Kollektives Harvesting
Erfahrungen aus der Begleitung eines Großgruppentags mit 800 Teilnehmenden
Ob wir als Facilitator:innen, Berater:innen, Führungskräfte oder engagierte Bürger:innen zusammenkommen – wir brauchen Gespräche, die über individuelle Perspektiven hinausreichen. Gerade in einer Zeit, in der sich soziale, ökologische, politische und existenzielle Krisen überlagern, braucht es Räume, die mehr ermöglichen als den Austausch von Information: Räume, in denen gemeinsames Erkennen und tieferes Verstehen entstehen kann.
Gerade in großen Settings, wie einer eintägigen Konferenz mit 800 Menschen, mag es zunächst ambitioniert – oder gar unmöglich – erscheinen, kollektive Intelligenz tatsächlich hörbar und sichtbar werden zu lassen. Und doch braucht es gerade in solchen Momenten eine tiefere Form des Zuhörens.
Denn in dynamischen, komplexen Zusammenhängen stoßen Sprache und Analyse allein schnell an ihre Grenzen.
Wir spüren: Da ist etwas im Raum – aber wir können es (noch) nicht benennen.
Wir ahnen Bedeutung – doch sie entzieht sich dem linearen Denken.
Und wir sind keine außenstehenden Beobachter:innen. Wir sind Mitgestalter:innen dessen, was entstehen will.
Das sind die Qualitäten liminaler Räume – Schwellenräume zwischen dem, was nicht mehr trägt, und dem, was noch nicht sichtbar oder sagbar ist. In solchen Situationen geht es nicht um schnelle Antworten. Es geht darum, gemeinsam hinzuhören: Was will sich zeigen?
Kollektives Harvesting ist in diesem Kontext mehr als das Festhalten von Notizen. Es ist eine Praxis der tiefen Aufmerksamkeit – ein aufmerksames Sichtbarmachen jener unsichtbaren Fäden, die Einzelne zu einem größeren Ganzen verbinden. Es ist eine Einladung an die Intelligenz der Gruppe, sich auszudrücken – auch wenn niemand allein das ganze Bild kennt.
Es geht darum, kollektive Erkenntnis denkbar zu machen. Gemeinsam.
Was Harvesting in komplexen Situationen möglich macht
Wenn wir mit großen Gruppen arbeiten – wie bei der eingangs erwähnten Konferenz mit 800 Teilnehmenden – kann leicht aus dem Blick geraten, was eigentlich wichtig ist. Die Menge an Worten, Eindrücken, Meinungen und Emotionen kann schnell überwältigend wirken.
Doch unter der Oberfläche jeder Gruppeninteraktion – ob groß oder klein – verlaufen tiefere Fäden: Bedeutungsmuster, Momente der Klarheit, leise Einsichten, die darauf warten, wahrgenommen zu werden.
Zu ernten heißt, anders zuzuhören. Nicht nur das Gesagte festzuhalten, sondern sich einzustimmen auf das, was sich zeigen will.
Es ist eine Praxis kollektiver Sinngebung – nicht das Extrahieren von Antworten, sondern das feine Mitgehen mit dem sich entfaltenden Sinn.
Gerade in komplexen und dynamischen Kontexten ist das zentral. Denn Komplexität lässt sich nicht „lösen“ – sie lädt ein, anders zu sehen.
Anders zu spüren, was präsent ist.
Und dem Form zu geben, was noch gestaltlos ist.
Vom Rauschen zur Resonanz – mit Absicht zuhören
Unser Briefing mit dem zwölfköpfigen Konferenzteam begann mit einer geteilten Erkenntnis und Grundannahme:
„Wenn wir mit Gruppen, Teams oder Organisationen arbeiten, begegnen wir oft vielschichtigen Prozessen, für die es (noch) keine klaren Worte gibt.“
Harvesting – ob durch Sprache, Visualisierung, Poesie, Musik oder andere Ausdrucksformen – ist eine mögliche Antwort auf diese Herausforderung. Es versucht nicht, Komplexität zu vereinfachen. Sondern sie bewohnbar zu machen.
Indem wir dem, was wir spüren, eine Form geben – und indem wir aus dem Rauschen des Gesprächs das herausfiltern, was wirklich resoniert – schaffen wir gemeinsame Bezugspunkte: kollektive Anker für Sinn und Bedeutung.
Harvesting-Briefing – Aufmerksamkeit für das Wesentliche
So haben wir das Konferenz-Team des Tages ins Zuhören und Ernten eingeladen:
- Essenzen aus Vorträgen festhalten
Was ist die Kernbotschaft hinter den Worten?
Welcher Satz, welches Bild, welches Gefühl bleibt bei dir?
Nicht mitschreiben – destillieren. Drei bis fünf Stichpunkte reichen oft. - Fein zuhören im kollektiven Gespräch
Was wird in den Raum gesprochen?
Worum geht es den Menschen – nicht nur im Inhalt, sondern auch im Ton, in der Dringlichkeit?
Halte kurze, lebendige Formulierungen oder Themen fest. Bleib leicht, bleib echt. - Wenn jemand den Raum mit einem Abschlussimpuls bündelt
Was ist das Spürfeld im Raum, während sie oder er spricht?
Welche Fäden oder Bilder werden miteinander verwoben?
Notiere die Essenz – nicht die Zusammenfassung. - Achte auf POA: Patterns – Outliers – Absences
Was zeigt sich immer wieder?
Was überrascht oder bringt einen Funken ins Spiel?
Was wird nicht ausgesprochen – könnte aber bedeutsam sein?
Drei Personen aus dem Team begleiteten das Geschehen über den Tag hinweg und hielten zentrale Beiträge schriftlich fest. Diese Notizen und Eindrücke flossen später in eine visuelle Ernte ein, die zu verschiedenen Momenten mit den Teilnehmenden geteilt wurde – als Spiegel, als Einladung zum Weiterdenken, als kollektive Momentaufnahme.
Mehr als eine Methode – eine innere Haltung
Harvesting ist nicht bloß eine Methode. Es ist eine Haltung und eine Praxis. Es braucht Neugier, Präsenz und ein feines Gespür für das, was zwischen den Zeilen lebt. Es lädt uns ein, aus dem Drang herauszutreten, Dinge sofort „verstehen“ zu müssen – und stattdessen Fragen zu stellen wie:
- Was möchte hier gesehen werden?
- Was wissen wir gemeinsam – das keine:r von uns allein weiß?
- Welche Bedeutung entsteht leise zwischen uns?
- Was ermöglicht klügeres, stimmigeres Handeln – gerade aus dieser Gruppe heraus?
So wird kollektives Ernten zu einer Form gemeinsamer Forschung – zu einer Praxis des Hineinhörens ins Mögliche. Es hilft Gruppen, sich in der Komplexität zu orientieren – nicht durch Vereinfachung, sondern durch Bilder, Muster und Sprache, die sie halten können.
Zuhören, das Zukunft ermöglicht
In meiner Rolle als Lead Harvesterin – im Nachspüren der Praxis dieses Tages – kam immer wieder ein Gedanke zurück:
Kollektives Harvesting löst Unsicherheit nicht auf – aber es macht sie bewohnbar.
Was wäre, wenn es genau das ist, was wir in diesen Zeiten mehr brauchen?
Nicht die Illusion von perfekter Klarheit – sondern gemeinsame Orientierung.
Nicht schnelle Lösungen – sondern ein tieferes Zuhören. Eines, das es ermöglicht, dass Antworten zwischen uns Gestalt annehmen – getragen von dem, was wir gemeinsam spüren, wissen, erkennen und gestalten.
Und wie ist das bei dir?
Wo und wie praktizierst du kollektives Zuhören oder Harvesting – bewusst oder eher intuitiv? Was hilft dir, in komplexen Gruppenprozessen das Wesentliche sichtbar zu machen?
Bei Fragen oder Lust auf Austausch freut sich Julia über eine Nachricht.








