SOCIUS labor Bericht: Gemeinsam wissen – The Art of Harvesting

SOCIUS labor Bericht: Gemeinsam wissen – The Art of Harvesting

In sicheren Räumen mit zugewandten Menschen zu experimentieren, ist ein Luxus, den wir uns regelmäßig in den Laboren gönnen. So war auch beim Labor im Dezember die Ziele und Hintergründe vielfältig: Julia Hoffmann und ich wollten zusammen Arbeitserfahrung sammeln und teilen – speziell im Hinblick auf den Arbeitsansatz des „Art of Hosting and Harvesting“, in dem Julia  bereits intensiv Erfahrungen gesammelt hat, ich mich als „bescheidenen Anfänger“ bezeichnen würde.

Wie kam es zum Labor?

Wie wahrscheinlich viele empfanden wir das Jahr 2020 als Herausforderung. Unsere Lebens- und Arbeitszusammenhänge haben sich massiv verändert und für viele zu weitreichenden Fragen ihrer Lebensgestaltung, ihrer Tagesabläufe, ihrer Gestaltung der persönlichen und Arbeitsprozesse geführt. Nicht wenige waren mit existenziellen Momenten konfrontiert, deren Tragweite von außen nur schwer nachvollzogen werden kann. Ebenso gab es – vielleicht ungleich verteilt – Momente gemeinsamen Lernens (online und offline), die Entwicklung neuer beruflicher Kompetenzen und reges Experimentieren im beruflichen und privaten Zusammenkommen unter besonderen Situationen.

Gerade angesichts der Unsicherheiten wie selten zuvor, sollten Möglichkeiten der gemeinsamen Reflexion, des Austausches und des Lernens stattfinden. Interessant war hier, wie oft während des Check-Ins bei unserem Labor geäußert wurde, wie selten dieser Rückblick stattfand und wie notwendig ihn auch viele Teilnehmer*innen waren. Die Gründe dafür sind spekulativ: wenig Zeit – auch dieses Jahr stand ein Weihnachten zu organisieren (wenn auch anders) vor der Tür; auch 2020 war das Jahresende besonders „aktiv“ und mussten Projekte abgeschlossen werden; aber vielleicht auch, weil wir uns auch hier noch in neuen Formen einüben müssen?  

Der Arbeitsansatz der „Art of Hosting and Harvesting“ bietet viele kreative Möglichkeiten des Rückblicks, des Austausches und der Reflexion – einander zugewandt und in geteilter Verantwortung. Moderator*innen werden als Gastgeber*innen genannt („Hosts“ oder „Stewards“); es ist nicht nur ein semantisches Ornament, sondern ein Schlaglicht auf das Selbstverständnis von „Art of Hosting“. Gesucht wird das Unbekannte, das entsteht, wenn Menschen in gemeinsamen Austausch darüber treten. Gastgeber*innen sind Beteiligte in dem Kreis und Mitsuchende im Austausch. Es geht um Raum schaffen, gemeinsames Explorieren und tiefes Zuhören und Nachvollziehen und gemeinsames Verstehen als ein gemeinsam verantwortetes „Projekt“.

Was – glauben wir – war anders als üblich?

Bewusst begannen wir mit einem dreiteiligen Check-In – ungewollt hatten wir da bereits unsere Zeitplanung überschritten. Unsere drei Schritte des Einstiegs:

  • Körperliches Ankommen – kurzes eigenes Massieren des Gesichtes (wahlweise bei aus- oder angeschalteter Kamera) und bewusstes mehrfaches Ein- und Ausatmen.
  • Persönliche Vorstellung („Wer bin ich?“, „Was bringt mich hier her?“).
  • Gedicht: „Winternacht“ von Eichendorff mit Resonanzen

Die „Entschleunigung“ verlief deutlich intensiver als gedacht. Die persönliche Vorstellung hatte eine Tiefe, die wir zumindest so nicht erwartet hatten. Deutlich wurden hier schon die teilweise existenziellen Herausforderungen, vor denen wir im letzten Jahr standen. Deutlich wurde hier auch der Wunsch nach tiefen Gesprächen über das, was war; das Nutzen des Jahreswechsels, um in ein eigenes Narrativ des Jahres zu kommen, ein eigenes Verstehen dessen was passiert ist.

Damit waren aber auch unsere Zeitpolster unerwartet aufgebraucht. Wir standen in dem Dilemma, den Austausch zu ermöglichen und zu unterstützen – das war ja auch unser Ziel des Labors – und dem geplanten Verlauf voranzutreiben und diesen Raum eigentlich in den später gedachten Triaden zu erhalten. Ein Thema, bei dem ich merke, wieviel schwieriger „Zeitmanagement“ online einzuhalten ist als offline. Insbesondere wenn der Container genutzt wird, ist seine Reduktion später deutlich schwieriger als in Treffen vor Ort.

Gleichzeitig konnten wir entspannt bleiben, denn wir hatten die vier Stunden (ein Labor geht in der Regel von 16-20 Uhr) nicht ausgeplant. So konnten wir mit überschaubarem Aufwand nachsteuern, gleichzeitig war das eine hilfreiche Lernerfahrung für uns beide.

Die anschließenden Triaden waren für uns das „Herzstück“ des Abends. In Kleingruppen à 3 Personen luden wir die Teilnehmer*innen ein, von ihrem Jahr 2020 zu erzählen. Fragestellung war: „Was hatte für mich im ausgehenden Jahr 2020 Bedeutung und was davon will ich „in die künft’ge Frühlingszeit?“ mitnehmen?“. Triaden sind Gesprächsformate in klar verabredeten Rollen. Durch die Fokussierung auf eine*n Erzähler*in können substantiellere Reflexionsebenen erreicht werden, als in einem „freien Gespräch“. Die Rollen im Einzelnen:

