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Zwischen Dystopie und Utopie: „Future Sense“ von Malcolm Parlett hilft Orientierung zu entwickeln

Wir leben in widersprüchlichen Zeiten. 2014 griff Frédéric Laloux ein optimistisches Szenario menschlicher Entwicklung auf und konkretisierte es in „Reinventing Organisations“ zur neuen Qualität der Selbstorganisation – seitdem und vielfach in aller Munde und praktisch unterfüttert durch Erfahrungsansätze von Agilen Formen bis zur Soziokratie. Gleichzeitig erfahren wir Momente überwunden geglaubter autoritärer und abgrenzender Strukturen und Prozesse von der großen Politik (Trump und Brexit) über staatliche Willkür (wie ich zumindest die staatliche Gemeinnützigkeitsdebatte wahrnehme) bis zu wachsendem Rassismus und anderen Formen der Diskriminierung im öffentlichen Raum. Ein „Selbstläufer“ ist die utopische Weltsicht also allemal nicht; vielleicht aber einmal eine Frucht geteilten Er-Lebens und Arbeitens.

Malcom Parletts „Future Sense“ bietet eine Orientierung, die Welt und unser Zusammenleben kreativer, ganzheitlicher und nachhaltiger zu gestalten. Konsequent verbindet er dabei Momente individuellen Zusammenkommens mit den großen Perspektiven politischer und gesellschaftlicher Lebensgestaltung. In diesem Sinn sind seine „Fünf Forschungsfelder ganzheitlicher Intelligenz für eine erwachende Welt“ (Untertitel im Original: „Five Explorations of a Whole Intelligence for a World That’s Waking Up“) nicht nur eine Handlungsanleitung, sondern viel mehr eine Anregung zur Erforschung von Herangehensweisen, Experimentiermöglichkeiten, gegenseitigen Verflechtungen und Unterstützungsfaktoren; kurz die Einladung für eine große Entdeckungsreise in vielen Schritten.

Die Felder selbst bieten keine Überraschung, sondern finden sich an vielen Stellen in der Beratungstätigkeit und angrenzenden Disziplinen. Ihre Herleitung ist allerdings nicht trivial. Intensiv widmet sich Parlett zunächst einer Argumentation, wie er auf diese fünf Felder kommt. Als wesentliche Elemente hat er folgendes identifiziert:

  • Antwort und Reaktion in gegebenen Momenten,
  • Gestaltung von Beziehung,
  • Körperliche Wahrnehmung und Erkenntnis,
  • Selbsterfahrung und -Achtsamkeit,
  • Experimentieren und kontinuierliches Forschen.

Jedes dieser Forschungsfelder elaboriert Parlett in einem eigenen Kapitel – gesättigt aus Erfahrung jahrelanger Praxis in pädagogischer und therapeutischer Arbeit mit Einzelpersonen und Gruppen – aus dem individuellen und manchmal intimen Raum einzeln oder zu zweit bis zu gesamtgesellschaftlichen Dynamiken. Diese bereits oben genannte Verbindung intensiver aber „kleiner“ Momente mit dem Gesamten spürbar und bildet die Grundlage für seine Aussage, auf diese Weise „whole intelligence“ (er kürzt es als „whi“ ab) zu entwickeln. Spürbar wird beim Lesen, wie wenig er moralisches Futter einstreuen möchte. Vielmehr lässt er uns Leser*innen an der Entwicklung seiner Gedanken und Erfahrungen teilhaben und lädt ein zur eigenen Suche. Diese nicht wertende (und neben bei: in sympathisch „einfachem“ Englisch formulierte) Sprache ist wohltuend. Sie regt zum eigenen Nachdenken an, zum Mitfühlen und Reflektieren, wie ich mich in diesen Feldern wohl fühle, wo ich vielleicht selbst Lust zum Lernen habe und wo ich Resonanzen entwickele – zustimmend und widersprechend – zu den Erfahrungen von Malcolm Parlett. Gleichzeitig ist mit der Kontextualisierung zum Einstieg ein klarer ethischer Rahmen gesetzt, der auch während der Reise durch die Forschungsfelder immer wieder aufgegriffen wird.

„Ganzheitliche Intelligenz ist viel eher praktisch, ästhetisch und ethisch zu verstehen als konzeptionell. Mit diesen Kriterien können Erfahrungen und Praxis verbunden werden (…) Vielleicht hilft die Analogie des Surfens: Erfahrene Surfer erkennen eine gute Welle; es wird aber schwer sein, zu beschreiben, was diese Welle zur exakt richtigen macht.“ (S. 262) Die Verbindung von Erfahrung, Reflexion bringt die Intuition des Surfens – und so auch die Entwicklung von „whole intelligence“.

Erste Schritte liefern zum Schluss des Buches doch noch ein wenig „Rezept“ (S. 271):

  1. Die fünf Forschungsfelder erkennen und spüren und akzeptieren, wenn wir ihnen begegnen.
  2. Die Wirkmächtigkeit von Ganzheitlichkeit und Verbindung schätzen in einer Zeit zunehmender Fragmentierung von Wissen.
  3. Die Einladung, „whi“ als eine Idee zu verstehen und nicht als ein fertig formuliertes Produkt, und neu und unbelastet von klassischen Debatten Entwicklungen wahrzunehmen und zu reflektieren.

Ein für mich sehr „lebendiges“ Buch, das geholfen hat, bei der Suche zwischen Utopie und Dystopie wieder bei mir anzufangen.

Malcolm Parlett (2015): Future Sense. Five Explorations of Whole Intelligence for a World That’s Waking Up. Weitere Informationen: www.fiveexplorations.com

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