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Zuhören, Wir als Natur und demokratisch-feministisches Organisieren 

Meine Wahrnehmung schweift zu den Seiten hinaus, unter dem Sonnensegel der gesellig-leichtfüßigen Auftaktrede des oe-tag-Teams hervor; die Raben, ihre Verfolgungsjagden, der Wind in den Bäumen, vibrierende Blätter in der Morgensonne. Später frage ich mich, ob eine Art des „horizontalen Fühlens und Hörens“ nicht ein noch weiter zu entwickelnder Baustein von ‚Regenerativen Kulturen‘ und deren Organisation sein mag. Zack, und meine Aufmerksamkeit ist bei den SOCIUS Initiator*innen. Aspekte von Regenerativität, lerne ich, sind sowohl gesundes Arbeiten – konzentrieren, gestalten, wertschätzen, regenerieren, – aber auch eine ökologische Ausrichtung, die über traditionelle Verständnisse von Nachhaltigkeit hinausgehen: Natur wird nicht als getrennt vom Menschen und damit extern, als eine Ressource zu unserem Gebrauch, als anthropozentrisch (durch den anthropos [ἄνθρωπος], griechisch Mensch) kontrolliert verstanden (Gaard, 2021; Oksala, 2018). Mensch und Natur sind untrennbar verschränkt, oder wie der dänisch-französische Soziologe Nicolay Schultz formuliert: in der Klimakatastrophe besitzt die Erde uns, und nicht andersherum.

Wie organisieren wir uns also regenerativ?

„Resonanz erzeugen; Zuhören mit allen Sinnen“ war Teil einer Übung zu „schöpferischer Aufmerksamkeit“, die mir in einem ersten Workshop begegnet. Britta Heine unterstreicht: nicht reagieren, nicht bewerten, kein Ergebnisfokus – einfach 5 Minuten offen zuhören und das Gesagte durch den Körper fließen lassen. Dabei ist Feedback, ein Rat oder eine Meinung – außer es wird ausdrücklich gefragt – nicht das Ziel. Ich verstehe diese Form des generativen Zuhörens als kreativen „Safe Space“, der sich unserer kapitalistischen Logik der Instrumentalität, auf ein Ziel hinzuarbeiten, der „tyranny of success“ wie Jack Halberstram (2011) es nennt, entzieht. Zuhören wird generativ, wenn der*die Zuhörende sich Bewertungen enthält und der sprechenden Person durch aufmerksame Präsenz Räume der Selbst-Exploration ermöglicht – bewertungsarme Reflexion als Re-generation.

An diese neue Zuhör-Erfahrung schlossen sich weitere im Verlauf des oe-tags an. Meine derzeitige Forschung spinnt sich um partizipatives, demokratisches Organisieren und Selbst-Management, im Rahmen dessen Austausch, Dialog, Debatte und dabei auch Zuhören eine ganz neue Bedeutung gewinnt. Aber wie können Qualitäten des Zuhörens in neuen, egalitäreren Formen des Zusammenarbeitens, flacheren und demokratisch legitimierten Hierarchien, und Spielarten von ‚new work‘ aussehen?

Im Folgenden versuche ich, Zuhören nach Zeit bzw. Tiefe des Zuhörens und Intensität des Dialogs zu unterscheiden und eine Taxonomie zu erstellen. 

 

(-) Zeit

(+) Zeit

(-) Dialog-Fokus

Direktives Zuhören

Charakter: Zuhören als Gehorsam; die Empfangende soll etwas verstehen. Es geht nicht um Zuhören für einen Dialog, sondern zuhören als Element für Koordination. 

Beispiel: Klassische hierarchische Organisationen e.g. Extrembeispiele: Militär, Kirche, Autokratien. 