  • Ein*e Erzählerin erzählt und berichtet von eigenen Resonanzen zur Fragestellung. Ihre Assoziationen, Erkenntnisse und Eindrücke sind die richten – es gibt keine „falsche Erzählung“.
  • Ein*e Gesprächspartner*in unterstützt die Erzählung durch zugewandte Rückfragen und empathische Reaktionen. Sie bleibt dabei in der Geschichte des*r Erzähler*in, und kommt nicht in die eigene. Manchmal ist es hilfreich, dass die Gesprächspartner*in die Erzählung sehr aktiv durch unterstützt, manchmal eher in ruhiger Präsenz.
  • Eine*r oder mehrere (wenn es in 3er Runden nicht aufgeht) Zeug*innen hören empathisch dem Nachhall des Gespräches. Diesen Nachhall können sie im Anschluss als die „verborgenen Schätze“ mit dem*der Erzähler*in teilen. Möglichkeiten sind eigene lebendige emotionale Reaktionen auf das Erzählte, Gesten oder andere Eindrücke während der Erzählung, oder Worte, die besonders auf lebendige Aufmerksamkeit gefallen sind. Ihre Resonanz sind für den*die Erzähler*in häufig eine weitere Perspektive und ergänzender Blickwinkel der eigenen Erzählung.

Ein gut vorher definierter Zeitplan unterstützt dieses Setting. In abschließenden fünf Minuten konnten die Kleingruppen ihre Erfahrungen reflektieren.

Rückmeldungen waren vielfältig. Die Zeug*innenschaft wurde als hilfreich und unterstützend erwähnt, ebenso die Möglichkeit, vertieft in eine Geschichte einzudringen und auch das damit manchmal verbundene Schweigen gemeinsam zu erfahren – und nicht eine Vielzahl an Geschichten aufzumachen, die nebeneinander stehen.

In einer Plenumsrunde haben wir nach diesen Erfahrungen nach einer Aussicht für 2020 gefragt: „Wie können wir das nächste Jahr- einzeln oder in Gruppen – mit Zuversicht gestalten?“ Hier sind wir im Plenum zusammen geblieben und haben in sehr ruhigem Tempo zu Assoziationen und Resonanz eingeladen.

Die Fragestellung wurde als sperrig wahrgenommen, vielleicht war sie auch in der ganzen Entschleunigung zu „aktivistisch“. Es ginge eher um „Hoffnung“ statt „Zuversicht“ und das „gestalten“ wäre noch gar nicht dran – so lauteten einige Reaktionen. In Abgrenzung und Zustimmung auf diese Frage kamen aber viele Reaktionen – das Gedicht ist eine Zusammenfassung

Sonnenaufgang in hässlicher Gartenlandschaft

 

2020 ein wesentliches Jahr und hinterher ist nichts mehr wie vorher.

 

es hat für alle gereicht um ordentlich erschöpft zu sein

 

Ich muss Halt bei mir suchen und von dort aus losgehen

 

Wo ist mein Urvertrauen

sei mal ganz still und hör dir mal zu: Zuversicht ist nicht so groß wie Hoffnung

 

Da ist ein Grummeln;

Ist die Frage nicht eher, wie kann ich jeden Tag die Zuversicht nähren?

 

Zuversicht ist die Dinge ein Stück weit laufen zu lassen und mich drauf ein zu lassen

 

Wie kann ich mich und andere mit Zuversicht ausstatten?

 

Die Zuversicht durch das Wir – wir können das zusammen machen

die passive Form der Zuversicht: den Rahmen halten  auch wenn man grad nicht so da ist

 

drei Supervisionen vor Weihnachten weiß ich: Zum Gestalten hört auch Lücken lassen

ein atmender Prozess

ein

und

aus

 

Vielleicht will gar nicht richtig gestalten – drauf vertrauen, dass ich nicht untergehen werde

Ein Jahr lässt sich nicht gestalten – Momente lassen sich gestalten: Welche Entscheidungen treffen wir?

 

Sie werden doch nicht als erstes die Sozialleistungen kürzen – doch. Sie wollen

Und wir werden ihnen beibringen, dass sie das nicht tun.

Als Netzwerk etwas ganz besonderes tun und uns das zurück kämpfen.

 

Wir können versuchen unsere Gegenüber als Sonnenaufgang betrachten

und uns überraschen lassen von Menschen und Situationen

 

Ich möchte mit dem Gestalten in eine neue Beziehung treten

ausatmen dürfen, loslassen können

 

Loslassen

leichter werden: es nimmt sich gerade Raum in mir

 

Wie kann ich, können wir in unsere Momente die Zuversicht einladen? und nicht aus Angst handeln, und Entscheidungen aus Zuversicht treffen damit wir wirklich gestalten und füreinander sorgen?

Was haben wir gelernt?

Leider war zum Ende nicht mehr viel Zeit für methodische Auswertung. Ein paar Stichworte dessen, was ich gelernt habe und welche Erfahrung sich bestätigt hat als pragmatisches Ende.

  • Die „richtige“ Frage gibt es einerseits nicht, sie herauszufinden ist aber doch Teil des Erfolges. Ebensowenig gibt es selten eine komplett falsche Frage, aber es gibt immer das Risiko, die Dynamik deutlich zu verändern.
  • Wenn ein Team / eine Teilnehmer*innengruppe erstmal entschleunigt ist, folgt sie auch hier dem Gesetz der Trägheit: gesteigertes Tempo braucht gesteigerte Energie.
  • „You never host alone“ – „Du kannst nicht einzelner Gastgeber sein“, lautet eine Grundregel im Art of Hosting. Das hat sich für mich erschlossen, nicht nur wegen der besonderen online-Situation. Bei der gewünschten Tiefe offener Gespräche und zuhören auf die leisen Zwischentöne, ist es hilfreich zu zweit zu sein. Das gilt auch und insbesondere schon für die Vorbereitung.

„Art of Hosting“ hat viele Praktiken integriert. So sind die Triaden vielleicht auch aus anderen Zusammenhängen bekannt. Mich reizt hier das konsequente Eindampfen zu Essenzen. Vielleicht haben wir im Experiment übertrieben, aber aufeinander folgende Check-Ins, Kleingruppen, mit deren Essenz in anderen Kleingruppen oder im Plenum weiter gearbeitet wird. Ein Gedicht als Harvesting, das die anderen Sinne anspricht. Der deutliche Fokus auf kollaborative Verantwortung. Das sind die Elemente, die Anregung bringen und weitere Möglichkeiten aufzeigen.

