SOCIUS.Blog

Autorinnen: Kerstin Engelhardt und Nicola Kriesel

„Inklusion und Beteiligung als Chance in der Organisations- und Regionalentwicklung“

Wandel zur inklusiven Organisation

Im Folgenden stellen wir zunächst kurz dar, was wir unter „Inklusion“ und „Organisationsentwicklung“ verstehen. Im nächsten Schritt beschreiben wir die Bedeutung von Inklusion für Organisationen. Darauf aufbauend beschreiben wir (mögliche) Vorgehensweisen für einen Wandel zur inklusiven Organisation. Abschließend haben wir mit zwei Menschen über gelungene Beispiele inklusiver Organisationen gesprochen.

Definitionen: Inklusion und Organisationsentwicklung

Inklusion, so lautet die Definition von Aktion Mensch, der wir uns anschließen, „heißt wörtlich übersetzt ‚Zugehörigkeit‘, also das Gegenteil von Ausgrenzung. Wenn jeder Mensch – mit oder ohne Behinderung – überall dabei sein kann, in der Schule, am Arbeitsplatz, im Wohnviertel, in der Freizeit, ist das gelungene Inklusion.

In einer inklusiven Gesellschaft ist es normal, verschieden zu sein. Jeder ist willkommen. Und davon profitieren wir alle: zum Beispiel durch den Abbau von Hürden, damit die Umwelt für alle zugänglich wird – aber auch durch weniger Barrieren in den Köpfen, mehr Offenheit, Toleranz und ein besseres Miteinander.

Inklusion ist ein Menschenrecht, das in der UN-Behindertenrechtskonvention festgeschrieben ist. Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland hat diese Vereinbarung unterzeichnet. …

Inklusion ist kein Expertenthema, im Gegenteil. Sie gelingt nur, wenn möglichst viele mitmachen. Jeder kann in seinem Umfeld dazu beitragen.“

Organisationsentwicklung (OE) „ist ein Konzept zur Entwicklung von Organisationen … mit dem Ziel einer aktiven und flexiblen Anpassung an die Herausforderungen einer sich ständig wandelnden Umwelt. Es ist eine Entwicklung im Sinne höherer Wirksamkeit der Organisation und größerer Arbeitszufriedenheit der beteiligten Menschen.“

Organisationen verstehen wir in diesem Sinn als „Lernende Organisationen“. OE wird unter Mitwirkung möglichst aller Organisationsmitglieder umgesetzt und bezieht die Organisationskultur ein: formelle und informelle Regeln, Hierarchien, Werte und Verhaltensmuster, Traditionen und Rituale.

OE beinhaltet das Untersuchen von und die Arbeit an Beziehungen, Verhalten und Einstellungen: gegenüber dem Individuum und der eigenen Gruppe (Team, Referat, Abteilung), gegenüber anderen Gruppen und der Organisation als Ganzem. Strukturen und Abläufe einer Organisation werden anschließend bzw. während der OE entsprechend angepasst.

 

In Anlehnung an Mabey und Pugh gibt es fünf kennzeichnende Merkmale der OE:

  • OE ist ein breit angelegter mittel- bis langfristiger Ansatz. Sie umfasst die gesamte Organisation oder Teilbereiche, z.B. einzelne Referate oder Abteilungen.
  • OE basiert auf Erkenntnissen und Methoden der Verhaltenswissenschaften, der Organisations- und Wirtschaftspsychologie und der Gruppendynamik.
  • OE ist prozess- und zielorientiert.
  • OE erfordert eine Moderation durch interne Mitarbeiter*innen oder externe Expert*innen.
  • OE ist partizipativ, d.h. sie bezieht alle Betroffene als Beteiligte ein.

Demzufolge bedeutet OE immer auch eine Förderung der Menschen in den Organisationen und nicht nur das bloße Umstrukturieren oder womöglich Abbau von Arbeitsplätzen.

OE wird in großen Unternehmen, in Verwaltungen, Kirchen, der Armee, sozialen und humanitären Einrichtungen und vielen anderen Bereichen der Gesellschaft eingesetzt. Aufgrund der gegenwärtigen schnellen gesellschaftlichen und globalen Veränderungen  (technische/digitale Innovationen, Finanzkrisen, demographische Entwicklungen etc.) sind Organisationen einem großen Anpassungsdruck unterworfen. Daher wird – notgedrungen – OE in einigen Organisationen zu einem stets wiederkehrenden Verfahren.

