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Warum beschäftigt mich die Frage gerade jetzt?

Nicht dass mich die Frage nach einem „moralischen (Arbeits-) Leben“ früher völlig kalt gelassen hätte, beispielsweise damals vor knapp zwanzig Jahren in der Anfangsphase von SOCIUS. Ich behandelte das Thema als „Arbeitsmoral“: die Firma musste aufgebaut werden, Projekte gestemmt, die Arbeits- und Familienbalance mit ihrer direkten Emotionalität – das alles forderte fast die gesamte Energie. Mein Pragmatismus war durchaus erfolgreich und ich Zweifel hätten da nur unnötig gebremst. Die Theorie dahinter war schlicht mit einem für mich bedeutsamen Ursprung: Während meiner zweijährigen Arbeit mit Aktion Sühnezeichen im Museum Stutthof bei Danzig führte ich als junger Mensch lange Gespräche mit Leon Lendzion, einem Danziger, ehemaligen Sejm Abgeordneten und während des Krieges Häftling im KZ Sachsenhausen und KZ Stutthoff. Mir blieb als Quintessenz seine Aussage, dass es keine guten oder schlechten Menschen gäbe, sondern die jeweiligen politischen und kulturellen Umstände das eine oder andere fördern. Ich schlussfolgerte für mich, dass es meine Verantwortung sei, dazu beizutragen dass eben das Gute im Menschen (Humanismus) gestützt wird. Dies war mir ein völlig ausreichender moralisch – ethischer Rahmen für mein berufliches wie privates Engagement.

Drei wiederkehrende Phänomene

Es hätte gut so praktisch quadratisch weitergehen können, wenn es weiter um Projekte gegangen wäre. Aber aus der (Projekt-) Beratung wurden in den letzten Jahren in meinem Berateralltag zunehmend Entwicklungsbegleitungen. Während also Erstere eher fachliche Expertise oder organisatorische Managementfähigkeiten erforderten, verweigerten sich die komplexen Prozessbegleitungen zunehmend einem simplen „passend – unpassend“ Experten-Schema. Daher hier einmal drei Konstellationen, die in meiner Berateralltag häufiger entstanden.

Loyalitätskonflikte

Mensch vs. Struktur – die Schwierigkeit zu entscheiden, wem etwas nützen soll, der Einzelperson oder der Organisation, tauchte immer wieder auf. Früher hatte ich mir versucht mit dem Ideal zu behelfen, dass doch letztlich für die Gruppe oder die Organisation auch gut sein müsse, was für den einzelnen gut ist. In letzter Zeit ging dies ungünstigerweise immer öfter nicht zusammen.

  • Einerseits: Manchmal passten einzelne Mitarbeitende nicht zu der Organisation, waren mit ihren Aufgaben so überfordert, dass es negative Folgen für das Team, das Produkt oder Umfeld hatte. Insbesondere wenn es sich um Führungskräfte handelte.
  • Andererseits: Genauso oft hatte auch die Kultur oder die Struktur der Organisation auf einzelne Mitarbeitende keine gute Wirkung, ohne dass diese eine echte Chance hätten, daran wirklich etwas zu ändern – egal ob Führungskräfte oder „einfache“ Mitarbeitende.

Im Coaching habe ich mit beiden Richtungen kein Problem, da ist meine Loyalität eindeutig bei der Person und ihrer Perspektive. In einem Entwicklungsprozess dagegen hat die ganze Organisation meine Loyalität und zusätzlich der oder die Einzelne mein Verständnis. Tja.

Überforderung in der Breite

Der Spagat zwischen den verschiedenen Perspektiven, Logiken und Realitäten der beteiligten Gruppen und Personen wurde zur zweiten Herausforderung für meine Haltung in der Beratung. Je differenzierter und tiefer ich mit den Jahren lernte die jeweiligen Situationen zu interpretieren, desto mehr verschwand das einfache Holzschnittmuster von „gut und böse / richtig und falsch“. Eigentlich ja zum Glück; es machte es nur komplizierter meine Position darin zu finden. Lange habe ich mir dann die Haltung der Gestaltberatung zu Grunde gelegt, dass jede Realität ihre Berechtigung hat. Damit diese Akzeptanz tatsächlich wertschätzend wird und nicht zur Beliebigkeit oder Indifferenz verkommt, braucht es einen reflektierten Wertekanon. Die von mir angestrebte „Allparteiigkeit“ (statt „Neutralität“) benötigt ein Rückgrat, das in Eckpunkten benannt werden kann.

