töne außerhalb der Skala verwenden, um kreative Spannung aufzubauen. Wenn dies überstrapaziert wird, schlägt die Spannung in dissonantes Chaos um. Womit wir wieder bei den minimalen Strukturen sind…

STÜTZSTRUKTUREN

Die Idee der Minimum Viability geht auf Eric Ries‘ Konzept des Minimum Viable Product (MVP) zurück, das „nur die Merkmale aufweist, die den Release des Produkts ermöglichen, und nicht mehr“. Eine Übertragung auf die Gestaltung sozialer Systeme wurde im Rahmen des Agilitätsdiskurses etwa mit der Idee der Minimum Viable Bureaucracy (MVB) vorgestellt. Hierbei geht es darum, genau so viele Prozesse zu etablieren, dass Systeme funktionieren, aber nicht so viele, dass sie schwerfällig werden.  Das Konzept der Minimum Viable Structures bezieht sich nicht auf Produktfeatures oder Prozesse, sondern auf stabile Konfigurationen überhaupt. Es fragt, mit wie viel Fluidität wir leben können und wollen und wo Rankgitter nötig sind, um eine bestimmte Ordnung oder ein bestimmtes Handlungspotenzial aufrechtzuerhalten. 

So wie Tonleitern nicht vorschreiben, welche Note zu welchem Zeitpunkt zu spielen ist, schreiben Rankgitter nicht vor, wie Pflanzen wachsen – sie bieten lediglich einen unterstützenden Rahmen für fruchtbares und produktives Wachstum. Sie sind Stützstrukturen (Scaffolding Structures), die sich in den Worten der Forschungsgruppe MD als „Design höherer Ordnung bezeichnen lassen.

Sie ermöglichen es, „Emergenz zu nutzen, anstatt zu versuchen, sie entweder wegzuplanen oder sie als Unvollkommenheit unserer Vorhersagetechniken zu betrachten. Wir sind mit Emergenz konfrontiert, also sollten wir herausfinden, wie wir sie nutzen können! Die Idee ist, das Design auf die Strukturen auszurichten, die die Dynamik des Systems steuern, und nicht auf die Ergebnisse selbst: Wir bezeichnen solche Strukturen als Stützstrukturen“. (MD-Manifest/Emergencebydesign, 2018)

Ich stelle im Folgenden zwei relevante Arten solcher Stützstrukturen vor: Gestaltungsprinzipien, die die Grundlage für Praktiken im Einklang mit der gemeinsamen Wertebasis bilden; und Adapterpraktiken, die auf Vereinbarungen und Standards beruhen, mit denen Kompatibilität und reibungslose Zusammenarbeit innerhalb des Systems gewährleistet wird.

GESTALTUNGSPRINZIPIEN

Die erste Art von Stützstrukturen sichert die Integrität der kollektiven Wertebasis und die Abgrenzung zur Umwelt, mithin die Identität des Systems. 

Attraktoren sind nicht notwendigerweise das Ergebnis bewusster Organisationsgestaltung. Sie ergeben sich häufig auch aus der Einbettung in Systeme höherer Ordnung. So können beispielsweise kulturelle Normen oder auf einem Markt vorherrschende Strategien die Verhaltensdynamik auf Organisationsebene prägen. Bewusst gestaltete Strukturen schirmen Organisationen vor solchen Umwelteinflüssen ab und schaffen neue Attraktoren, die eine gewünschte interne Entwicklung fördern. Ein praktisches Handwerkszeug für diese Gestaltungsarbeit findet sich in der Operating System Canvas, die von The Ready entwickelt wurde. Sie fußt auf folgender Logik: Für jede Funktion, die wir nicht bewusst gestalten, werden wir höchstwahrscheinlich die dominante Lösung unserer Umwelt „erben“. Wenn wir unser Vergütungsmodell nicht bewusst (zum Beispiel bedarfsorientiert) gestalten, werden wir wahrscheinlich auf die „normalen“ leistungsbezogenen Vergütungsmodelle zurückgreifen. Wenn wir nicht bewusst eine rotierende oder verteilte Machtstruktur etablieren, werden wir höchstwahrscheinlich die klassischen Führungskonstellationen (und mit ihnen die bekannten Verantwortungsengpässe und Machtkonflikte) erben. Gleiches gilt für Entscheidungsmodelle und vieles mehr. Es ist dabei sinnvoll, sich auf die Aspekte zu konzentrieren, die für unseren Purpose und unsere Wertebasis von besonderer Bedeutung sind. Die Grundlagen dieser Aspekte werden in den Gestaltungsprinzipien (Core Principles) kodifiziert.