Inklusion und Organisationen

Inklusion ist nicht nur ein soziales Anliegen, sondern auch ein hochpolitisches Konzept. Denn in unserem Verständnis geht Inklusion über den Ansatz der UN-Behindertenrechtskonvention hinaus: Im Sinne von Diversity/ Vielfalt meint sie den gleichberechtigten Zugang Aller zu Allem.

Damit verbunden aber ist die Aufgabe von Privilegien für diejenigen Personen(gruppen), die sich diese Zugänge und Positionen bislang weitgehend unter sich sichern konnten. Die Konkurrenz um Arbeitsplätze wird größer, die Belegschaft heterogener, die Berücksichtigung der verschiedenen Bedarfe und Interessen komplexer und eine entsprechend angemessene Ausstattung von Arbeitsplätzen möglicherweise schwieriger und teurer.

Nehmen Organisationen die Umsetzung von Inklusion nach Innen ernst, müssen sie sich mit der Frage beschäftigen, welche Ressourcen sie dafür zur Verfügung stellen (können), z.B. an Geld und Zeit, an Räumen und Materialien; und an welchen Stellen Akzeptanz in der Belegschaft vorhanden ist bzw. wo und wie diese Akzeptanz zu schaffen ist.

Menschen mit Sehbeeinträchtigungen zum Beispiel sind in den allermeisten Organisationen akzeptiert, wenn sich die Beeinträchtigung durch das Tragen einer Sehhilfe (Brille oder Kontaktlinsen) ausgleichen lässt. Diese Akzeptanz ist für uns heutzutage selbstverständlich. Für Menschen mit Hörbeeinträchtigungen und deren Hörhilfen gilt zumeist das gleiche. Komplizierter wird es, wenn körperliche Beeinträchtigungen zwar durch Hilfsmittel ausgeglichen werden können, diese aber wiederum weiterer Unterstützungen bedürfen: Rollstuhlfahrer*innen beispielsweise benötigen barrierefreie Räume sowie entsprechende  Hausein- und  Treppenaufgänge. Wieder anders stellt sich die Frage der Akzeptanz, wenn eine Organisation z.B. vermehrt Menschen mit Migrationshintergrund einbeziehen oder Gläubige unterschiedlicher Religionen, die nach Räumen für eine ungestörte Ausübung ihrer Religion während der Arbeitspausen fragen, an sich binden möchte.

Zugleich bietet Inklusion für Organisationen große Chancen: Indem Organisationen nach Innen Vielfalt und (komplexen) Interessensausgleich praktizieren, sind sie dicht an der gesellschaftlichen Entwicklung; und damit sind sie dicht an der Nachfrage und der Möglichkeit, präzise, zielgruppengerechte Ansprachen und Angebote zu entwickeln. Darüber hinaus lernen die Beteiligten viele verschiedene Perspektiven kennen – was mit Spaß und Freude verbunden sein kann – und erweitern auf diese Weise ihren Horizont. In unseren Augen sind das die größten Vorteile einer inklusiven Belegschaft in einem sich immer weiter ausdifferenzierenden Umfeld.

Den Wandel einleiten – die Organisationsebene

Will eine Organisation den Weg zu einer inklusiven Belegschaft beschreiten, lautet die Ausgangsfrage: Wie gestalten wir unser System so, dass Menschen in ihrer jeweiligen Verschiedenheit Teil sein und Teilhaben können (zum Nutzen der Organisation und zum Wohle der in ihr Tätigen)?

Für die Umsetzung im Rahmen eines OE-Prozesses bedeutet das (idealtypisch):

  • Die Organisationsangehörigen entwickeln die Vision einer „inklusiven Organisation“. Die Vision wird von allen Organisationsbeteiligten zumindest in ihren Kernaussagen geteilt.
  • Aus der Vision werden konkrete Ziele abgeleitet.
  • Um diese Ziele zu erreichen, wird eine Strategie erarbeitet. Die Grundlage der Strategie bildet die Erfassung der Ist-Situation sowie der Ressourcen. Berücksichtigt werden hier auch mögliche Ängste und Befürchtungen der Beteiligten, für die Reflexionsräume während des Prozesses geschaffen werden.
  • Die Strategie realisiert sich in der

▪              Veränderung bzw. Anpassung von Strukturen: z.B. Personalzusammensetzung, Barrierefreiheit, inklusive Sprache, Arbeitsabläufe, Kommunikationsstruktur,
▪              sowie der Veränderung der Organisationskultur: Menschenbild, Haltung, Werte, Regeln, Verhaltensmuster, Rituale.

