Organisationskultur ist ein schillerndes Wesen, das die Geister scheidet. Auf der einen Seite herrscht die Überzeugung, dass sich Kultur kaum bis gar nicht verändern lässt. Aus dieser Perspektive müssen wir sie akzeptieren wie die Klimazone, in der wir leben (und wo das unbefriedigend ist, greift die gute alte Hamburger Weisheit „Es gibt kein schlechtes Wetter, nur falsche Kleidung“).
Auf der anderen Seite finden sich ausgefeilte Gestaltungsansätze des Cultural Engineering, das die Veränderung prägender Denk- und Handlungsmuster durch systemische Interventionen verfolgt, und der Transformationalen Führung, die eine Ausrichtung durch Werte und Visionen ins Zentrum stellt. Vielfach wird dabei auf die „transformative Kraft der Symbole“ gesetzt: Hisse neue Flaggen, bring neue Geschichten ins Spiel, Konferenztisch raus, Bällebad rein und siehe da: auf dem Nährboden solcher Artefakte wächst eine neue Kultur.
So einfach? Die Geschichtsbücher lassen es einfach erscheinen, denn in den 4000 Jahren organisierter Führungspraxis finden wir hunderte von Beispielen solch transformativer Veränderungen – ein beeindruckender Case. Was wir dort nicht finden, sind die Millionen Fälle, in denen Kulturwandel durch die Hintertür kam. Wenn wir den Haupteingang als Bühne der Transformation nutzen, müssen wir einen robusten Auftritt hinlegen. Das Problem mit robusten Auftritten ist, dass sie Sensibilität in gewisser Weise ausschließen. Proklamieren und Zuhören sind nicht gut unter einen Hut zu bringen. Wenn nun aber das Zuhören wichtig ist, um den Untergrund zu verstehen, könnte die Hintertür für den Kulturwandel durchaus eine interessante Alternative sein.
Meine erste Begegnung mit der Metapher des Guerilla Gardening im Kontext der Organisationsentwicklung war 2011 beim „oe-tag“, einer Fachkonferenz, die SOCIUS jährlich in Berlin ausrichtet. Im Fokus der Tagung standen Fragen der Organisationskultur. Zwei Kolleginnen, Anna Krewani und Kerstin Giebel, stellten in ihrem Workshop einen subversiven Ansatz der Kulturentwicklung vor, deren Kernidee lautet: statt Kultur mit großer Geste von oben zu verändern, suche nach den peripheren Räumen der Organisation und etabliere dort praktische Beispiele der gewünschten Zukunft, die ausstrahlen und inspirieren. Schöne kleine Dinge – Blumen im Beton. Ich habe in den letzten Jahren viel mit dieser Idee gespielt und experimentiert, war begeistert und frustriert und bin mittlerweile ein überzeugter Anhänger.
Die Wurzeln des Guerilla Gardenings liegen in der aneignenden Raumentwicklung. Die folgende Anleitung von reset illustriert das einfache Grundprinzip des Ansatzes in der urbanen Praxis:
- Finde ein ungepflegtes peripheres Stück Land, eine Mauer, einen Baum – am besten in Deiner eigenen Nachbarschaft.
- Entscheide, was Du pflanzen möchtest, und prüfe, ob Deine Wahl sinnvoll ist. Robuste Pflanzen und schnell wachsende Blumen sind ein guter Anfang.
- Gemeinsam macht es mehr Spaß – finde Partner. Sprich mit Freund:innen und Nachbar:innen.
- Baue Deinen Garten. Möglicherweise musst Du etwas fruchtbaren Boden mitbringen und die Gewächse nach dem Pflanzen unbedingt gießen.
- Es kann ratsam sein, Deinen Garten vor den Herausforderungen des Stadtlebens zu schützen, möglicherweise mit einem improvisierten kleinen Zaun gegen Hunde und Füße.
- Pflege Deinen Garten mit Liebe! Geh regelmäßig und gieße ihn.
- Wenn die Dinge anders laufen als geplant, lass Dich nicht entmutigen! Sprich mit den Bewohner:innen! Die meisten von ihnen sind auf Deiner Seite und werden Dir zumindest moralische Unterstützung geben. Einige werden sich Dir vielleicht sogar anschließen!
- (Quelle: reset.org)
Das Guerilla Gardening Prinzip in der Organisationsentwicklung
Ich glaube nicht, dass ich diese kleine Anleitung in die OE-Sprache übersetzen muss – der Transfer fällt leicht. Und doch ist die Umsetzung in die Praxis der Entwicklung von Organisationen alles andere als trivial. Sie erfordert zunächst einmal viel Geduld.