Sally Denham-Vaughan hat 2005 eine Dialektik von „Will“ – der gezielten und geplanten Aktion und Sitzung – und „Grace“ – dem gemeinsam emergent und dialogisch entstehenden – herausgearbeitet. Während das Zielgerichtete angestrebt werden kann, ist „Grace“ etwas fluid entstehendes, das nicht vorgeplant werden kann. Ich denke, dass Ansätze von „The Art of Hosting and Harvesting“ in Wertschätzung für diese Dialektik noch einen Schritt weiter gehen können, „Grace“ zu erreichen.

Literatur: Will and Grace: An Integrative Dialectic Central to Gestalt Psychotherapy. Sally Denham-Vaughan, erschienen im British Gestalt Journal, 14,1, 2005.

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Intervention: Werkstudent

Intervention: Werkstudent

Raphael Wankelmuth ist seit Sommer Werkstudent in einer größeren Entwicklungsbegleitung bei socius. Er genießt als Politologe sein Praxissemester noch bis Ende Januar und wird anschließend in Heidelberg sein Studium beenden. Neben seinem Studium absolviert er gegenwärtig eine Weiterbildung für systemische Therapie und Beratung.

SOCIUS ist sein erster praktischer Einblick in das tägliche Brot der Organisationsentwicklung. Sein Eindruck: “unter OE habe ich mir immer einzelne Berater*innen vorgestellt, die am Reißbrett die perfekte Lösung für alle Probleme entwerfen, die Organisationen so haben und dann der Geschäftsführung zuschieben. Hier bei Socius und im Projekt begegne ich aber tatsächlich… Menschen.“

SOCIUS genießt den Einfluss der nächsten Generation – siehe auch den Blog Beitrag zum Online Tools Labor. Wir freuen uns, dass Raphael den Aufwand des Umzugs zwischen Heidelberg und Berlin für diese überschaubare Zeit auf sich genommen hat und sind dankbar für sein Mitdenken und -tun im Team und Projekten. Ab Januar wird der Kontakt wieder entfernter: Raphael zieht wieder nach Heidelberg, um sich wieder stärker auf das Studium konzentrieren zu können. Der Kontakt bleibt online erhalten und wir freuen uns, wenn es auch über das Studium hinaus Berührungspunkte geben wird.

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oe-tag 2020 online — Drei Eindrücke eines erstmaligen Experimentes

oe-tag 2020 online — Drei Eindrücke eines erstmaligen Experimentes

Wie viele anderen Veranstaltungen mussten wir den oe-tag 2020 verschieben. Als neuer Termin ist der 4. September 2020 vorgesehen. Was aber tun mit dem 11.6.? Die Bandbreite an Reaktionen war so groß wie die verschiedenen Eindrücke aus den ersten Online-Sitzungen, als Zoom noch ein Fremdwort war: von kritischer Zurückhaltung gegen online-Veranstaltungen (erst recht an so einem schönen Sommertag) bis zu Spielfreude und Experimentierlust auf genau dieses Format. So entschieden wir uns, nachmittags online einen oe-tag durchzuführen.

Virtueller Treffpunkt auf dem Whiteboard

Richtig Schwung bekamen die weiteren Überlegungen, als unser Kollege Yi-Cong Lu (www.be-able.info) uns die Möglichkeiten des Miro-Boards, eines digitalen Whiteboards zur Unterstützung und Visualisierung des oe-tags vorschlug. Hier begannen wir erstmals richtig „Feuer zu fangen“ und es entstand zunehmend das Gefühl, die online-Veranstaltung kann mehr sein als nur ein Ersatz für einen ausgefallenen Tag. Auch am Tag selbst war das Miro-Board zentral für eine insgesamt gelungene Veranstaltung. Einerseits bot es Möglichkeiten zur Visualisierung und Dokumentation der einzelnen Workshops. Vor allem aber war es eine eindrückliche Landschaft für Austausch und gemeinsames Lernen. Eine der ersten Äußerungen im Chat um kurz nach 15:00 Uhr war: „Wow, was für ein schön gebautes Board.“ – es wurde deutlich, wie diese virtuelle Landschaft den Austausch aber auch das Gefühl von Bindung und „gemeinsamen Ort“ für virtuelle Veranstaltungen deutlich beeinflussen kann.

Breite Themenpalette

„Wirkung zeigen“ auf individueller, Team-, Organisations- und gesellschaftlicher Ebene war – neben den Herausforderungen, die virtuelle und distanzierte Zusammenarbeit – zentrale Fragestellung dieses online oe-tages. Klar, in 75 Minuten Workshopdauer kann nicht viel mehr als eine Einführung oder ein Einblick vermittelt werden, das virtuelle Format reduziert – trotz aller Hilfsmittel – die emotionale oder Beziehungsebene, die häufige oe-tage charakterisiert. Gleichzeitig gab es – wenn auch rudimentär – Möglichkeiten des gemeinsamen Lernens von Modellen (zu Strategie, agiles Projektmanagement in NGOs, Rollen und Verantwortlichkeiten und verschiedene Blickweisen auf Komplexität und Ambivalenz) oder offenerem Austausch (Beratung und Berater*in sein in der herausforderungsvollen Gegenwart; Integration von analogen und digitalen Zugängen; Embodiment in virtueller Zusammenarbeit). Etablierte Themen standen neben sehr frischen und innovativen Zugängen, offenes Gespräch neben strukturierter Vermittlung. Beides wurde in den Rückmeldungen geschätzt. Das Interesse an gemeinsam kreierten Lernmomenten, offenen Fragestellungen und Entwicklung eigener Handlungsfähigkeit ist ungebrochen bzw. in dieser besonderen Situation eher höher als vorher.