  • Die Ergebnisse des Prozesses werden kontinuierlich überprüft, Abläufe und Strukturen gegebenenfalls angepasst.

Den Wandel einleiten – wie kann die oder der Einzelne den Wandel in der eigenen Organisation initiieren?

Einzelpersonen, die Inklusion in ihrer Organisation vorantreiben möchten, brauchen Verbündete – als Einzelkämpfer*in lässt sich solch ein grundlegender Wandel in der Regel nicht erreichen. Ein Vorgehen kann sein:

Der erste Schritt

  • Was will ich? Wieso? (Vision, Leitideen)
  • Was ist mein „Mehrwert“ von Inklusion?
  • Welche Nachteile sehe ich, welche Befürchtungen habe ich?
  • Welche Ressourcen stehen mir zur Verfügung?

Der zweite Schritt

  • Wen brauche ich dafür / wer sind meine Bündnispartner*innen?
  • Was ist deren „Mehrwert“ von Inklusion?
  • Welche Nachteile sehen sie, welche Befürchtungen haben sie?
  • Wen spreche ich an mit welchem Ziel?

 

12 weitere Schritte „…

1             Orientieren: Was ist unsere inklusive Leitidee?

2             Kommunizieren: Wie finden wir eine gemeinsame Sprache?

3             Sich einlassen: Was wollen wir überhaupt?

4             Organisieren: Wie werden wir handlungsfähig?

5             Bestand aufnehmen: Wie sieht es zurzeit bei uns aus?

6             Ziele beschreiben: Was wollen wir erreichen?

7             Zwischenbilanz ziehen: Sind wir auf Kurs?

8             Ideen finden: Wie können Lösungen aussehen?

9             Pläne schmieden: Wie gehen wir vor?

10           Umsetzen: Ärmel hochkrempeln… und los!

11           Nachbereiten: Was haben wir geschafft?

12           In die Zukunft denken: Das Ende des Alten… ist der Beginn des Neuen!“

 

Das Beispiel Grundschule

Der Sonderpädagoge Christian Geißler arbeitet in Berlin-Neukölln an einer inklusiven staatlichen Grundschule. Das Team der Schule setzt sich „sichtbar divers entsprechend Geschlecht, Alter und Familiensprache“ zusammen. Christian Geißler erläuterte im Interview die Gründe, wieso Inklusion an dieser Schule funktioniert:

„Es braucht eine kritische Masse an Personen (… eine spürbare und wirkmächtige Gruppe) mit einer Haltung pro Inklusion – was für uns heißen würde: Diskriminierung vermeiden/ Vielfältigkeit  anerkennen (was wiederum meint: angemessene Voraussetzungen schaffen, damit alle entsprechend ihrer Voraussetzungen lernen können). Es braucht in hierarchischen Organisationen wie der öffentlichen Schule eine Schulleitung, die Inklusion will und dafür die personellen und sächlichen Voraussetzungen schafft. Gibt es diese drei Dinge: Lehrer*innen und Erzieher*innen sowie eine Schulleitung, die Inklusion wollen; ausgebildetes Personal, dass Inklusion umsetzen kann sowie materielle Ressourcen (Unterrichtsmaterialien, Räume …) dann fangen am besten nicht alle Klassen an, sondern nur diejenigen Klassen, in denen Pädagog*innen arbeiten, die Inklusion wollen. Im besten Fall entwickeln die eine Praxis, die für andere Pädagog*innen interessant und überzeugend ist. Bei uns bestanden die o.g. Voraussetzungen  – Inklusion wurde dann .. flächendeckend für alle Klassen eingeführt, was auch Widerstand zur Folge hatte. Denn einige Pädagog*innen hatten Angst, überfordert zu werden. Mittlerweile … hat sich das aber gegeben. Obwohl wir immer noch und immer wieder alle heraus- und manchmal überfordert sind. Aber so ist das vielleicht, wenn man an einer Utopie arbeitet (was Inklusion für mich ist – Weg und Ziel und Utopie). … Überzeugt haben mich (außerdem) … die vernünftigen Reaktionen der Kinder, mit denen ich arbeite. Die fragen (so oft wie eben für sie notwendig): ‚Warum ist der so? Was macht sie da? Warum kann sie nicht sprechen? Warum kriegt der immer leichtere Aufgaben? …‘ Und irgendwann ist es einfach so und jede*r arbeitet an seinen/ ihren Sachen. Wenn Erwachsene auch so miteinander umgehen würden, fände ich das gut.“