ADAPTERPRAKTIKEN

Die zweite Gruppe relevanter Stützstrukturen in selbstorganisierten Systemen ist eher funktional: Sie bezieht sich auf die Kompatibilität der Beiträge innerhalb des Systems. Da eine der Kerneigenschaften der Selbstorganisation ein hohes Maß an Autonomie der Untereinheiten ist, sind Standards und Prozesse, die das Zusammenspiel dieser Einheiten strukturieren, unabdingbar

  • Wo werden Informationen gespeichert?
  • Was sind Koordinationspunkte und Gefäße der gemeinsamen Abstimmung?
  • Wie werden die Einheiten und Rollen beauftragt und wie werden sie für ihre Aufgabenerfüllung zur Rechenschaft gezogen?
  • Welche Standards muss ein interner Service oder ein internes Produkt erfüllen, um nutzbar zu sein?
  • Wie sehen Entscheidungsprozesse aus, wenn mehr als eine Einheit beteiligt ist?
  • Wie definieren wir gemeinsame Schlüsselkonzepte und Metriken?

Diese und weitere Fragen wollen beantwortet werden, damit ein lose gekoppeltes System von Einheiten synergetisch und reibungslos zusammenarbeiten kann. Auch hier geht es nicht darum, alles zu standardisieren, sondern die kritischen Punkte herauszuarbeiten, die das Zusammenwirken befördern. Methodisch findet sich für diese Arbeit einiges im Handwerkskasten der Prozessentwicklung, z.B. im Bereich der Smart Structured Workflows, die ad hoc dezentral getriebene und verbindlich strukturierte Prozesselemente verbinden.

Wo landen wir nun? Strukturlosigkeit ist eigentlich nicht denkbar – Struktur ist einfach immer da, in der Musik wie in der Organisation. Wir können uns lediglich bewusst zu machen, wie wir Strukturen hilfreich gestalten und wie wir uns souverän in ihnen bewegen. Dass dabei nicht möglichst viel, sondern möglichst wenig regulierte Verbindlichkeit ins Spiel kommt – gerade genug, um das strategisches Zusammenwirken zu garantieren, aber so wenig, dass Improvisation und Emergenz ihre Magie entfalten können – dies ist der Grundgedanke von Minimal Viable Structures. 

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SOCIUS forscht zusammen mit Euch zu Selbstorganisation und Leadership

SOCIUS forscht zusammen mit Euch zu Selbstorganisation und Leadership

Ende September haben wir die Türen zur ersten offenen Forschungswerkstatt rund um das Thema “Selbstorganisation und geteilte Führung” geöffnet.
In einen hybriden Format fanden sich 11 Personen mit ganz unterschiedlichen Perspektiven  zusammen: Von neugierig fragender Haltung ohne bereits persönliche Erfahrungen mit Selbstorganisation in der eigenen Organisation gemacht zu haben bis zu konkreten Fragen mitten im Umsetzungsprozess einer geteilt geführten Organisation war alles dabei.

  • Wie kann geteilte Führung im gesamten Team jenseits von Führung als Doppelspitze gelingen? Und was ist auch möglich, wenn ein einzelnes Team innerhalb einer hierarchischen Organisation mehr gemeinsame Verantwortung leben will?
  • Wie können wir uns mehr dem Thema Macht und Verantwortung in Selbstorganisationsprozessen widmen? Und wie kann das bewusste Übergeben von Verantwortung gut gelingen?
  • Wie überfordern wir neue Personen, die in unser auch persönlich voraussetzungsvolles Selbstorganisationsmodell kommen, nicht?
  • Wie können wir als Organisation zur persönlichen Entwicklung jede:r Einzelne beitragen, um notwendige persönliche Kompetenzen zu stärken, die es für Selbstorganisation braucht?

Diese und noch viele Fragen mehr waren im Raum, nachdem wir von SOCIUS als Einstiegsimpuls unsere Landkarte zur Navigation von geteilter Führungsarbeit vorgestellt haben, in der wir die aus unserer Sicht wesentlichen Themen und Entwicklungsfelder rund um das Thema Selbstorganisation sichtbar gemacht haben. 

Es gab sogar schon erste Impulse, wie wir diese Landkarte noch weiterentwickeln könnten! Das freut uns, denn auch für uns ist die Forschungswerkstatt ein willkommenes Format zum Weiterlernen. 