 

Experimentierfreude und Fehlertoleranz

Den oe-tag online durchzuführen war eine neue Erfahrung und ein Feld, in dem SOCIUS noch keine großen Erfahrungen sammeln konnte. Zwei Momente haben zu einem erfolgreichen Tag beigetragen: zum einen waren es die Moderator*innen und Referent*innen, die den Tag mit vorbereitet und durchgeführt haben in den Workshops, im gemeinsamen Sensemaking zu Anfang und Ende und in Konzept und Gestaltung. Viele Kolleg*innen waren bereit, in diesen offenen und für viele unbekannten Rahmen mit einzusteigen und zu füllen. Diese breit verteilte Zusammenarbeit gab uns Zuversicht. Das gleiche galt für den Kreis der Teilnehmer*innen, darunter viele Bekannte und befreundete Kolleg*innen. Das ermutigte uns dazu, mehr auszuprobieren und vielleicht auch mehr Fehler machen zu dürfen als bei etablierteren Formaten. Das Gefühl bestätigte sich auch während des Tages selbst. Der Unmöglichkeit, wurde von Teilnehmer*innen unterschiedliche Bedeutung beigemessen. Für andere war das Setting online überhaupt eine Möglichkeit, trotz der hohen Entfernung teilzunehmen. Andere fanden genau das Experiment, Nähe trotz einem Medium, das zumindest gegenwärtig noch eher distanzierend wahrgenommen wird, zu entwickeln und andere Formen des Kontaktes zu suchen. Über technische oder andere Schwierigkeiten wurde großzügig hinweg gesehen.

Link zur Dokumentation: https://drive.google.com/drive/folders/1CV0FwO0lY8DVkBRdQrFLw0_BkVZLpC4q

Am 4.9. ist der oe-tag als Präsenzveranstaltung in Berlin geplant. Die Organisation und Teilnahme richtet sich nach den Bedingungen und Möglichkeiten der gegebenen Pandemie und kann sich vor diesen Umständen auch noch kurzfristig ändern. Informationen zum oe-tag gibt es hier: https://oe-tag.de/berlin/

Future Sense von Malcolm Parlett

Future Sense von Malcolm Parlett

Zwischen Dystopie und Utopie: „Future Sense“ von Malcolm Parlett hilft Orientierung zu entwickeln

Wir leben in widersprüchlichen Zeiten. 2014 griff Frédéric Laloux ein optimistisches Szenario menschlicher Entwicklung auf und konkretisierte es in „Reinventing Organisations“ zur neuen Qualität der Selbstorganisation – seitdem und vielfach in aller Munde und praktisch unterfüttert durch Erfahrungsansätze von Agilen Formen bis zur Soziokratie. Gleichzeitig erfahren wir Momente überwunden geglaubter autoritärer und abgrenzender Strukturen und Prozesse von der großen Politik (Trump und Brexit) über staatliche Willkür (wie ich zumindest die staatliche Gemeinnützigkeitsdebatte wahrnehme) bis zu wachsendem Rassismus und anderen Formen der Diskriminierung im öffentlichen Raum. Ein „Selbstläufer“ ist die utopische Weltsicht also allemal nicht; vielleicht aber einmal eine Frucht geteilten Er-Lebens und Arbeitens.

Malcom Parletts „Future Sense“ bietet eine Orientierung, die Welt und unser Zusammenleben kreativer, ganzheitlicher und nachhaltiger zu gestalten. Konsequent verbindet er dabei Momente individuellen Zusammenkommens mit den großen Perspektiven politischer und gesellschaftlicher Lebensgestaltung. In diesem Sinn sind seine „Fünf Forschungsfelder ganzheitlicher Intelligenz für eine erwachende Welt“ (Untertitel im Original: „Five Explorations of a Whole Intelligence for a World That’s Waking Up“) nicht nur eine Handlungsanleitung, sondern viel mehr eine Anregung zur Erforschung von Herangehensweisen, Experimentiermöglichkeiten, gegenseitigen Verflechtungen und Unterstützungsfaktoren; kurz die Einladung für eine große Entdeckungsreise in vielen Schritten.

Die Felder selbst bieten keine Überraschung, sondern finden sich an vielen Stellen in der Beratungstätigkeit und angrenzenden Disziplinen. Ihre Herleitung ist allerdings nicht trivial. Intensiv widmet sich Parlett zunächst einer Argumentation, wie er auf diese fünf Felder kommt. Als wesentliche Elemente hat er folgendes identifiziert:

  • Antwort und Reaktion in gegebenen Momenten,
  • Gestaltung von Beziehung,
  • Körperliche Wahrnehmung und Erkenntnis,
  • Selbsterfahrung und -Achtsamkeit,
  • Experimentieren und kontinuierliches Forschen.

Jedes dieser Forschungsfelder elaboriert Parlett in einem eigenen Kapitel – gesättigt aus Erfahrung jahrelanger Praxis in pädagogischer und therapeutischer Arbeit mit Einzelpersonen und Gruppen – aus dem individuellen und manchmal intimen Raum einzeln oder zu zweit bis zu gesamtgesellschaftlichen Dynamiken. Diese bereits oben genannte Verbindung intensiver aber „kleiner“ Momente mit dem Gesamten spürbar und bildet die Grundlage für seine Aussage, auf diese Weise „whole intelligence“ (er kürzt es als „whi“ ab) zu entwickeln. Spürbar wird beim Lesen, wie wenig er moralisches Futter einstreuen möchte. Vielmehr lässt er uns Leser*innen an der Entwicklung seiner Gedanken und Erfahrungen teilhaben und lädt ein zur eigenen Suche. Diese nicht wertende (und neben bei: in sympathisch „einfachem“ Englisch formulierte) Sprache ist wohltuend. Sie regt zum eigenen Nachdenken an, zum Mitfühlen und Reflektieren, wie ich mich in diesen Feldern wohl fühle, wo ich vielleicht selbst Lust zum Lernen habe und wo ich Resonanzen entwickele – zustimmend und widersprechend – zu den Erfahrungen von Malcolm Parlett. Gleichzeitig ist mit der Kontextualisierung zum Einstieg ein klarer ethischer Rahmen gesetzt, der auch während der Reise durch die Forschungsfelder immer wieder aufgegriffen wird.