Bereits Ende Oktober fand die Trauerwoche der
Und während ich also da so buddelte, dachte ich über die bevorstehende Veranstaltung nach und fand, dass es kaum ein besseres Sinnbild für Leben, Sterben, Transformation und das Wunder der Erneuerung gibt, als den Komposthaufen. 




Gegenwärtig diskutiert und zum Teil eingefordert wird ein traumasensibler Umgang miteinander im Arbeitszusammenhang. Konkret bedeutet dies, 





Dass mir das so schwer fällt, liegt in der Regel daran, dass es nicht um eine (1) Dynamik geht, sondern meist um eine Vielzahl. Und während wir über strukturelle Machtverteilung zwischen Männern* und Frauen* sprechen, spielen gleichzeitig vielleicht das Lebensalter, die Ausbildungssituation, biografische (Diskriminierungs-)Erfahrungen und etliche andere Dimensionen, die uns strukturell mit Macht ausstatten (oder nicht), eine Rolle.
Bewusstsein für die verschiedenen Ränge innerhalb einer Gruppe. Hierbei geht es nicht darum, dass höhere Ränge von niedrigeren still gewürdigt werden, zumal es eine Reinfom von hoch-/niedrigrangig ohnehin nicht gibt, sondern darum, dass wir anerkennen, dass wir uns je nach Kontext in unterschiedlichen Ränge begegnen.
Im Team von SOCIUS habe ich den Eindruck, dass mein Studium im Alltag überhaupt keine Rolle spielt und in 



Zum Teil wurde die Beratung auch als eine sehr willkommene Beratung in einer akuten Thematik oder Auseinandersetzung und konnte für unmittelbare Entspannung sorgen. Gleichzeitig war natürlich nicht jeder fachliche Input oder Beratungsimpuls gänzlich neu in Teams, die sich in der Regel bereits länger mit ihrer Selbstfindung und weiteren Entwicklung auseinandersetzen. Aber auch in diesen Fällen wurde die externe Rückspiegelung als hilfreiche Bestätigung aufgenommen.