Bedürftigkeit und Macht

Je bedürftiger der Klient ist, desto verantwortungsvoller muss der Helfende vorgehen. Klingt logisch, ist trotzdem nicht einfach. Denn die ethischen Probleme ähneln denen, die die Katastrophenmedizin mit dem Entscheiden hat, in welcher Reihenfolge Verletzte behandelt werden (Triage). Denn je dringlicher und schwieriger die Situation ist, desto wahrscheinlicher, dass auch intensive Entscheidungen der externen Begleitenden gefordert sind. Wie gehe ich nun mit der großen Macht, die mir als Moderator und Begleiter damit gegeben ist, um? Wie soll ich denn bitte in komplett unübersichtlichen Situationen in denen manche drohen im Sumpf zu ertrinken und andere mit Schlamm werfen noch „sauber“ arbeiten? Oder ist dies nur eine schlecht kaschierte Entschuldigung für ein zwar oft wirkungsvolles, aber auch riskant invasives Vorgehen? Wo beginnt die nicht mehr zu rechtfertigende Übergriffigkeit?

Perspektive Organisation – Perspektive Beratung

Das Verhältnis zwischen Organisationen und ihren externen Begleitungen ist so divers, wie Menschen unterschiedlich sind. Im Folgenden je ein problematisierendes Fragment aus Organisationssicht (Klippen) und aus der Beratungsperspektive (Untiefen):

Die scharfen Klippen der Hierarchie

Strukturell besteht in dem Verhältnis von ebenbürtigen Partnern ein vergleichsweise geringes Risiko des Missbrauchs oder des Ausgeliefertseins. So haben sich in der Regel Auftraggeber – Auftragnehmer für eine begrenzte Kooperation gegenseitig ausgesucht und können sich auch vorzeitig wieder voneinander verabschieden. Beide Partner sind freiwillig in der Zusammenarbeit verbunden. Allerdings gilt das nur für die Entscheider Ebene.

Anders sieht es schon auf der Ebene von Teams oder Abteilungen aus. Hier hatten die Mitarbeitenden in der Regel keinen Einfluss auf die Auswahl der externen Begleitung und haben auch entsprechend wenig Möglichkeiten, die Zusammenarbeit ohne eigenen Schaden vorzeitig zu beenden. Häufig besteht im Gegenteil das Risiko, dass die Beratenden eine enge Beziehung zur Führungsebene pflegen und dadurch besondere Vorsicht im Umgang mit ihnen für die Mitarbeitenden geboten ist. Diese potentielle Abhängigkeit der „einfachen“ Teammitglieder kann zum Beispiel über ein sorgfältig partizipatives Vorgehen (Steuerungsgruppe, Kleingruppengespräche etc.) abgeschwächt werden, bleibt aber als strukturelles Ungleichgewicht ähnlich wie Hierarchien immer präsent.

In Untiefen ertrinken oder stranden

Das Wort „Untiefe“ ist eines dieser lustigen Janusworte, die zwei gegensätzlichen Bedeutungen haben: Gefährlich tief oder eben gefährlich seicht, so geht es auch Beratenden: Einerseits kann man in der grenzenlosen Untiefe des Mitleids ertrinken, wenn man sich nicht an das rettende Ufer der („bloßen“) Empathie retten kann. Andererseits kann man bis zur Wirkungslosigkeit auflaufen, wenn man oberflächlich nur dem sachlichen Auftrag in einer Art Dienst nach Vorschrift folgt, ohne die meist kulturellen und beziehungsbedingten tieferen Schichten zu berücksichtigen. Und eine ziemlich triviale Gefahr lauert auch auf die Beratenden, wenn sie mit einer Organisation arbeiten: Man ist sozusagen personell immer unterlegen – die anderen sind schlicht mehr, sie sind „Gruppe“. Aus dem Privileg der Freiheit und des „fremden Blicks“ kann in ungünstigen Konstellationen schnell ein Gefühl der Unterlegenheit oder der Ausgrenzung werden. Wir kennen alle diese Situationen mit eingespielten Gruppen wenn die moderierende Person neu hinzukommt.

Drei Auswege und Möglichkeiten

1. Rollen und Verfahrensregeln

Klare Vorgaben, wie man den Herausforderungen zu Loyalität, Positionierung oder Macht und Intervention begegnen will, könnten ein guter Weg sein. Das Format der Mediation liefert hierfür ein gutes Beispiel: Durch die großen Übertragungsrisiken die mit den zu bearbeitenden Konflikten verbunden sind, ist es in einer Mediation fast lebensnotwendig, strenge Verfahrensregeln festzulegen und die Rollen klar zu definieren. Dieses Korsett ist für diesen Anlass schützend und hilfreich.