„Ganzheitliche Intelligenz ist viel eher praktisch, ästhetisch und ethisch zu verstehen als konzeptionell. Mit diesen Kriterien können Erfahrungen und Praxis verbunden werden (…) Vielleicht hilft die Analogie des Surfens: Erfahrene Surfer erkennen eine gute Welle; es wird aber schwer sein, zu beschreiben, was diese Welle zur exakt richtigen macht.“ (S. 262) Die Verbindung von Erfahrung, Reflexion bringt die Intuition des Surfens – und so auch die Entwicklung von „whole intelligence“.

Erste Schritte liefern zum Schluss des Buches doch noch ein wenig „Rezept“ (S. 271):

  1. Die fünf Forschungsfelder erkennen und spüren und akzeptieren, wenn wir ihnen begegnen.
  2. Die Wirkmächtigkeit von Ganzheitlichkeit und Verbindung schätzen in einer Zeit zunehmender Fragmentierung von Wissen.
  3. Die Einladung, „whi“ als eine Idee zu verstehen und nicht als ein fertig formuliertes Produkt, und neu und unbelastet von klassischen Debatten Entwicklungen wahrzunehmen und zu reflektieren.

Ein für mich sehr „lebendiges“ Buch, das geholfen hat, bei der Suche zwischen Utopie und Dystopie wieder bei mir anzufangen.

Malcolm Parlett (2015): Future Sense. Five Explorations of Whole Intelligence for a World That’s Waking Up. Weitere Informationen: www.fiveexplorations.com

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Drittes Jahr STAR-E – Broschüren sind online

Drittes Jahr STAR-E – Broschüren sind online

Die Stärkung von Jugendlichen und Jugendorganisationen zu einer eigenen rassismuskritischen Haltung ist eine Herausforderung, die insbesondere angesichts jüngerer Entwicklungen in Deutschland, Europa und (vermutlich auch) der Welt wieder an Bedeutung gewinnt. Gerade während wir an die Befreiung von Auschwitz vor 75 Jahren stellvertretend für ein extrem menschenfeindliches und diskriminierendes Regime erinnern, müssen wir gleichzeitig feststellen, dass es weiterhin Strukturen und Mechanismen in unseren Gesellschaften gibt, die Mitmenschen aufgrund von Hautfarbe, Glaube oder anderer identitätsbildender Einstellungen und Merkmale abwerten, verletzen und ausgrenzen.

Die vergangenen drei Jahre hat das europäische Freiwilligennetzwerk ICYE (International Cultural Youth Exchange) sich intensiv mit diesen Fragen aus Organisationsperspektive auseinandergesetzt. Gefördert aus Mitteln von Erasmus+ konnten mehrere Austausch- und Trainingstermine zur Stärkung gegen rassistische Haltung und Äußerungen organisiert werden. Parallel wurde im Umkehrschluss ein positives Bild geprägt, unter der Frage: „Wie können wir Veränderungsprozesse unterstützen, wodurch unsere Organisationen mehr Diversität wagen?“ Wir von SOCIUS haben uns mit Freude gerade in dieser zweiten Projektsäule engagiert und zahlreiche lebendige Diskussionsrunden, methodische Übungen und Reflexionen mit verfolgt und uns in die inhaltliche Auseinandersetzung begeben.

Sichtbares Ergebnis dieser Arbeit sind zwei Broschüren, die parallel geschrieben wurden. Davon haben wir wir auch hier bei der zweiten Broschüre redaktionell mitgewirkt:

Standing Together Against Racism: A Training Handbook“ und „Managing organisational change: Tools and methods to become a diversity-sensitive NGO„. Beide können als Printversion bestellt oder online heruntergeladen werden. Beide Broschüren werden von den Partnerorganisationen Europaweit vorgestellt.

Die Termine in Deutschland, bei denen auch wir dabei sein werden:

Fachtag 1 „Standing Together Against Racism – Methoden für die Antirassismus-Arbeit und Empowermenttraining in der politischen Bildungsarbeit“ in der Braustube des Berlin Global Village am 20.02.2020 (13:00-17:00 Uhr)

Fachtag 2 „Tools for Change – diversitätsorientierte Veränderungsprozesse in NROs“ in der Braustube des Berlin Global Village am 12.03.2020 (13:00-17:00 Uhr)

Alle weiteren Informationen und Anmeldemöglichkeit hier:

https://star-e.icja.de/2020/01/28/conferences-for-multipliers-fachtage-fur-multiplikatorinnen-icja-berlin/

#star_e

 

 

Website des Projektes: https://star-e.icja.de

SOCIUS war Partner in diesem Projekt und vor allem Christian Baier, Joana Ebbinghaus und Simon Mohn waren am Gelingen beteiligt. 

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Future Sense von Malcolm Parlett

SOCIUS liest: Das Theater der Unterdrückten als Impuls für eine emanzipatorische Supervision

Anne Keiner: Das Theater der Unterdrückten als Impuls für eine emanzipatorische Supervision

Wir leben in anspruchsvollen Zeiten: Einerseits erfahren wir ein zunehmendes „Mehr“ an Möglichkeiten der Selbstorganisation und Gestaltung evolutionärer Prozesse. Demgegenüber stehen immer besorgtere Stimmen zu Komplexität und Ambivalenz in Organisationen; gefühlter Rechtfertigungsdruck „von außen“ – rechtspopulistische Tendenzen; normative und tatsächliche Einschränkung der Gemeinnützigkeit – werden stärker. Welche Möglichkeiten hat eigentlich Supervision, sich in transformativen Trends zu positionieren? In ihrer Masterthesis untersucht Anne Keiner, wie Elemente des „Theater der Unterdrückten“ – entwickelt von Augusto Boal in der Zeit der Befreiungsbewegungen Lateinamerikas des letzten Jahrhunderts – Haltung, Theorie und Handlungskompetenzen der Supervisionsarbeit bereichern können. Offenbar liegt ihr insbesondere die Frage nach dem „politisch-emanzipatorischen Impetus“ (S. 15) am Herzen: Prozesse so zu gestalten, dass sie eine gesellschaftlich transformierende Wirkung haben.

