Keynote: Aufbruch zu Digital Leadership

Keynote: Aufbruch zu Digital Leadership

Kulturwandel hat immer auch mit Führung zu tun. Das gilt für wirtschaftliche Organisationen wie für das System Schule. Was hemmt und was fördert Musterwechsel im Führungshandeln? Welche Erfahrungen sind hilfreich, um die Transformation hin zu mehr Transformationsfähigkeit zu gestalten? Andreas Knoth, Psychologe bei der SOCIUS Organisationsberatung beobachtet in seiner Keynote, dass oft nicht das Erlernen und Annehmen neuer Praktiken und Rollenbilder Engpass bei der Hinwendung zu Digital Leadership sind, sondern das Loslassen und Verlernen alter Muster und Haltungen – Exnovation kommt vor Innovation.

Das Forum Bildung Digitalisierung veranstaltete vom 16. bis 17. November 2022 die siebte Konferenz Bildung Digitalisierung (KonfBD22). Die Leitkonferenz für gute Schule in der digitalen Welt im deutschsprachigen Raum macht Good Practices sichtbar, bietet allen Akteuren im System Schule eine Plattform für Austausch und Vernetzung und setzt wegweisende Impulse für die digitale Transformation im schulischen Bildungsbereich.

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Die sieben Muskeln der Selbstorganisation

Die sieben Muskeln der Selbstorganisation

Selbstorganisation ist eher eine Praxis als ein Strukturmodell. Und während Modelle einfach übernommen werden können, ist der Weg zur Beherrschung einer Praxis die Praxis selbst: Studien gehen von 10.000 Stunden aus, um auf einem Feld Exzellenz zu erreichen (Malcom Gladwell (2009): Outliers). Um etwa ein „exzellenter“ Pianist zu werden, muss ich 10 Jahre lang täglich drei Stunden Klavier üben. Wie kommen wir also darauf, dass wir, um Selbstorganisation zu meistern, lediglich enthusiastisch Laloux lesen und unser Organigramm von Kästchen auf Kreise umstellen müssen? Nein, meine Freund:innen, wir müssen trainieren, und abhängig von unseren früheren Verstrickungen, ordentlich trainieren.

In einer der inspirierenden Break-Out-Sessions der großen Covid Networking Wolke hatte ich das Vergnügen, auf Trine Demant von „Democracy Fitness zu treffen. Mit ihrem Team hat sie eine Reihe von Kurzprogrammen entwickelt, in denen „Demokratie-Muskeln“ trainiert werden – im Alltag oft verschüttete persönliche Kompetenzen, die entscheidend für die aktive Gestaltung und Beteiligung an einer lebendigen Demokratie sind. Zu den Kompetenzen gehören etwa „Verbales Selbstvertrauen“, „Empathie“ oder „Mobilisierung“.

Die Trainings sind aktivierend und machen Spaß, sollen aber auch herausfordern: „Wenn es ein bisschen weh tut, ist das ein gutes Zeichen dafür, dass Du die Übungen richtig ausführst“, heißt es dazu im Einführungshandbuch. Erstaunlich ist dabei: Jedes Training dauert nur 30 Minuten. Hey, was ist mit den 10.000 Stunden? Nun ja, irgendwo muss man ja anfangen – das Training ist lediglich die Einführung in einen ungenutzten Teil unseres Potenzials. Mit den Worten von democracy fitness: „Wenn Du fertig bist, wirst Du Dich immer daran erinnern, dass Du und andere diesen Muskel haben“. 

Fasziniert von diesem Ansatz frage ich mich natürlich, wie er sich auf die Entwicklung von Selbstorganisation übertragen lässt? Wenn wir davon ausgehen, dass wir trainieren müssen, um erfolgreich neue Wege der Zusammenarbeit zu gehen, welche Teile unserer Fähigkeiten sollten wir dann kultivieren? Meine Vermutung ist, dass die Muskeln der Selbstorganisation nicht so weit von den Muskeln der Demokratie-Fitness entfernt sind. 

Wir haben über diese Frage bei unserer letzten SOCIUS Klausur an der Adriaküste nachgedacht. Die folgende Liste der Sieben Muskeln der Selbstorganisation ist ein erstes Ergebnis dieser Gespräche:

  1. Kultivierung von Vertrauen 
  2. Präsenz (im Führen und Folgen)
  3. Selbstnavigation 
  4. Souveränität in Rauen Gewässern
  5. Resonanz in Beziehungen
  6. Bewusstheit für Lebende Systeme 
  7. Einbindung im Groove 

Natürlich gibt es andere Versionen, sicher braucht es auch noch einige Überarbeitungsschleifen – aber es ist erstmal ein solider Ausgangspunkt. Schauen wir uns die Muskeln, ihre Bedeutung im Kontext von Selbstorganisation und die Möglichkeiten des Trainings etwas genauer an:

Kultivierung von Vertrauen 

(Dem Prozess vertrauen; Sich selbst und anderen vertrauen, dem Universum vertrauen, Geduld haben, optimistisch bleiben)

Einer der hartnäckigsten Vorbehalte gegenüber Praktiken der Selbstorganisation ist, dass sie zu zeitaufwändig sind. „In ruhigen Gewässern können wir uns den Luxus dezentralisierter Kontrolle leisten, aber wenn das Wetter rau wird und viel auf dem Spiel steht, sollten wir besser auf etwas Strafferes und Effizienteres zurückgreifen“. Sehen wir da mal etwas genauer hin: Selbstorganisation wird vor allem da langsam, wo Vertrauen fehlt. Wenn ich davon ausgehe, dass meine Teammitglieder inkompetent sind oder ihre Macht missbrauchen und in einer Weise handeln, die eher ihren eigenen Interessen als unserer gemeinsamen Sache dient, werde ich versuchen, sie zu kontrollieren. Ich sorge dafür, dass Reports und Entscheidungen im Plenum erfolgen und dass Genehmigungsschleifen und dreifache Kontrollsysteme installiert sind. All das macht Prozesse langsam und uninspirierend. Wenn ich dagegen darauf vertraue, dass meine Mitstreiter:innen die gemeinsame Sache im Blick haben und kompetent (oder zumindest nach bestem Wissen und Gewissen) handeln, kann ich mich auf ein handhabbares Minimum an Kontrolle einlassen und so ein Maximum an Dynamik ermöglichen. Die Zone dessen, was „sicher genug ist, um es zu versuchen“, wächst.