Diese und noch viele Fragen mehr waren im Raum, nachdem wir von SOCIUS als Einstiegsimpuls unsere Landkarte zur Navigation von geteilter Führungsarbeit vorgestellt haben, in der wir die aus unserer Sicht wesentlichen Themen und Entwicklungsfelder rund um das Thema Selbstorganisation sichtbar gemacht haben.
Selbstorganisation läuft nicht immer rund. Manchmal rumpelt es, Impulse und Commitments bleiben unklar oder überlagern sich. Im besten Fall lernen wir daraus, im schlechtesten, sind wir frustriert, ziehen uns zurück und die Dinge versanden. Das SOCIUS Impuls Pitchdeck ist ein Kartenset zum Einspeisen von Ideen und zur Aushandlung von Commitments in selbstorganisierten Teams.
Mit der Entstehung dieses Buches ist es wie mit der Gründung einer Schule gewesen – wir brauchten Geduld, Ausdauer und langen Atem.



Den Rest des Tages widmeten wir uns in einem Wechsel von Pausen, Bewegung, Plenum und Kleingruppenarbeit zuvor vom Team identifizierten Stressoren mit der Brille

Einer der hartnäckigsten Vorbehalte gegenüber Praktiken der Selbstorganisation ist, dass sie zu zeitaufwändig sind. „In ruhigen Gewässern können wir uns den Luxus dezentralisierter Kontrolle leisten, aber wenn das Wetter rau wird und viel auf dem Spiel steht, sollten wir besser auf etwas Strafferes und Effizienteres zurückgreifen“. Sehen wir da mal etwas genauer hin: Selbstorganisation wird vor allem da langsam, wo Vertrauen fehlt. Wenn ich davon ausgehe, dass meine Teammitglieder inkompetent sind oder ihre Macht missbrauchen und in einer Weise handeln, die eher ihren eigenen Interessen als unserer gemeinsamen Sache dient, werde ich versuchen, sie zu kontrollieren. Ich sorge dafür, dass Reports und Entscheidungen im Plenum erfolgen und dass Genehmigungsschleifen und dreifache Kontrollsysteme installiert sind. All das macht Prozesse langsam und uninspirierend. Wenn ich dagegen darauf vertraue, dass meine Mitstreiter:innen die gemeinsame Sache im Blick haben und kompetent (oder zumindest nach bestem Wissen und Gewissen) handeln, kann ich mich auf ein handhabbares Minimum an Kontrolle einlassen und so ein Maximum an Dynamik ermöglichen. Die Zone dessen, was „sicher genug ist, um es zu versuchen“, wächst.
Führen ist ein Balanceakt zwischen inneren und äußeren Impulsen. Die Bewusstheit fürs Innere, das Spüren und Vertrauen in unsere Intuition, steht dabei der Wahrnehmung und Deutung des sozialen Feldes gegenüber. Wenn wir den Kontakt zu einer der beiden Seiten verlieren, wenn die beiden Welten sich vermischen oder eine das Handeln dominiert, wird Führung schwierig. In selbstorganisierten Teams ist Führungsenergie zwar verteilter und dynamischer als in klassischen hierarchischen Organisationen, aber der Balanceakt zwischen inneren und äußeren Impulsen ist genauso delikat. Führungshandeln erfordert einen souveränen Umgang mit diesen Impulsen und die Fähigkeit, darin sinnvoll und unerschrocken zu handeln.
Der Weg zur Selbstorganisation erfordert eine schrittweise Verlagerung von äußeren Strukturen hin zu innerer Kompetenz und persönlicher Entwicklung als Quellen von Stabilität
Die Bedeutung von Resonanz für jegliche soziale Praxis liegt auf der Hand. Für die Praxis der Selbstorganisation ist sie besonders relevant: Die adaptive Qualität von selbstorganisierenden Systemen zielt auf die laufende Anpassung an ihrer Umwelt. Zur Umwelt gehört dabei das externe Feld, aber auch die interne Dynamik, die die Mitglieder einbringen. Die wirklich spannenden Dinge in diesen beiden Bezugswelten liegen unsichtbar unterhalb der Wasserlinie. Auf kollektiver Ebene bedeutet Resonanz, solch verborgene Dynamiken zu erspüren.
Souveränität in rauhen Gewässern
Komplexitätsbewusstsein (
Der letzte Muskel ist der kniffligste und umfassendste. „Groove“ ist ein nebulöses Konzept das schwer zu operationalisieren ist (können Algorithmen miteinander grooven?). Die erste Zutat zum Groove ist „Alignment“ – eine Qualität, die sich vielleicht am besten mit „gemeinsamer Ausrichtung“ übersetzen lässt; die zweite ist lebendige Dynamik, oder auch „Swing“.