Vorweg stellt Anne Keiner beide Zugänge -die Supervision sowie das Theater der Unterdrückten – in ihrer jeweiligen Eigenheit dar. Davon ausgehend, dass der Leser*innenkreis wahrscheinlich eher der Berater*innenszene entstammt, ist die Detailtiefe beim Theater der Unterdrückten umfangreicher ausgestattet. Die thematisierten Fragen sind in beiden Kapiteln – als Herkunftsgeschichte, generell prägende Haltung, theoretische und methodische Ableitungen hieraus und Beschreibung konkreter Arbeitsansätze – vergleichbar.

Dichotomie und Allparteilichkeit

In den beiden Kapiteln wird zentral das politische Selbstverständnis der Ansätze herausgearbeitet: Aus seiner Entstehungsgeschichte ist das Theater der Unterdrückten politisch im Kontext der südamerikanischen Befreiungsbewegung verwoben und vom marxistischen Denken der damaligen Zeit geprägt. Dies führt – zumindest im Original – zu einer klaren „dichotomischen“ Unterscheidung zwischen „Unterdrückten“ und (ohne sie explizit zu erwähnen) Unterdrückern und zu einer klaren Parteilichkeit im weiteren dialogischen Prozess. In Betrachtung ethischer Haltungsfragen (systemisches Herangehen, Allparteilichkeitsfragen) aber auch im Hinblick auf die Anwendbarkeit in unterschiedlichen Beauftragungsverhältnissen, ist diese Herangehensweise in der Supervision nicht haltbar, wie Anne Keiner ausführt. Supervision steht vielmehr in der Gefahr, vor ökonomischen Erwartungshaltungen und angesichts der bereits erwähnten zunehmenden Komplexität in Abhängigkeit von Zielsetzungen zu geraten, die außerhalb der direkten Beziehung zwischen Berater*in und Klient*in stehen – und letztlich damit irrelevant zu werden. Beide Ansätze stellen Extrempole dar, die von der Autorin deutlich hinterfragt werden.

Non-Direktivität und Dialog

Zunächst untersucht Anne Keiner jedoch bestehende Verbindungen von Supervision (bzw. Beratung im weiteren Sinn) mit theatralen Methoden. Wenig überraschend, existiert bereits ein Praxisfeld, auf das sie hier zurückgreifen kann. Insbesondere im handlungsorientierten Rahmen und beim körperorientierten Arbeiten können theatrale Methoden unterstützen. Verbindungslinien sind beispielsweise: der non-direktive begleitende und dialogisch orientierte Moderationsansatz in beiden Zugängen – der in entsprechenden Beratungssettings der*dem Supervisor*in zugesprochen wird. Im Theater der Unterdrückten entspricht dies der Aufgabe des „Jokers“, die in ihrem inhaltlichen Anspruch nicht unterschätzt werden kann. Leider wird in dem Buch nicht dargestellt, wie die Rolle des Jokers in diesen dialogischen und non-direktiven Vorgängen besetzt wird. Weitere Verknüpfungen zieht Anne Keiner mit anderen Ansätzen der Theaterarbeit (Psychodrama, Theater der Lebendigen usw.) bzw. der Beratungsarbeit (TZI und Gestalt) und ordnet das Theater der Unterdrückten entsprechend ein.

Empowerment und Emanzipation

Abschließend widmet sich Anne Keiner den Empowerment- bzw. emanzipatorischen Ansätzen der beiden Arbeitsstile. Dies tut sie einerseits in einer großen Behutsamkeit und Achtung für die jeweilige Entstehungsgeschichte, andererseits in einer klaren eigenen Positionierung gegen die ideologisch unkritische Übertragung der politischen Haltung auf das jeweils andere System.

So untersucht sie kritisch die These, dass Unternehmenstheater Systeme stütze, die das Theater der Unterdrückten doch ideologisch hinterfrage. Dem stellt sie den möglichen Wunsch nach Veränderung und die Irritation des Neuen durch Ansätze des Theaters der Unterdrückten entgegen und plädiert für eine differenzierte Betrachtungsweise der Unternehmen im Hinblick auf ihre Motivation, Veränderungsprozesse einzugehen und auf die Funktionalität und Anregungsimpulse, die Methoden des Theaters der Unterdrückten liefern könnten. Im Hinblick auf die Beratung selbst sieht Anne Keiner eine grundsätzliche Parteilichkeit als Widerspruch zur systemischen Herangehensweise. Gleichzeitig fühlt sie sich der ethischen Herausforderung verbunden, dass Supervision immer ein emanzipatorisches Element innewohnt, einerseits die ganzheitliche Entwicklung der Supervisand*innen als Orientierungspunkt zu nehmen, andererseits gesellschaftliche Einflussfaktoren auf das Beratungssystem ernst zu nehmen und Möglichkeiten der Resilienz gegen diese Einflussfaktoren – innerhalb des gegebenen Rahmens – zu entwickeln. Zu Ambivalenzen und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren eigenen Kollegialen Beratungskreis – ein etabliertes Instrument zur Reflexion, das auch Anne Keiner als Unterstützungsmöglichkeit darstellt. Innerhalb dieses Spannungsfeldes kann das Theater der Unterdrückten sowohl die eigene ethische Positionierung unterstützen, als auch anwendungsorientiert Methoden für die Handlungsorientierung und das Empowerment der Klient*innen oder auch des gesamten Klientensystems liefern – im letzteren Fall sicherlich im Rahmen von umfassenderen Organisationsentwicklungsprozessen.

Anne Keiner hat ein schönes und gut lesbares Buch geschrieben. Die beiden Heimatländer ihrer Praxis – die systemische Supervision und das Theater der Unterdrückten – hat sie in ihrer jeweiligen Eigenheit nachvollziehbar dargestellt und dann – unter Zuhilfenahme weiterer Praktiken und Arbeitsansätze miteinander verflochten aber auch die Grenzen aufgezeigt. Mir war insbesondere die systematische und konkrete Darstellung des Theaters der Unterdrückten ein Genuss zu lesen. Die Bestandsaufnahme der Verknüpfungsmöglichkeiten von Theatralität und Beratung weisen eine anregende Bandbreite und vielerlei Übertragungsmöglichkeiten in die alltägliche Praxis auf.