Eine meiner ersten Erfahrungen mit dem Ansatz war in der Begleitung einer Bildungseinrichtung mit 50 Mitarbeiter:innen. Die Kultur der Organisation war auf allen Ebenen von Misstrauen und Angst geprägt und das Anliegen an uns, im Rahmen einer Leitbildentwicklung eine neue Qualität von Führung und Zusammenarbeit zu etablieren. Wir stellten der Leitungsrunde das Konzept des Guerilla Gardenings vor: Gemeinsamer Auftakt zum Sammeln von Druck- und Leidenspunkten; Erkundung der wiederkehrenden Muster und tieferliegenden Prägungen; und schließlich: Bildung von kleinen Gruppen zur Entwicklung dezentraler Experimente einer neuen Kultur der Zusammenarbeit. Trotz einiger Skepsis wurde der Vorgehensvorschlag angenommen. Wir waren zuversichtlich und bereit für ein kleines Wirkungswunder.
Der Prozess der Entdeckung dysfunktionaler Muster und möglicher Bausteine einer positiven Zukunft kam in Schwung. Doch als es dann an die Entwicklung der Guerilla-Gardening-Initiativen ging, blieb der Prozess ein wenig stecken. Die Leute waren vom Umfang der Dinge enttäuscht: ein regelmäßiges Team-Picknick im Park, eine Arbeitsgruppe, die neue Konfliktlösungsstrategien erkundet, ein Feedback-Fragebogen zu Erfahrungen guter Führungspraxis – die Ideen schienen wie Nadelstiche; einige der Pflanzen verdorrten, einige wurden zertrampelt; und doch überlebten einige. Erst viel später wurde uns klar, wie sehr der Prozess uns alle dazu gebracht hatte, die Muster, die Schwierigkeiten und die Visionen in der Organisation besser zu verstehen. Eine zweite Schleife führte zu noch besseren Ergebnissen, die Initiativen wurden mutiger und erhielten mehr Aufmerksamkeit. Im dritten Jahr formulierte die Organisation ein neues Leitbild, bei dem es nicht darum ging, politisch korrekte Schlagworte zu präsentieren, sondern die inhärenten Probleme zu umreißen, zu deren Bewältigung sich das Team und die Führung in ihrer Zusammenarbeit verpflichteten. Die Kultur hatte sich verändert – nicht durch zentrale Proklamation, sondern durch kleine, harmlose Experimente an der Peripherie.
Was passiert dann? Wie verändert das Experiment das ganze System?
Die Guerilla Theory of Change gibt es in einer Reihe von Versionen.
Keimform – Lehren aus dem Neomarxismus
Die neomarxistische Theorie hat den Begriff „Keimform“ als eine soziale Praxis geprägt, die innerhalb der funktionalen Logik oder „Grammatik“ des dominanten Systems wirkt, aber dessen soziale Logik und Wertebasis untergräbt. Peer Commons und Share Economies sind Beispiele dafür: Sie funktionieren reibungslos innerhalb der Marktlogik von Angebot und Nachfrage, untergraben jedoch die Idee des Privateigentums an Produktionsmitteln (zumindest war das mal ihr Anspruch). Wenn sie in einer Krise des dominanten Systems aus ihrer Nische kommen, haben sie das Potenzial, sich in dominante Praxis zu verwandeln – der Prozess dazu führt vom Funktionswechsel über den Dominanzwechsel bis hin zur vollständigen Umstrukturierung des Systems. Im Organisations-Kontext lassen sich agile Modelle als solche „Trojanischen Pferde“ beschreiben, da sie unter der Voraussetzung eines schlanken und effizienten Managements funktionieren und dabei zugleich Ansätze von Selbstorganisation und Autonomie einführen (natürlich ist das ein zweischneidiges Schwert: es kann auch sein, dass Agile Methoden mit dem Ziel importiert werden, Selbstmanagement zu stärken und dabei „als Nebenwirkung“ neuen Leistungsdruck aufbauen).
Nischen-Regime-Interaktion – Lehren aus dem Transition Management
Eine zweite Variante den Impact lokaler Experimente zu beschreiben, ist die im Transition Management vorgestellte Nischen-Regime-Interaktion – ein Denk-Rahmen, der im Kontext des Nachhaltigkeitsdiskurses entwickelt wurde, um die Dynamik der „Großen Transformation“ zu beschreiben. Die Multi Level Perspektive des Transition Management Modells umfasst drei aufeinander bezogene Systemebenen:
- die Landschafts-Ebene (Makro: breitere gesellschaftliche Trends und das relevante Systemumfeld),
- die Regime-Ebene (Meso: dominante Strukturen, Kulturen und etablierte Praktiken des Systems selbst) und
- die Nischen-Ebene (Mico: Experimente und innovative alternative Praktiken).