Wir haben uns sehr über die große Resonanz, die neugierig-fröhliche Stimmung und den bereichernden Austausch gefreut und sind hochmotiviert, am 10.11. und 15.12. in dieser community of practice weiterzuforschen und gemeinsam Möglichkeiten und Hindernisse auf der Wegstrecke zu Selbstorganisation zu beleuchten und uns kollegial dazu zu beraten.

Aktuell ist unsere kleine Forschungsgruppe noch offen und ihr seid herzlich eingeladen, euch uns anzuschließen! Spätestens ab dem kommenden Jahr werden wir die Gruppe in ein online und ein Präsenzformat aufteilen und dann als geschlossene Gruppen weiterführen, um intensiven und persönlichen Austausch in einem geschützten Raum zu ermöglichen.

Erforsche  gemeinsam mit uns ein neues Format, in dem wir anhand praktischer Fragestellungen derer, die da sind, dem Wandel von Führungskraft zu geteilter Führungsarbeit und Selbstorganisation auf den Grund gehen. 

 

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Soziokratie zieht Kreise

Soziokratie zieht Kreise

Wir haben nichts anderes beseitigt als das blinde, irrational autoritäre Gehabe, das sich produktivitätsmindernd auswirkt.

Mit diesem Zitat beschreibt Ricardo Semler, was sein Maschinenbau-Unternehmen SEMCO vor über 50 Jahren dazu bewegte, neue Wege zu gehen. Seitdem wurde in zahlreichen Eigenversuchen die „Technologie der Soziokratie“ weiterentwickelt – und so auch in diesem SOCIUS labor. 

Vivian Breucker (Offene Schule Köln) und Nicola Kriesel (SOCIUS Organisationsberatung) haben zu einem 4-stündigen Labor eingeladen, in dem wir gemeinsam mit 20 anderen Menschen in soziokratische Prinzipien eintauchten und Erfahrungen aus der Praxis teilten. 

Nach einem kurzen Input zum zweiten und dritten soziokratischen Prinzip (semi-autonome Kreise und doppelte Verknüpfung) ging es weiter mit einem Praxisgespräch, in dem Vivian Breucker ihre Erfahrungen soziokratischer Praktiken an der Offenen Schule Köln teilte. Die Offene Schule Köln ist eine anerkannte Ersatzschule in freier Trägerschaft und gibt Schüler:innen vom ersten bis zum dreizehnten Schuljahr die Möglichkeiten im Rahmen des Bildungsplans sich weitgehend selbstständig auf diverse Schulabschlüsse vorzubereiten. Dabei spielen Inklusion und Diversitätssensibilität ebenso eine Rolle wie Eigeninitiative und Bildungsgerechtigkeit in Bezug auf die Bedarfe einzelner. 

Semi-autonome Kreise

  • Jeder Kreis ist eine semi-autonome Einheit, dem ein Teil der Verantwortung und Arbeit delegiert wird, um das gemeinsame Ziel zu erreichen.
  • Kreise haben neben den gemeinsamen Organisationszielen, noch eigene Ziele/Purpose und eine Festlegung, an welcher Stelle die Autonomie endet. (Schnittstellen/Synergien).
  • Kreismitglieder sind gemeinsam für die Erreichung des Zieles und die Umsetzung der Aufgaben verantwortlich.
  • Auch in den Kreisen wird im KonsenT entschieden.
  • Kreismitglieder sind nicht nur in ihrer Fachkompetenz gefragt, sondern lernen organisationale Verantwortung zu übernehmen. 
  • um “Organisation zu produzieren” ist es sinnvoll, z.B. zu lernen, wie schwerwiegende Einwände argumentativ begründet werden (am Ziel ausgerichtet).  Vertrautheit mit dem Verfahren der KonsenT-Entscheidung ist wichtig.
  • wiederholtes Überprüfen von Entscheidungen: Leiten, Tun, Messen und ggf. verändern. Das wird im Logbuch der Entscheidungen festgehalten.