 

Bibliografie

Anne Keiner: Das Theater der Unterdrückten als Impuls für eine emanzipatorische Supervision
Paperback, 162 Seiten, 19,90 Euro
Erschienen im Ibidem-Verlag: Berliner Schriften zum Theater der Unterdrückten

https://www.ibidem.eu/de/reihen/kultur/berliner-schriften-zum-theater-der-unterdrueckten.html

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SOCIUS labor Bericht: Emotionen im Projektmanagement

SOCIUS labor Bericht: Emotionen im Projektmanagement

Die Herausforderung wurde gleich zu Beginn sichtbar: Projektmanagement verbinden die Teilnehmer*innen mit Planung, Struktur und Ratio. Emotionen haben bei den meisten entwickelten Instrumenten – sehen wir von Grenzbereichen wie der Führungskräfte- und Teamentwicklung ab – nichts verloren. Dem aber widerspricht die Erfahrung: Wie an anderen Stellen zeigen sich auch in Abläufen des Projektmanagements Emotionen als zentraler Einflussfaktor für Prozesse und Entscheidungen und letztlich auch über ihren Erfolg oder Scheitern. Wie also können diese beiden Elemente expliziter verbunden werden als mit den gängigen Mitteln möglich?

Die fünf Wirkkräfte (Holz, Feuer, Erde, Metall, Wasser), entnommen als Beobachtungen und Metaphern aus stattfindenden Naturprozessen, hat Pao Siermann (https://www.wu-de.com) auf Kontexte des Coachings und der Organisationsentwicklung übertragen.

Einblicke aus der Natur

Der Wu-De-Prozess („Wu-De“ kommt aus dem Chinesischen und steht für: Fünf Wirkkräfte) greift zurück auf vor über 2.500 Jahren formulierte evolutionäre Prozesse und Qualitäten der Natur. Es wurden diese fünf Wirkkräfte identifiziert, die den Gesamtprozess von Entstehen und Vergehen beschreiben: „Holz“ (grün) steht für Wachstum, (Neu-)beginn, dynamische Entwicklung; „Feuer“ (rot) für Begeisterung, Kommunikation, Wärme; „Erde“ (gelb) für Reifung und Kontinuität, Miteinander; „Metall“ (weiß) für Fertigstellung, Ernte und Reflexion, Verabschiedung; „Wasser“ (blau) für Ruhe und Ausruhen sowie Speicherung und Erholung. Wie in vielen Modellen werden allen Wirkkräften hilfreiche Qualitäten und hinderliche Pathologien zugeschrieben.

Im Kreis ist ein evolutionäres Wachstums- und Regressionsmodell erkennbar: Aus der Knospe entwickelt sich die Blüte, die Frucht, die als neuer Samen zur Erde fällt (Trennung im Herbst, Metall) und in diesem Schutz (Rückzug) Kraft für den nächsten Frühling sammelt; der Prozess wiederholt sich. Nachvollzogen wurde das Modell auch in gesellschaftshistorischen Prozessen (Ablösungsprozesse fernöstlicher Herrschaftsdynastien, historisch verfolgt vor über 2.000 Jahren). Im Verlauf wurden diesen Wirkkräften weitere unterschiedliche Qualitäten zugeordnet. Beispielsweise wird assoziiert: mit Holz Wachstum, Neuentwicklung aber auch Wut und Mut; mit Feuer Erregung und Energie, Bewusstheit für das Ganze, mit Erde die Reflexion und Kontinuität, Wahrnehmung von Verantwortlichkeit; mit Metall der Abschied und die Kritik, sowie das Lernen und mit Wasser die Pause, das Expertentum, aber auch ein Kontrollbedürfnis und Ängstlichkeit.

Diesem evolutionären Modell steht ein disruptives Modell gegenüber, dass sich aus den Pfeilverbindungen innerhalb des Kreises nachvollziehen lässt: Wasser Löscht Feuer; Feuer biegt Metall; Holz wird zu Erde usw. Das konnte vor allem metaphorisch in gesellschaftlichen Veränderungsprozessen nachvollzogen werden. Interessant ist hier: Aufgrund der ungeraden Zahl an Wirkkräften, bleibt es – unabhängig von einem idealtypischen Verlauf – ein dynamischer Prozess und nicht nur, wie bei vier Qualitäten, ein sich wiederholender Kreislauf.

Praxisbeispiel: Soziogramm nach Wu-De

Wo finden sich nun Anwendungsmöglichkeiten des Modells in der Praxis? Verschiedene Assoziationen zu anderen Modellen liegen auf der Hand und können hier eine hilfreiche Ergänzung erfahren. Anklänge finden sich beispielsweise bei der Teamuhr von Tuckman, aber auch der Gestaltzyklus kann nach meinem Eindruck wieder gespiegelt werden sowie die OE-Phasen von Glas finden eine Entsprechung. Hier könnte man diese oder andere gängige Vorgehensweisen analogisch betrachten und kombinieren.

Wir haben beispielhaft eine konflikthafte Projektsituation durchgesprochen und eine Auslegungsordnung gelegt und die vorherrschenden Wirkkräfte integriert.

Neben den Farben, die dem beschriebenen Modell folgen, haben auch die Formen hier eine Bedeutung: Die Kreise symbolisieren wesentliche beteiligte Personen / Funktionen; die Rechtecke Zuständigkeiten / Prozesse und die Sechsecke Störungen. 

Das Vorgehen selbst hatte eine Vergleichbarkeit mit anderen Konstellationen. Auch hier stand im Vordergrund der Eindruck der Fallgeberin, ihre Bewertung und ihre „Einordnung“ in die jeweiligen Wirkkräfte. Der Fokus auf diese Perspektiven ermöglicht eine interessante Blickweiterung: durch die Wirkkräfte können mit den Prozessen verbundene Emotionen beschrieben und zugeordnet werden. Da in diesem Zugang nicht – wie im westlich geprägten Denken – zwischen emotionalen und gedanklichen Prozessen unterschieden wird („denken“, oder das, was diesem Begriff sprachlich am nächsten kommt, wird mit der erdigen Wirkkraft des Stoffwechsels, der Umwandlungsprozesse im Ackerboden assoziiert), ist eine Reflexion möglich, die Intuition, Kognition und Emotion miteinander verbindet. Diese Möglichkeit eines ganzheitlichen reflektierten Zugangs lässt sich auf andere Kontexte übertragen: Dynamiken und Phasen in Teamprozessen; Anteile und Qualitäten auf persönlicher Ebene; Moderation von Entscheidungsprozessen usw.

