Das Enneagramm als Landkarte für Persönlichkeitsmuster
Sich selbst zu erkennen ist oft schwieriger als andere zu erkennen. Das gilt auch für die neun Muster des Enneagramms. Selbst- und Fremdwahrnehmung können hier in spannendem Gegensatz stehen. Und dann sagt Claudia Meimberg “Interessant wird es da, wo der Automatismus greift. Wo du nicht nachdenkst, wo keine (bewusste) Regulation stattfindet, sondern da wo du automatisch reagierst. Der erste Impuls. Der allererste. Der führt dich auf die Spur zu deinem Enneagramm-Muster.”
Das letzte SOCIUS labor 2021
Am 16. Dezember 2021 fand das 10. und letze SOCIUS labor im Jahr 2021 statt. Und wir hatten wirklich eine Vielzahl von Themen: Im Januar machten Rudi Piwko und Raphael Wankelmuth den Auftakt mit der zweiten Auflage ihrer “Virtuellen Tools”, gefolgt von Andreas Knoth und Britta Loschke mit “Positioniert im Dialog”, Christian Baier und Gabor Vazori mit den “Online Aufstellungen”, Ralph Piotrowski und Andreas Knoth mit dem “Rollenboard”, Simon Mohn und Lino Zeddies schauten in die “Zukunft” und Joana Ebbinghaus und Bea Schramm gaben uns kurz vor der Sommerpause noch Einblicke in die Theorie von “Bindung und ihre Auswirkung auf den Arbeitskontext”. Im August luden Kerstin Engelhardt und Jana Hornberger zu einem Live Labor ein und machten sich auf “Erkundungsreise über das was wir in der Pandemie bisher gelernt hatten”, bevor Nicola Kriesel und Hannah Gedamu sich im September der “Diversitätssensibilität in der Personalentwicklung” widmeten. Im Oktober machten wir das wozu Julia Hoffmann und Christa Cocciole im November einluden: “Mut zu Pause”.
Und nun 14 Tage vor Jahresende: (Selbst)Erkenntnis mit Lysan Escher und Claudia Meimberg.
Die beiden haben ein abwechslungsreiches, kreatives und phantasievolles SOCIUS labor mit und für uns gestaltet und es war vier Stunden lang spürbar, wie viel Spaß den beiden das macht und wie sie es genossen auf 13 interessierte Menschen zu treffen, die das Enneagramm kennenlernen wollten.
Zunächst starteten wir mit einer kleinen soziometrischen Übung im online-Raum: Mit “Alle, die…” bot Lysan uns verschiedene Aussagen an und alle, auf die diese Aussage zutraf, ließen ihre Kamera an, während diejenigen, die sich nicht damit assoziierten, die Kamera abschalteten. Das war auf jeden Fall schon mal ein gutes kleines Intro, um ein bisschen Gespür für die Menschen im Raum zu bekommen.
Der Ursprung des Enneagramms
Sodann bekamen wir einen Input in die Genese des Enneagramms – wo kommt es her? Was sagt es aus? Wie ist es aufgebaut? Claudia Meimberg arbeitet seit vielen Jahren mit dem Enneagramm und hat sich umfassend ausgebildet, vor allem bei Katharina Kunze-Neidhardt und Hans Neidhardt. Beide sprechen nicht davon, dass das Enneagramm neun PersönlichkeitsTYPEN vorstellt, sondern sie sprechen von MUSTERN. Ein Muster ist etwas anderes als ein Typ. Das Muster kann verglichen werden mit einer Landkarte, dort kann gesehen werden, wo Straßen, Besiedlungen, Felder, Wälder, Seen, Großstädte sind, sie ergeben ein Muster auf dem Papier, u.a. weil z.B. Städte immer als rote große Punkte dargestellt werden, während Landstraßen gelbe Striche sind, Wälder dunkelgrün, Landstriche mit Feldern eher hellgrün und Wasser blau. Wir erkennen diese Muster wieder, wenn wir auf unterschiedliche Landkarten schauen. Und doch ist das, was wir real in der Welt sehen, viel mehr und differenzierter als eine Landkarte. Abgesehen davon gibt es für unterschiedliche Bewegungsarten auch unterschiedliche Landkarten: Schifffahrtskarten sehen ganz anders aus als Wanderkarten, die sich wiederum von Radkarten und Autokarten unterscheiden. Und dennoch können wir uns, wenn wir die Muster der verschiedenen Karten studiert haben, einerseits auf den Karten und andererseits, vor allem aber, mit ihnen auch in der Welt orientieren.
So ähnlich geht es mit dem Enneagramm auch, dessen Herkunft nicht ganz geklärt ist. Es scheint Wurzeln in der Antike, im Christentum und im Sufismus zu haben und wird von Wikipedia als esoterisch bezeichnet. Was einigermaßen fest zu stehen scheint, ist dass es sich lange Zeit um eine mündliche Überlieferung von Meistern zu Schülern gehandelt hat und geheim gehalten wurde, bevor es sowohl in Europa als auch in Chile öffentlich gemacht wurde und so von Psycholog:innen der Humanistischen Psychologie als Rahmung für Persönlichkeitsstrukturen genutzt wurde, ebenso wie für Entwicklungsprozesse.