Würde man dies Vorgehen nun 1:1 auf die Organisationsentwicklung (OE) übertragen wollen, wäre das wie wenn man einen Eishokeyspieler mit seiner auf dem Eis passenden Ausrüstung in ein Leichtathletikstadion zum Zehnkampf schicken würde. So sind auch in Prozessen der OE so viele verschiedene Konstellationen denkbar, dass ein völlig durchstrukturiertes Vorgehen kaum praktikabel wäre. Auch in den Rollen changiert die Beratungsperson gerne zwischen moderieren, analysieren, erweichen, bestärken und irgendwie eben auch künstlerisch zaubern, also mit der Illusion der positiven Möglichkeit verlocken.

2. Transparenz

Offenheit und Klarheit macht sicher vieles besser. Sich also vorab gegenseitig zu informieren, die Historie zu skizzieren und Ansprechpersonen zu benennen von Seiten der Organisation sowie Referenzen und Kontexte bisheriger Arbeiten zu zeigen von Seiten der externen Beratungsperson. Dies kann der beratenden Person helfen ein richtiges (Mittel-) Maß an Intervention und Mitschwingen zu wählen – also ein Mittel gegen die Untiefen; und es kann die Organisation unterstützen aus den gewohnten hierarchischen Lagerzuordnungen herauszukommen und ein Vertrauen in die Integrität des Prozesses zu entwickeln – also ein Mittel gegen die Klippen der Hierarchie. Diese Vertrauensbildung durch Transparenz hat eine ganz wichtige menschliche Hürde: Wenn es entscheidend wird, glauben wir dem Tun. Letztlich ist es die Kongruenz von Worten und Taten, die die Glaubwürdigkeit – also das Vertrauen – wachsen lässt.

3. Kontrolle und Sicherheit im Konfliktfall

Präventionsmaßnahmen und veröffentlichte Mechanismen für den Konfliktfall sind eine ganz schöne Möglichkeit für ein Sicherheitsgefühl zu sorgen und damit die Voraussetzung für entspanntes Arbeiten zu schaffen. Wenn schon Seiltanz oder Akrobatik, dann bitte mit Netz. Konkret stört es die Euphorie des Vertragsabschlusses zwischen Organisation und beratender Person oder Firma nicht unbedingt, wenn man auch gleich bespricht, welche Mechanismen man zur Überprüfung der Ergebnisse installiert; und vielleicht auch gleich skizziert, welche Konsequenzen im negativen Falle angewendet werden. Natürlich geht das nur in Maßen, weil durch zu viele Sicherungsmaßnahmen die Aufmerksamkeit auf die negativen Varianten gelenkt wird. Wenn also das Netz so dicht gewebt wird, dass man die Artist_innen darüber gar nicht mehr sehen kann, verfehlt es seinen Zweck.

Zwei Beispiele

Rückzug

Ein klassischer Loyalitätskonflikt führte zum Abbruch eines Organisationsentwicklungsprozesses in einem mittelgroßen Landesverband: Dort leitete seit fast drei Jahrzehnten eine Person die Organisation, erst hauptberuflich als Geschäftsführende, dann als Vorstandsmitglied. Der Verband war zwar ökonomisch erfolgreich, aber durch die personelle Kontinuität bildete sich eine Stabilität die die Mitbestimmung und letztlich auch die Handlungsfähigkeit für alle schmerzhaft reduziert hat. Die leitende Person war persönlich sehr engagiert und durch eine schwere Krankheit zudem noch schutzbedürftig; der Verband war ihr Lebenswerk und der schwierige Abschied hatte etwas persönlich Tragisches. Nach Ausloten aller Möglichkeiten gaben die Beratenden schließlich den Auftrag als für sie nicht durchführbar zurück. Der Loyalitätskonflikt war so nicht auflösbar und barg für die Beratenden die Gefahr, selbst in den Strudel der Konflikte als parteiisch hineingesogen zu werden. Das auf Freiwilligkeit und Ausgleich basierende Vorgehen hat in diesem Falle offensichtlich nicht greifen können. Der Verband nutzte schließlich die satzungsgemäßen (Macht-) Instrumente und die Mitglieder wählten in einer vom Dachverband sozusagen halbextern moderierten Mitgliederversammlung einen neuen Vorstand.

Krankheit als Grenzfall

Am Beispiel einer Suchterkrankung in einem kleinen Verein noch ein besonderes Beispiel eines Loyalitätskonfliktes. Im Verlauf eines kleineren Entwicklungsprozesses klagten mehrere Einrichtungsleitungen über die Arbeit der Geschäftsführung des Vereins. Dies geschah auf eine merkwürdige Art undeutlich; der gesamte Prozess geriet ins Stocken und war wenig wirksam. Die Geschäftsführung brach ihn schließlich ab. In einem persönlichen Gespräch mit dem Vorstand wurde die länger bestehende Vermutung des externen Begleiters bestätigt, dass die geschäftsführende Person an Alkoholsucht erkrankt war; den meisten Mitarbeitenden war dies bekannt. Dies erklärt auch weshalb die Kritik nicht offen geäußert wurde – es handelte sich um ein Tabuthema, das die Mitarbeitenden ihrerseits in ein Dilemma brachte.