Mein Lernen im Labor

  • Mehr und mehr wird deutlich, dass der im westlichen Denken geprägte Spalt zwischen Kognition und anderen Erfahrungswelten hinderlich ist, zunehmende Komplexität zu überwinden. „Ratio“ wird in der chinesischen Denkweise beschrieben als „der Natur folgend“ und bietet damit auch konzeptionell eine Möglichkeit der Integration vermeintlich widersprechender Elemente.
  • Das Modell der fünf Wirkkräfte und ihre Verbindung zu emotionalen, kognitiven und intuitiven Perspektiven bietet als Anreicherung für gängige Modelle ein Potential auf dessen weitere Erschließung ich sehr neugierig geworden bin.
  • Die fünf Wirkkräfte als praktische Anreicherung in Auslegungen bietet der methodischen Darstellung eine neue Qualität und vertiefte Wahrnehmung. Vergleichbare tiefere Zugänge könnte der konsequente Blick auf die inneren Emotionen; körperliche Wahrnehmungen oder anderer Ausdrucksformen sein. Auch hier erschließt sich ein breites Tableau weiterer Möglichkeiten.

Literatur: François Jullien: Über die Wirksamkeit. Übersetzt von Gabriele Ricke und Ronald Voullié. Merve Verlag, Berlin 1999. ISBN: 978-3-88396-156-9.

Sinnvoll zusammen wirken

SOCIUS labor Bericht: Design Thinking – Mit den Händen denken

SOCIUS labor Bericht: Design Thinking – Mit den Händen denken

Design Thinking als Herangehensweise, kreative und innovative Produkte und Prozesse zu entwickeln, war Mittelpunkt des Labors mit Yi-Cong Lu von be able. Cong hat diesen Arbeitsansatz mit Kolleg*innen u.a. in Arbeitsfeldern mit Menschen mit verschiedenen Beeinträchtigungen oder Personen im Strafvollzug angewendet. Ungefähr 12 Teilnehmer*innen waren bei dem sehr anregenden Labor dabei. (mehr …)

SOCIUS Rückblick 2018 von Christian Baier

SOCIUS Rückblick 2018 von Christian Baier

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Christians Rückschau

Der Rückblick auf 2018 beginnt bereits 2017

Wenn ich auf die Entwicklungen von SOCIUS in 2018 zurück schaue, beginnt dieser Rückblick bereits Ende 2017. Schon seit längerem nehmen wir für uns in Anspruch, das „heroische Prinzip“ einer Führungskraft überwunden zu haben – Entscheidungen werden gemeinsam und gleichberechtigt getroffen. Das hat manchmal ein wenig gerüttelt und häufiger einige Kommunikationsschleifen gebraucht. Allerdings war es so möglich, den Übergang von einer mehrheitlich bzw. einzeln geführten Organisation zu einem gleichberechtigten System zu gestalten – ohne dass z.B. die Gründungsfigur, wie manchmal beschrieben, gehen musste. Wir waren also durchaus stolz auf uns, als die tatsächliche „Belastungsprobe“ dieses Zusammenwirkens Ende 2017 kräftig zuschlug. Hintergrund des Konflikts war die Frage nach dem eigenen Handlungs- und Entscheidungsspielraum im Konflikt mit dem gemeinsam verabredeten. Und – anders als vorher – hatte es eine Qualität, die auf die persönliche Ebene durchschlug und uns in dieser Manifestation durchaus überraschte. Rückblickend wurde deutlich, dass wir vielleicht doch – gemeinsam – noch stärker im heroischen Tun steckten, als wir uns zugeben wollten. Und dass dieses nun wirklich an seine Grenzen stieß.

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Transnationales Treffen in Reykjavik, Projekt STAR E („Standing Together Against Racism in Europe“)

Transnationales Treffen in Reykjavik, Projekt STAR E („Standing Together Against Racism in Europe“)

Vom 10.-13.4.18 fand das zweite Transnationale Treffen aller am Projekt STAR E („Standing Together Against Racism in Europe“) beteiligten internationalen Jugendaustauschorganisationen zum Thema „Anti-Rassismus und Change“ in Reykjavik statt. Neben vielen spannenden Gesprächen mit Teilnehmenden aus 10 europäischen Ländern und interessanten Auseinandersetzungen zur Frage wie sich Organisationsentwicklung und rassismussensible Arbeit verbinden lassen, hatten wir auch die Chance, einen kurzen aber nachdrücklichen Eindruck dieser wunderschönen Insel zu bekommen. Erneut bestätigt gefunden hat sich unsere langjährige Erfahrung, dass es sich an besonders schönen Orten auch besonders gut und kreativ arbeiten lässt! (mehr …)

Rahmen basteln oder wie interkulturelle Teilhabe gelingt

Kathrin Schrader (Citizen Journalist, Berlin) spricht mit Christian Baier über das erfolgreiche Überwinden von engen Kästchen.

Als ich mich mit Christian Baier für das Interview verabredete, fragte er mich, über welches seiner Arbeitsthemen wir reden möchten. Er begann aufzuzählen. Meine Notizen nach diesem Telefonat füllten ein Blatt in meinem Notizbuch. Da ging es um Stadtteilentwicklung, eine Zukunftswerkstatt, das Quartiersmanagement in Schöneberg, in dem Socius ab 2014 einen Prozess begleiten wird, um Organisationsentwicklung und um Entwicklungszusammenarbeit, das Jahr in Mali als Entwicklungsstipendiat des Deutschen Entwicklungsdienstes, nicht zuletzt auch um die Musik, den Chor. Ich fand das alles spannend und konnte mich nicht entscheiden. Christian ging es genauso.

Meine erste Frage, als wir uns dann trafen, war, wie ein Mensch diese vielen Themen in eine Vita bringt.

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