Prekaritäten: Koordination und Effizienz im besten und Machtausübung und -missbrauch im schlechtesten Fall können Teil dieser Art des Zuhörens sein. Zuhören ist eingebettet in Hierarchien und Abhängigkeiten, die mögliche Antworten oder Reaktionen (incl. Ausführung) auf das Gesagte rahmen. 

Generierendes Zuhören

Charakter: Verstehen der Zuhörenden tritt in den Hintergrund, während die Selbstexploration der Sprechenden ermöglicht wird. Das Gesagte wird nicht bewertet und nur bei expliziter Nachfrage kommentiert. 

Beispiel: Schöpferische Aufmerksamkeit, achtsames Zuhören (z.B. in der Tradition von Thich Nhat Hanh)

Prekaritäten: Das Grundprinzip des Nicht-bewertens kann schwer umzusetzen sein. Die Auswirkungen des schöpferischen Zuhörens auf die Beziehung der involvierten Personen kann herausfordernd sein, besonders wenn tiefgreifende weltanschauliche Differenzen bestehen, die danach nicht diskutiert werden. 

(+) Dialog- Fokus

Assoziatives Zuhören

Charakter: Zuhören in schnellen, assoziativen, iterativen Austauschzirkeln; Ziel ist die gemeinsame Ideengeneration und der Wissensaustausch.

Beispiel: Eingesetzt oft in kreativen, innovations- oder strategiebezogenen Kontexten z.B. Brainstormings.

Prekaritäten: Zuhören kann zum ‚downloaden‘ der eigenen Ideen verkommen; ein Nicht-zuhören. Dominante Stimmen können in diesen Formaten Überhand nehmen. 

Tiefes Zuhören

Charakter: Interesse an dem Verstehen der Inhalte des anderen, aktiven Zuhörens durch Nachfragen, nachhaken, paraphrasieren.

Beispiel: Entschleunigte Strategieformate, Supervision, tiefe Dialogformate, Mediation.

Prekaritäten: Kann starke emotionale Arbeit bedeuten, die nicht selten unbezahlt von weiblich gelesenen Personen ausgeführt wird. 

 „Direktives Zuhören“ bildet dabei die klassischste Form einer Zuhörqualität, die eher mit hierarchisch gegliederten Organisationen und klaren Arbeits-Abhängigkeiten in Verbindung steht – Überspitzt wird Zuhören zum Befehlsempfang und das akkurate Verstehen der Anweisung zur Voraussetzung, in der Organisation fortbestehen zu können. Eine Vielfalt von Spielarten des Zuhörens versteckt sich hinter dieser weitverbreiteten Kategorie, die sowohl im klassischen Verständnis von Bürokratie effizient, zweckrational und Ordnung-schaffend sein kann, als auch vielfältige Elemente der Über- und Unterordnung und Macht impliziert. Eine Chance demokratischen Organisierens ist, dass solche Hierarchien erst durch ‚alle‘ demokratisch legitimiert werden müssen, und nicht wie in vielen klassischen Unternehmen vornehmlich Kapital-getrieben sind. 

„Assoziatives Zuhören“ und „Tiefes Zuhören“ haben einen stärkeren Dialog- und Austausch-Fokus, da es um gemeinsames Verstehen, Weiterdenken, Informationsweitergabe, aber auch Lösungen finden und Verhandeln geht. 

Besonders spannend finde ich, dass „Generierendes Zuhören“ sowie „Direktives Zuhören“, wenngleich ganz anders gelagert, beides einseitig funktioniert. Dabei verkehren sich jedoch die Dominanzverhältnisse: das Generierende Zuhören wird zur Befähigung einer kreativen Selbst-Exploration im Gegensatz zur direktiven Befehlsannahme. Und dabei soll nicht gesagt sein, dass Hierarchie und direktive Anweisung in bestimmten Momenten des Organisierens nicht nur effizient, sondern auch ethisch vertretbar sein können. Beispiele sind Einsätze von Notärzt:innen oder der Feuerwehr und andere zeit- und verantwortungsintensive Kontexte. In anderen Organisationen mag einseitige Direktion wertvollen Dialog verhindern, besonders bei informationsintensiver Wissensarbeit, in welcher unterschiedliche Perspektiven Grundlage für gute Ergebnisse sind. 