Organisationen mit inklusivem Anspruch

Raul Krauthausen

ist Aktivist, er setzt sich für die Rechte von Menschen mit Behinderung ein und ist dank seines jahrzehntelangen Engagements Experte für Inklusion in Organisationen. Im Gespräch nannte er mehrere Unternehmen, deren Ansatz er auf dem Weg zu einer inklusiven Belegschaft besonders findet. Zum Beispiel legte die Firma Boehringer Ingelheim schon 2012  einen Aktionsplan auf, um Inklusion im Unternehmen voranzutreiben. Oder SAP als IT-Konzern stellt zurzeit gezielt Menschen mit Autismusspektrum ein, und arbeitet dabei mit der Vermittlungsfirma auticon zusammen. Die Erlanger Firma access wiederum hat es sich zur Aufgabe gemacht hat, gezielt Menschen mit Behinderung in den Ersten Arbeitsmarkt zu bringen. Was in Deutschland allerdings fehle, so Krauthausen, ist ein Pendant zum österreichischen career moves – eine Jobvermittlung, die von einem Menschen mit Behinderung gegründet wurde und nicht nur mit dem größten Jobportal im Land kooperiert, sondern vor allem Beratungsleistungen für Unternehmen anbietet, die inklusiv werden wollen.

Raul Krauthausen sagt sehr deutlich: „Wir brauchen keine weiteren Werkstätten für Menschen mit Behinderung, keine weiteren Förder- und Integrationsbetriebe.“ Stattdessen fragt er, bezogen auf den gemeinnützigen Sektor, nach den Menschen mit Behinderung in den Führungsetagen der Wohlfahrtsverbände – und findet sie nicht. Dort aber, so Krauthausen weiter, könne Inklusion beginnen, dort werde sie auch ernst genommen: Statt für Menschen mit Behinderung etwas zu machen, lieber mit ihnen etwas zu machen. Im Grunde gehe es um die gleichen Fragen, die auch die Frauenbewegung seit Jahrzehnten stellt: Wie kann Ausbildung verbessert werden? Was kann gegen den gläsernen Deckel getan werden? Wie kann Empowerment stattfinden? Und wann fangen die Führungsebenen damit an?

Raul Krauthausen schlägt vor, nicht noch mehr Workshops und Ähnliches über Inklusion durchzuführen. Viel aussichtsreicher scheint es ihm, Begegnungen zu organisieren – Anlässe zu schaffen, zu denen Personalentscheider*innen, Ausbilder*innen und Führungskräfte Menschen mit Behinderung begegnen. „Das wäre Aufklärung! Von Mensch zu Mensch!“

Fazit

Damit der Wandel zur inklusiven Organisation gelingen kann, so unser Fazit, braucht es neben dem nötigen theoretischen Wissen und bereitgestellter Ressourcen vor allem das Engagement interessierter Menschen. Wir beschließen unseren Artikel daher mit einem Zitat der früheren Professorin Marianne Wilhelm, Wien, über ihr zwei Jahrzehnte dauerndes Engagement für Inklusion:

„Ich
An dem Ort, wo ich stehe
Mit den Menschen, mit denen ich lebe
Mit aller Macht, die ich habe und
Aller Liebe, derer ich fähig bin“.

Weitere Links zu Inklusion und Diversity

 

Kerstin Engelhardt / Nicola Kriesel

Dieser Artikel wurde ursprünglich geschrieben für eine Broschüre des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Wir danken unseren Gesprächspartnern für  ihre Unterstützung!

 

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