Bild: J. Broerse, VU Universität Amsterdam (https://slideplayer.com/slide/9791473/)
Das Transition Management geht davon aus, dass Regime mit einer evolutionären Logik funktionieren, erfolglose Experimente herausfiltern und nach und nach nützliche Innovationen auswählen und in ihre bestehenden Praktiken integrieren. Nischen sind sichere Umgebungen, in denen solche Innovationen wachsen können, geschützt vor dem Selektionsprozess. Der Druck aus der Landschaft ist der Schlüsselfaktor dafür, wie empfänglich (oder anfällig) das Regime für Nischeninnovationen ist (wird die Innovation das Regime ergänzen, reparieren, kitzeln oder stören?). Momente hoher Aufnahmefähigkeit sind Opportunitäts-Fenster, in denen radikale Innovationen zu Treibern des Wandels werden können. Wenn sie zu einer kritischen Masse akkumuliert und über verschiedene Subsysteme hinweg ausgerichtet werden, können sie das Regime transformieren oder sogar ersetzen (F. W. Geels, J. Schot / Research Policy 36 (2007) 399–417).
Der Guerilla Gardening-Ansatz kann durch die Linse dieses Modells als Nischen-Regime-Interaktion analysiert werden. Um als Veränderungsimpuls wirksamer zu sein, müssen dabei drei Bedingungen erfüllt sein:
- Das lokale Experiment muss lange genug vor Leistungs- und Kontrolldruck geschützt werden, um eine kohärente neue Modellpraxis mit einem „bewährten“ Anstrich zu werden.
- Der Moment, in dem die neue Praxis als Modelllösung vorgestellt wird, muss in ein Opportunitäts-Fenster fallen (z.B. eine etablierte Praxis liefert keine Antworten auf eine neue Herausforderung oder einen externen Druck mehr).
- Die neue Praxis muss mit anderen innovativen Praktiken integriert und akkumuliert werden, um einen kritischen Impuls für die Transformation (zumindest eines Teils) des Systems zu bewirken.
Two Loops – Lehren aus der Living Systems Theorie
Eine weitere Landkarte der Systemveränderung, die zur Guerilla-Gardening-Idee passt, ist das Modell der Two Loops, das von Margaret Wheatley und Deborah Frieze am Berkana Institute entwickelt wurde. Das Modell beschreibt die Dynamik und die Rollen beim Übergang von einem System (in Transition Management-Begriffen: einem „Regime“) zu einem anderen. Wheatley und Frieze gehen davon aus, dass alle Systeme eine Aufbauphase, eine Hoch-Zeit und eine Abstiegsphase durchlaufen – in größeren gesellschaftlichen Systemen mag dies über einen Zeitraum von 250 Jahren geschehen, in Organisationen können Episoden, die von einem bestimmten Paradigma geprägt sind, auch mal nur ein paar Jahre andauern. Ein System am Anfang seines Lebenszyklus wird von „Stewards“ gepflegt. Unter der Decke seiner Hoch-Zeit (in Transition Management Sprache: in den „Nischen“) treten Pioniere auf den Plan, die Innovationen voranbringen. Werden diese Inseln verbunden und gestärkt, bilden sie den Nährboden eines neuen Systems. Dessen Aufstieg kann mit dem Niedergang des alten Systems zusammenfallen (wie in der Nachspielzeit des Römischen Kaiserreiches zu sehen: nicht immer ein schöner Anblick). Um zu vermeiden, dass das alte System einfach in sich zusammenbricht und verschwindet, ist Hospiz- und Kompostierungsarbeit erforderlich. Für den geordneten Übergang vom alten zum neuen Regime müssen die Landeplätze des neuen Systems beleuchtet und der geordnete Umzug gesteuert werden.
Bild: Berkana Institute
In Organisationen erleben wir die Two Loops Dynamik in Zeiten von Umweltstörungen, aber auch in Krisen, die mit Phasenübergängen einhergehen. So entsteht zum Beispiel beim Übergang von der Pionier- zur Kollektivphase der kollektive Impuls als (manchmal rebellische, manchmal reformistische) Subkultur, während das etablierte Führungsmodell möglicherweise noch fest im Sattel ist. Der fortschreitende Niedergang des Alten und die Stärkung des Neuen sind miteinander verflochtene Prozesse, die sich gegenseitig nähren. Irgendwann, wenn das neue Modell stark und kohärent genug ist, um vertrauenswürdig zu sein, ist das System bereit für den Übergang.
Allen drei Modelle gehen davon aus, dass Veränderungsimpulse im Untergrund des Systems entstehen. Sie zeigen auch, dass es sorgsame Praktiken und Adapterstückle braucht, damit diese subversiven Impulse im richtigen Moment ihre transformative Wirkung im System entfalten können.
Autor Andi Knoth
(Original und mehr auf https://lost-navigator.net)
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