Claudia weist uns darauf hin, dass es sich um ein sehr komplexes Modell handelt: nicht nur mit den neun Zahlen für die Muster, sondern auch mit noch drei Zentren: Bauch, Herz und Kopf, mit denen bestimmte Qualitäten verbunden werden. Es war von Flügeln, Stress- und Trostpunkten die Rede und dann kam der Satz, der unvermeidbar war: Natürlich ist es am allerschwierigsten dem eigenen Muster auf die Spur zu kommen – zumindest bei den meisten Mustern.
Mit Bewegung lernt’s sich besser
Bevor wir uns alle dieser Überforderung hingeben konnten, hatten Claudia und Lysan etwas anderes geplant: Musik… wir hörten drei Stücke, die für die drei Zentren standen und waren eingeladen uns dazu zu bewegen. Nach fast einer viertel Stunde Tanz gab es Kleingruppen und die Frage: welche Musik hat dich am meisten berührt, etwas in dir “angeschwungen”, dich bewegt – im wahrsten Sinne des Wortes? War es der Rhythmus des Trommeln, der für das Bauchzentrum steht, oder Vivaldis Sommer aus den Vier Jahreszeiten, der dein Herz berührt hat oder hat dich Liszt mit seiner Musik für das Kopfzentrum erreicht?
Das war eine sehr spannende Erkundung. Mich haben die Trommeln in Bewegung gebracht, also sinnbildlich körperlich zum tanzen. Vivaldi fürs Herz hat mich etwas ratlos unberührt zurückgelassen und bei Liszt hab ich mich angenehm wohlgefühlt.
Das Theater der neun Muster
Und dann ging’s los: Das Theater der neun Muster. Lysan und Claudia präsentierten in wechselnden Rollen die neun Muster des Enneagramms, mit den dazugehörigen Leitsätzen, Besonderheiten, Leidenschaften und Rollen.
1 – “Es gibt immer was zu verbessern” – die gewissenhafte Perfektionistin hat die besondere Gabe Dinge zu sehen, die so nicht sein sollten. Sie sieht Fehler und korrigiert sie, auch mit sich selbst ist sie in einem ständigen Verbesserungsprozess. Spontaneität ist nicht so ihr Ding. Sie ist sehr verantwortungsbewusst und hält sich streng an Verabredungen. Ihre Leidenschaft ist der Zorn, die geronnene Wut. Sie neigt dazu cholerisch zu sein.
2 – “Die Welt braucht mich” – der Helfer hat die Fähigkeit, ganz schnell zu sehen, was andere brauchen und ihnen das auch einfach zu geben. Dadurch erfährt er Wertschätzung, geht aber auch das Risiko ein, andere einzuengen. Er engagiert sich häufig ehrenamtlich oder auch im eigenen Team für ein gutes Miteinander. Nähe ist ihm wichtig. Seine Grundfrage ist “Werde ich ausreichend geliebt?”, die eigene Bedürftigkeit wird häufig abgelehnt. Seine Leidenschaft ist der Stolz. “Gib alles her, ich schaff das!”
3 – “Hier komme ich!” – die allseits beliebte Macherin setzt Ziele und startet in die Umsetzung. Hat eher selten Stress, ist auf allen Bühnen zu Hause, mag es aber nicht alleine zu sein und nichts zu tun zu haben. Für sie zählen Leistung und Erfolg im Leben am meisten, es ist wichtig bei anderen gut anzukommen. Selbst ein Scheitern wird mindestens als Teilerfolg verkauft. Diese dynamischen Erfolgsmenschen strahlen, haben Charisma und bringen was voran. Sie haben feine Sensoren für Feedback und arbeiten für positive Rückmeldungen. Das kann manchmal wie ein Fähnchen im Winde sein. Ihre Leidenschaft ist die Täuschung. Sie haben eine hohe Anpassungsfähigkeit und wissen manchmal selbst nicht um ihren Kern.
4 – “Endstation Sehnsucht” – der anspruchsvolle Individualist träumt die Geschichte einer großen Liebe von höchster Euphorie, Enttäuschung, Verlust, Rückzug und Elend bis eine neue große Sehnsucht erwacht und mit der Realität konfrontiert wird. Er ist krisenerprobt, feinfühlig, und spürt, dass er ganz anders ist als die anderen. Er erlebt höhere Höhen und tiefere Tiefen und ist ein sehr guter Krisenbegleiter. Seine Sehnsucht befriedigt er in tiefen Gesprächen, seinem Sinn für Schönes und der Fähigkeit zu gutem Kontakt. Manchmal ist er ein Dramaking und neigt dazu Themen zu emotionalisieren. Seine Leidenschaft ist der Neid. “Allen anderen geht es besser als mir”.
