„Erinnern Sie sich noch an den ersten Schneefall in einem Spätherbst oder Winter Ihrer Kindheit? Es war wie der Einbruch einer anderen Realität…“ – mit diesen Sätzen beginnt das Buch Unverfügbarkeit – und ich muss schnell mal den Buchdeckel umdrehen, ob es wirklich Hartmut Rosa ist, der da schreibt… (hat ihm jemand was über die Resonanzmechanik des Schreibens geflüstert?)
Der Schnee ist eine Illustration von Rosas Begriff der Unverfügbarkeit: wir können ihn nicht erzwingen, seiner nicht habhaft werden, er zerrinnt zwischen unseren Fingern. Und doch und um so mehr ist er Objekt unseres Begehrens – wir wollen ihn unbedingt verfügbar machen. In diesem Spalt zwischen Wunsch und Möglichkeit lokalisiert Rosa das Grunddilemma unserer Weltbeziehung:
„Indem wir Spätmodernen auf allen genannten Ebenen – individuell, kulturell, institutionell und strukturell – auf die Verfügbarmachung von Welt zielen, begegnet uns die Welt stets als ‚Aggressionspunkt‘ oder als Serie von Aggressionspunkten, das heißt von Objekten, die es zu wissen, zu erreichen, zu erobern, zu beherrschen oder zu nutzen gilt, und genau dadurch scheint sich uns das ‚Leben‘ , das, was die Erfahrung von Lebendigkeit und von Begegnung ausmacht – das, was Resonanz ermöglicht – , zu entziehen, was wiederum zu Angst, Frust, Wut, ja Verzweiflung führt…“.
Die Dinge verfügbar machen heißt, sie sichtbar, zugänglich, beherrschbar, im besten Falle nutzbar zu machen. Der Drang zur Verfügbarmachung ist programmatisch in unserer Kultur und unseren Institutionen festgeschrieben, nicht zuletzt im vorherrschenden Paradigma der dynamischen Stabilisierung (größer, schneller, neuer!). Wir sind mit Erich Fromms Worten aufs Haben, statt aufs Sein ausgerichtet.
Während diese Grundidee schnell erzählt ist, entsteht die Wucht des Buches vor allem durch die Akribik, mit der Rosa die Auswirkungen dieser tragischen Weltbeziehung von unserer Geburt bis zum Tod und durch alle Bereiche des organisierten Lebens in der spätkapitalistischen Gesellschaft nachzeichnet. Dass es herausfordernd ist, hierzu eine kategorische Haltung einzunehmen, fällt dabei etwa in der Reflexion der Impfdebatte auf: ja, die Impflogik ist ein Stück des problematischen Verfügbarmachungsprogramms, zugleich ermöglicht das Abfedern existentieller Risiken überhaupt erst den Ausblick auf resonantes Leben. Die Antwort auf das Dilemma der Unverfügbarkeit besteht mithin nicht darin, das Streben nach Erkenntnis und Handhabe grundsätzlich über Bord zu werfen. Rosa ist Gesellschaftskritiker, kein Maschinenstürmer. Und so offeriert er mit dem Resonanzbegriff auch die hoffnungsvolle Seite der Medaille.
Das Verfügbarkeitsverlangen hat seinen Gegenspieler in unserem Begehren nach Resonanz, einer Beziehungsqualität, die Rosa als transformativen Dialog beschreibt: Ich werde von etwas berührt („angerufen“), antworte darauf mit einer inneren Bewegung, die ich veräußere (ich werde „selbstwirksam“) und lasse mich diesem Prozess ein Stück verwandeln. Das mich Berührende kann eine Musik, eine Person oder eine Idee sein, die Resonanzerfahrung kann beim Beten oder Meditieren, auf einem Spaziergang, im Dialog oder ganz beiläufig im Alltag entstehen. Sie lässt sich allerdings – und hier schließt sich der Kreis – nicht herbeiführen oder kontrollieren und ist in diesem Sinne ebenfalls unverfügbar.
Hartmut Rosa hat diese Gedanken bereits in seinem vorausgegangenen Büchlein Resonanz auf 800 Seiten ausgeführt – mit keinem geringeren Anspruch, als die Visions-Lücke der kritischen Theorie zu schließen und zu beschreiben, was im positiven Gegenbild zur Entfremdung gelingendes Leben ausmacht (da hätte er natürlich auch die kritische Psychologie befragen können – die Antwort wäre aber etwas unromantischer und weniger spirituell ausgefallen).
Bei Unverfügbarkeit sind wir im Wesentlichen wieder bei der düsteren Problembeschreibung: In dem Maße wie wir der Welt „auf den Leib rücken“, um sie verfügbar zu machen, zieht sie sich von uns zurück, verstummt und wird auf schmerzhafte Weise unnahbar. Im Grunde verlassen wir das Buch mit der Gewissheit: We‘re fucked! Und dennoch gibt es eine Ahnung, dass das so nicht sein muss, wenn wir es schaffen, die positive Gegendynamik der Resonanz zu kultivieren.
Da sitze ich nun also und frage mich: Wie können wir diese Gedanken für die OE nutzbar machen? Managementprogramme sind ja gewissermaßen Musterbeispiele für die Verfügbarmachung von Welt. Wenn wir den Management-Hut also mal zur Seite legen, was könnte ein auf Resonanz aufgebauter Modus der OE sein? Weg von KPIs und Wirkungsindikatoren, vielleicht weg von operationalisierten Zielen und hin zu Sinn als zentraler Kategorie von Entwicklung?
Das Wesen der Dinge in sozialen Systemen liegt unter der Oberfläche. Nur wenn wir uns darauf einlassen, spüren, wie es uns berührt und ihm antworten, bekommen wir die tieferen Schichten von Transformation zu greifen. Dies gilt auch und besonders für den Umgang mit Komplexität und Unsicherheit, auf die die Antwort nicht immer feingliedrigere Managementpraktiken sondern vor allem eine andere resonante Haltung sein könnte. Im Kosmos der evolutionären Praktiken hat sich hierfür der Ausdruck des sense and respond gefunden – und ich kann mich nicht gegen das aufsteigende Bild wehren, wie mir dieser Begriff wie wunderbar glitzernder Schnee durch die Finger rinnt.
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