Eine feministische Perspektive auf’s Zuhören

Sich als „Source“ verstehen, sich selbst zuhören, kann feministische Führung in Genossenschaften, aber auch anderen Organisationen stärken. In einem zweiten Workshop von Wera Stein und Amelie Salameh von der Kampagnenagentur und Organisationsberatung WIGWAM lerne ich: Das Betonen von Gleichheit in Eigentums-Strukturen und Gerechtigkeit in demokratischen Prozeduren bedeutet nicht, dass die Unterschiedlichkeit von Mit-Unternehmer*innen immer geachtet ist. In ihrem Workshop beschreiben sie die Gefahr des Glattbügelns vielfältiger Persönlichkeiten in (zu wenig agiler) demokratischer Führung. Damit verbunden seien träge Prozesse und nicht selten fehlende Initiative – Gleichheits-Überschuss kann in kollektiven Organisationen blockieren. Hinzufügen möchte ich gerne, ein Streben nach formaler organisationaler Gleichheit in Organisationen findet stets im Rahmen einer ungleichen Gesellschaft statt. Unsere Gesellschaft verteilt Handlungspotentiale und Macht verschieden. Analysiert man sie anhand von Aspekten wie Geschlecht, Hautfarbe, sozio-ökonomischer Schicht und anderen Merkmalen sowie ihren Schnittstellen, wird deutlich, dass einige im Durchschnitt Privilegien, andere Diskriminierungen mit sich bringen. Diese werden auch in Organisationen sichtbar; auch wenn dort formelle Gleichheit z.B. durch demokratische Strukturen angestrebt wird, vermenget sich dies mit den Ungleichheiten unserer Welt. 

Aber zurück zum feministischen Führen, für welches Wera Stein und Amelie Salameh zwei Konzepte in Dialog bringen. Anhand von Ursula K. Le Guins (2020) „Tragetaschentheorie“ wird spielerisch-poetisch die Menschheitsgeschichte aus weiblich-fürsorgender Perspektive statt über „Speer“, Kampf und Wettbewerb neu erzählt. Damit verbunden sind Forderungen zur „Entmaskulinisierung“ von Führung (Bastida et al., 2020) und dem gerechten Verteilen und Wertschätzen von Fürsorge-Arbeit (Fraser, 2016). Zudem wird das Konzept „Work with Source“ aus Peter König und Tom Nixons (2020) Arbeit vorgestellt. Es richtet die Aufmerksamkeit auf die Kraft von Initiator*innen und das Potential von Ideen. Der eigenen ‚Source‘ zuzuhören, eigene Kräfte und Impulse zu entdecken und diese mutig nach außen zu kommunizieren, kann als Moment des Selbst-Zuhörens und kraftvoll unternehmerisch zu sein, verstanden werden. Ich lerne: im Verfolgen von organisationaler Gerechtigkeit, Demokratie und Partizipation, bedarf es Empowerment und die Legitimation und Kraft, die eigene „Source“ zu ergreifen und sich einzubringen. Das ist aus feministischer Sicht besonders für Frauen und andere Personen, die durch unterschiedliche Formen von Diskriminierung ihr Potential nicht umfänglich in die Organisation einbringen können, wichtig und stärkend. 