5 – “Wissen ist Macht” – die stille Einzelgängerin analysiert, ist sachlich, neutral, scheint unberührt zu sein. Sie ist Strategin. Sie separiert ihre Lebensbereiche – Arbeit ist Arbeit, Familie Familie, Hobby Hobby. Hier gibt es keine Überschneidung. Die Welt erscheint ihr grundsätzlich feindlich und sie schafft sich Sicherheit in dem sie beobachtet und ihr Wissen vertieft. Oft trägt sie nicht alles bei, was sie könnte und lädt dazu ein, übersehen zu werden. Ihre Leidenschaft ist der Geiz. Vor allem ist sie geizig mit sich selbst.
6 – “Im Zweifel gegen den Angeklagten” – der loyale Skeptiker hat detektivische Fähigkeiten. Ihm kann man nichts vormachen, er hat nicht nur, sondern er ist ein Frühwarnsystem. Leider oft von Angst getrieben, tritt er in zwei Varianten auf: Der Phobische neigt zum Rückzug, während der Kontraphobische zu Übersprungshandlungen neigt. Der loyale Skeptiker ist ein guter Krisenmanager, er hat immer ein Survivalpack dabei. Seine Leidenschaft ist der Zweifel. “Stimmt das wirklich?” Oft traut er seiner eigenen Wahrnehmung nicht.
7 – “Sieh, das Gute liegt so nah!” – die lebensfrohe Optimistin verbreitet gute Laune, ist eine Abenteurerin, und auch eine Clownin und Jongleurin. Sie versucht Trauriges zu vermeiden und geht Schmerz aus dem Weg, in dem sie es sich gut gehen lässt. Sie hat innovative Ideen, liebt die Freiheit und nach einem Plan A nicht nur einen Plan B, sondern immer auch noch Plan C D E F und G… Sie ist so assoziativ, dass sie immer noch eine Idee hat, wie etwas doch noch gut wird. Ihre Leidenschaft ist die Gier. Sie kann zwanghaft positiv sein.
8 – “Alles hört auf mein Kommando” – der willensstarke Kämpfer hat ein Gespür für Macht. Konflikte sind ihm vertraut, an ihm kommt man nicht vorbei. Er füllt einen Raum ohne ein Wort, mit seiner hohen Energie ist er extrem präsent, bevor er Schwäche zeigt, wird er aggressiv. Der willensstarke Kämpfer stellt sich vor sein Team, wenn es nötig ist; wenn man sich ihm entgegenstellt, kommt er mit direkter Ansprache klar. Seine Leidenschaft ist die Wollust. Er ist lustvoll intensiv.
9 – “Ich bin irgendwie unwichtig hier” – die Friedensstifterin glaubt, dass es am besten ist, sich selbst zu vergessen. Sie ist eine friedvolle Vermittlerin mit hoher Hilfsbereitschaft und der Schwierigkeit Prioritäten zu setzen. Bis sie in die Gänge kommt, kann das dauern, aber dann ist sie ausdauernd. Sich zu positionieren ist nicht ihre Stärke; wird sie dazu gedrängt, fällt sie in eine Art Totstellreflex. Ihre Leidenschaft ist die Trägheit. Manchmal führt das zu einer bleiernen Schwere.
Die Muster zwei, drei und vier sind dem Herzzentrum zugeordnet und folgen der Qualität der Liebe. Die Muster fünf, sechs und sieben sind dem Kopfzentrum zugeordnet und folgen der Qualität der Sicherheit. Die Muster acht, neun und eins sind dem Bauchzentrum zugeordnet und folgen der Qualität der Autonomie.
In jedem Zentrum gibt es ein Muster, das die Energie nach innen wendet, eines, das sie nach außen wendet und eines, das die Energie blockiert. Die jeweiligen Muster an der Seite werden Flügel genannt und haben ebenfalls Einfluss auf das eigene Muster. Weitere Ausführungen bedürfen intensiverer Befassung, wer dazu was lesen will, findet hier weitere Einsichten: Maria-Anne Gallen, Hans Neidhardt, Das Enneagramm unserer Beziehungen – Verwicklungen, Wechselwirkungen, Entwicklungen.
In der letzten Stunde unseres Labors gab es neun offene Breakoutrooms in denen die Teilnehmenden sich frei bewegen konnten, um sich noch tiefer mit den einzelnen Mustern zu beschäftigen. Es ergaben sich interessante Gespräche.
Vom SOCIUS Team haben fünf Personen am Labor teilgenommen und wir haben uns fest vorgenommen das Enneagramm im neuen Jahr auch mal als Feedback-Instrument auszuprobieren. Die Unterschiede zwischen Fremd- und Selbstwahrnehmung sind ja bekanntlich überaus interessant.
Ich bin gespannt!