Doppelte Verknüpfung

  • Grundsätzliche Idee: Um die Verbindung zum nächsthöheren Kreis zu halten, nehmen jeweils zwei Menschen aus dem Kreis an den Beschlussfassungen des nächsthöheren Kreises teil. 
  • eine Organisation braucht in der Regel mehrere Kreise, um ihre Komplexität abbilden zu können, sowie Verantwortung und Arbeit zu teilen
  • Gleichzeitig braucht es Wege, um die Dynamik der einzelnen Kreise auf die anderen “übertragen” zu können. 
  • Es wird von “nächst höheren Kreisen” gesprochen, mit denen diese Verbindung (doppelte Verknüpfung) bestehen soll. 
  • Diese Person sind 
    • die leitungsgebende Person
    • eine delegierte (gewählte) Person
  • Hierdurch soll sichergestellt werden, dass der dynamische Prozess nicht unterbrochen wird, sondern Informationen, Spannung und Macht fließen können. 

Zu den inspirierenden Erkenntnissen aus der Praxis, zählen Einsichten wie:

  • Die Qualität des „soziokratischen Zuhören“ führt zu nachhaltigeren Entscheidungen, weil nicht nur die formalen Ergebnisse, sondern auch Sorgen und Perspektiven, die in einem Kreis geäußert werden, durch die Delegierten in den nächsthöheren Kreis mitgenommen werden. 
  • Bei der Einführung soziokratischer Praktiken muss die traditionelle Führung der Organisation mit an Bord sein – sonst hat die Soziokratie keine Chance. Dies gilt interessanterweise insbesondere auch für nicht-hierarchische Organisationen, in denen es auch immer Menschen gibt, die mehr Macht und Einfluss als andere haben. 
  • Sich nicht willenlos an soziokratische Vorgaben binden, sondern den Wechsel von soziokratischem Kreisgespräch und anderen Gesprächformaten zulassen. Formale soziokratische Kreisentscheidung und Konsent, z. B. nur wenn es um zukunftsweisende, essenzielle Entscheidungen geht, die eine hohe Verankerung brauchen.
  • Bei Entscheidungsprozessen immer wieder die Frage ins Bewusstsein holen: „Ist es gut genug für jetzt? Und sicher genug, um es auszuprobieren?“. Sich vor Augen führen, dass Antworten gefunden werden sollen, den nächsten Schritt zu gehen. Nicht Antworten, die 10 Jahre gelten müssen. 
  • Das Format der Entscheidungsrunden will geübt sein, hier ist die knackige und feste Formatierung hilfreich:
  1. Inforunde (1-2 mal)
  2. Meinungsrunde (2-3 mal)
  3. Vorschlag
  4. Einwandrunde
  5. Modifizierung
  6. Konsentrunde
  • Klarheit: Klar festlegen, welche Treffen verpflichtend für wen sind und welche Treffen freiwillig. Z. B. unterscheiden zwischen selbst-organisiertem Arbeitskreis (gibt sich eigene Regeln der Verbindlichkeit) und Leitungskreis (an dem Personen mit Leitungsaufgaben verpflichtend teilnehmen). Eine gute Visualisierungen der Entscheidungsstrukturen sind sehr hilfreich, wie z. B. die folgende Übersicht Offenen Schule Köln:

Neben praktischen Tipps bot das Labor auch Raum für Selbsterfahrung. Es kam unter anderem die Frage auch: “Wie vielen Personen kann ich in einer Kreismoderation zuhören? Was ist meine Obergrenze, bevor ich gedanklich abdrifte?” Die Antwort auf die Frage kann auch davon abhängen, was ich mir und meinen Kolleg:innen im Kreis zutraue. Und das wiederum brachte die Einsicht, dass die Kreisgespräche einen gemeinsamen Lernraum bieten, in dem wir die Praxis einüben, Runden mit 30 Personen ebenso energetisierend zu gestalten, wie mit sieben Personen.

Rückmeldungen aus der Abschlussrunde des Labors waren: 

  • ich habe viel gelernt, vor allem zu erleben, wie toll es ist im Kreis nacheinander zu sprechen, hat deutlich gemacht, dass alle den Raum halten
  • was ich hier lasse: meine Idee, dass Selbstorganisation Leitung überflüssig macht
  • Dass Bedenkenträger:innen in den Kreisen explizit willkommen sind, weil sie auf etwas hinweisen, was noch übersehen wurde, ist ein Mindshift
  • immer wieder: die Kraft des Kreises am eigenen Leib zu erfahren, ist so bereichernd, und auch entspannend. Dadurch kann Neues entstehen.

Insgesamt war die Stimmung nach vier Stunden SOCIUS labor inspiriert und hoffnungsvoll und nicht nur die Teilnehmenden hatten Lust auf mehr Soziokratie bekommen, sondern auch die Einladenden. 

Stay tuned!

Ressourcen

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