Resümee

Nun ist der Text beinahe geschrieben und schon erwische ich mich wieder dabei, Zuhören und feministisches Führen vornehmlich als sozialen Prozess zu präsentieren. Wo sind die Raben, die Bäume, das Säuseln des Windes und das Wahrnehmen der so sehr vertrockneten Landschaften Berlins? Erschreckend schlecht bin ich, wie wohl viele von uns, dem Sozialen, auch wenn es dort um wichtige Kämpfe und Gerechtigkeitsfragen geht, den Fokus auf Natur nebenanzustellen. Dabei zeigt eine Reihe von Forschungen, dass die Arbeit an Gender-Gerechtigkeit in vielerlei Hinsicht auch eine Arbeit gegen die Klimakatastrophe ist (siehe hierzu: Gloor J. L. et al. 2022). Ich möchte daher argumentieren, regenerative Kulturen transformieren die Ungleichheiten des Sozialen, schaffen neue Räume der Ruhe, des Zuhörens und der Regeneration, aber gleichzeitig lauschen und antworten sie auf die desaströsen Veränderungen unserer Mitwelt und begegnen ihnen regenerativ. Wie funktioniert also Zuhören der Natur, oder tiefer Zuhören als Teil der Natur? Vielleicht sollten wir Workshops, Konferenzen, unsere Arbeit, oe-tage nicht im Plenum von Menschen, sondern im Parlament der Natur starten? Z.B. zehn Minuten raus zu den Raben, zu den Linden und dann erst in soziale Interaktion? Zudem, sprechend mit Bruno Latour (2004), sehe ich auch die Notwendigkeit, Natur vermittelt über Expert*innen, ihren Forschungen und Positionen zuzuhören. Unsere Ökosysteme sind größer und komplexer als das, was wir unmittelbar erspüren und erfahren können. Daher vielleicht auch eine obligatorische Pause in jeder Konferenz, jedem Workshop oder Arbeitstag, um neuesten, unterschiedlichen Forschungen zu lauschen? Ihr seht schon, nun könnte ich neu beginnen mit einer Taxonomie des Zuhörens. Vielleicht nehmen wir uns das gemeinsam vor? 

Ausgewählte Literatur Hinweise:

Bastida, M., Pinto, L. H., Olveira Blanco, A., & Cancelo, M. (2020). Female Entrepreneurship: Can Cooperatives Contribute to Overcoming the Gender Gap? A Spanish First Step to Equality. Sustainability, 12(6)

Fraser, N. (2016). Contradictions of Capital and Care. New Left Review, 100, 99–117.

Gaard, G. (2021). Queering the climate. Men, Masculinities, and Earth: Contending with the (m) Anthropocene, 515–536.

Gloor, J. L., Eugenia, B. M., Post, C., & Winfried, R. (2022). We Can’t Fight Climate Change Without Fighting for Gender Equity. Harvard Business Review; Harvard Business Publishing: Brighton, MA, USA.

Halberstam, J. (2011). The Queer Art of Failure. In The Queer Art of Failure. Duke University Press. 

Latour, B. (2004). Politics of nature. Harvard University Press.

Le Guin, U. K. (2020) Am Anfang war der Beutel. Warum uns Fortschritts-Utopien an den Rand des Abgrunds führten und wie Denken in Rundungen die Grundlage für gutes Leben schafft. Drachen Verlag

Nixon, T. (2020) Working with Source. Realize big ideas, organize for emergence and work artfully with money. 

Oksala, J. (2018). Feminism, capitalism, and ecology. Hypatia, 33(2), 216–234.

Über den Schreibenden

Jonas beschäftigt seit seiner Jugend die Frage, wie wir die Wirtschaft sozialer und ökologischer gestalten können. Er hat Ökonomik und Soziologie an der Uni Witten/Herdecke und Oxford University studiert und promoviert derzeit zu ‚Democratic Organizing Opportunities and Challenges for the Socio-Ecological Transformation‘ an der Universität St. Gallen. Darin bezieht er sich auf queer-feministische Theorien und relationale Ethiken. Praktisch begleitet er Organisationen zu kollegialer co-leadership, partizipativen und demokratischen Prozessen und gerechter ‚new work‘.

Schreibt mir gern: LinkedIn / mail@jonasfriedrich.eu

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