Im SOCIUS Labor „Betriebsgeheimnis Sucht“ im August 2016 hatten wir exemplarisch durchgesprochen, wie die Begleitung eines Suchterkrankten aussehen kann, in dem jedes auch kleine Vergehen sofort arbeitsrechtlich geahndet wird. Damit wird auf der einen Seite der formelle Druck mittels strenger Kontrolle der Arbeitsleistung aufgebaut, um auf der anderen Seite die therapeutische Lösung vorschlagen zu können. Allerdings benötigt es dafür bei fehlender Krankheitseinsicht des Erkrankten eine umso arbeitsintensivere Begleitung. Hierzu war der Vorstand in diesem Fall nicht in der Lage und so blieb es bei dem alle Mitarbeitenden enttäuschenden Abbruch des Prozesses.

Was tun? Што делатъ?

Aus diesen Problemfeldern und Beispielen generiere ich einmal als Beginn fünf persönliche und sehr pragmatisch gedachte Hinweise zum Umgang mit Ethik und Haltung in der Beratung. Vorher noch ein paar Anregungen aus verwandten Berufsfeldern.

Was tun andere zur Sicherung der beruflichen Integrität?

Nach den drei internen Feldern nun ein Blick nach außen: Wie gehen beispielsweise Ärzte oder Rechtsanwälte mit dem Vertrauensvorschuss ihrer Klienten oder Patienten um? Können wir Beratende davon etwas lernen? Welche Anregung stecken beispielsweise im Eid des Hippokrates (u.a. Wohl der Kranken, kein sexueller Missbrauch, Verschwiegenheit) und warum fällt es so schwer ihn zu aktualisieren? Immerhin hat es ein Punkt bis ins Bürgerliche Gesetzbuch geschafft: der Bruch der Verschwiegenheit in diesen Berufen ist strafbar. Oft sollen auch standes- oder berufsrechtliche Regeln das Niveau der Berufsausübung sichern helfen: Ausbildung, Ausübung und Beschwerdeführung werden durch Gremien überwacht. Ich selbst fand den Beratungskodex und die Berufsethik des schweizerischen Berufsverbandes für Supervision und Organisationsentwicklung www.bso.ch interessant.

Fünf pragmatische Gedanken zum Umgang mit Werten

  1. Selbstreflektion stärken: Eigene Biografiearbeit
    Nicht nur um Triggerpunkte zu vermeiden, auch insgesamt ist es sozusagen un-vermeidbar, sich anzusehen, wie und wodurch man zu den eigenen Werten und Haltungen gekommen ist. Die Zugänge sind sicher unterschiedlich, ob Meditation, therapeutische Gespräche oder Körperarbeit – wie man sich seiner Biografie nähert ist nicht entscheidend. Das gilt aus meiner Sicht auch für Teams / Organisationen mit der natürlich großen Frage: Welches sind die Zugänge für Organisationen, welches Vorgehens-Design wird hier gebraucht?
  2. Nähe und Distanz testen: In Fortbildungen
    Das Ausloten von adäquaten Vorgehensweisen benötigt Fingerspitzengefühl, das durch reflektierbares Ausprobieren entsteht. Ganz in der Tradition des Action Research von Kurt Lewin kann man dies für sich selbst gut in dem geschützten Rahmen von längerfristigen und auf Gruppendynamik und Persönlichkeitsentwicklung zielenden Fortbildungen erproben.
  3. Versicherung gegen Übergriffe: Kollegialität
    Doppelbesetzung in Prozessen und kollegiale Supervision sind zwei Möglichkeiten für Beratende. Für Organisation hat eine selbstbewusste Steuerungsgruppe (von meiner Kollegin Nicola Kriesel habe ich übernommen sie lieber „Prozessgruppe“ zu nennen) eine ähnliche Funktion.
  4. Friktionsfelder positiv voraussehen: Heikle Themen respektvoll benennen
    Wenn Regelungen für Streitfälle für alle Beteiligten geklärt sind, kann dies kann ein Klima des Respektes schaffen. Alleine den Umgang mit Themen wie Verschwiegenheit, Missbrauch (Macht, Abhängigkeiten), Umgang mit Körperlichkeit zu benennen hilft oft schon.
  5. In Zeiten von Trump und AfD hilfreich: Werte und Haltung besprechen
    Die eigenen ethischen Überlegungen verdienen es vielleicht mit anderen diskutiert und möglicherweise gelegentlich verschriftlicht und weitergegeben, gar veröffentlicht zu werden? Die Konsequenzen für die Haltung ergeben sich vermutlich wie von selbst.

Dr. Rudi Piwko SOCIUS 2018

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