Kann man diese Art von Vertrauen trainieren? Ein grundlegender Baustein dazu ist ein Phänomen, das der Psychoanalytiker Erik Erikson „Urvertrauen“ nennt – eine tiefe und grundlegende Überzeugung, dass die Welt ein guter Ort ist, der mich nährt. Nach Eriksons Entwicklungstheorie wird Urvertrauen idealerweise in den ersten 1,5 Lebensjahren eines Kindes aufgebaut und bildet die Grundlage für spätere Vertrauenserfahrungen und eine zuversichtliche und optimistische Lebenseinstellung. Ein Aspekt dieses Optimismus ist „People Positivity“ – die Überzeugung, dass Menschen kompetent, fähig und – wenn nicht anders sozialisiert – bereit sind, zum Gemeinwohl beizutragen. 

Die Stärkung der Fähigkeit zu vertrauen beginnt bei der Frage: „Wann und wie fühle ich mich sicher“? Und dann konkreter: „Wann fühle ich mich sicher genug, um es zu wagen, meinen Kolleg:innen in ihren Rollen und Verantwortlichkeiten zu vertrauen?“. Je bewusster wir uns unserer Grundbedürfnisse sind, desto besser verstehen wir, wo sich das Handeln anderer an ihnen reibt, und können dem auf produktive Weise begegnen. 

Neben der individuellen Dimension hat Vertrauen auch eine soziale Qualität, die von selbstverstärkenden Feedbackschleifen geprägt ist: Vertrauen erzeugt Vertrauen; es beruht auf Commitments die eingelöst und auf Versprechen, die gehalten werden. Ohne solche Commitments gibt es keine Basis für den positiven Kreislauf des Vertrauens. Und ohne Vertrauensvorschüsse gibt es keine Initialzündung, die die Spirale positiver Erfahrungen in Gang setzt. Beides lässt sich kultvieren.

Präsenz (im Führen und Folgen)

(Dem Impuls folgen. Spüren, was passieren will. Unerschrocken voran gehen. Führen. Und: Folgen: eine gute Idee erkennen und unterstützen. Selbstlos mitgehen, Ja Sagen!)

Führen ist ein Balanceakt zwischen inneren und äußeren Impulsen. Die Bewusstheit fürs Innere, das Spüren und Vertrauen in unsere Intuition, steht dabei der Wahrnehmung und Deutung des sozialen Feldes gegenüber. Wenn wir den Kontakt zu einer der beiden Seiten verlieren, wenn die beiden Welten sich vermischen oder eine das Handeln dominiert, wird Führung schwierig. In selbstorganisierten Teams ist Führungsenergie zwar verteilter und dynamischer als in klassischen hierarchischen Organisationen, aber der Balanceakt zwischen inneren und äußeren Impulsen ist genauso delikat. Führungshandeln erfordert einen souveränen Umgang mit diesen Impulsen und die Fähigkeit, darin sinnvoll und unerschrocken zu handeln. 

Wie Führung beruht auch Gefolgschaft (Followership) im Kontext von Selbstorganisation auf beherztem Handeln. Es geht nicht darum, einer Person zu folgen, sondern darum, ihren Impuls zu verstärken. Die Kunst des Folgens besteht nicht darin, widerspruchslos jedes Spiel mitzuspielen, sondern darin, einen Impuls aufzunehmen und kreativ damit zu arbeiten. Derek Sievers bringt es auf den Punkt: „Uns wird gesagt, dass wir alle Führung übernehmen  sollen, aber das wäre extrem ineffektiv. Die beste Art, Bewegung in etwas zu bringen, was uns wirklich am Herzen liegt, ist, mutig zu folgen und anderen zu zeigen, wie das geht“.

Wie können wir diesen Muskel trainieren? Zunächst wollten wir uns daran erinnern, dass wir alle tiefgreifende Erfahrung im Führen und Folgen haben. Spielen ist ein fließender Tanz aus impulsieren und mitgehen. Kinder sind im Allgemeinen ebenso in der Lage, spontan eine Idee vorzubringen und umzusetzen, wie freudig einem Handlungsangebot zu folgen: „Hey, lass uns…“ – „Komm, wir…“. „Ja, und…“. Es gibt eine Reihe von Gründen, warum diese angeborene Fähigkeit, einem Impuls (oder vielleicht besser: uns selbst) zu folgen, im Jugend- und Erwachsenenalter oft verschüttet wird: Wir verbringen prägende Jahre in Bildungssystemen, die Impulskontrolle gegenüber Impulsivität bevorzugen; wir verbringen Zeit an mehr oder weniger regulierten Arbeitsplätzen, an denen impulsives Handeln mit Skepsis begegnet wird; und wir leben in einem sozialen Umfeld, das Führung glorifiziert und gleichzeitig Versagensängste und Gefühle von Hochstapelei nährt, sobald wir den Rahmen unseres formalen Rollenhaushalts überschreiten. Es ist, gelinde gesagt, verwirrend. Das Training der Fähigkeit, impulsiv zu handeln, beginnt damit, uns mit unserem spielerischen Selbst zu verbinden und die verinnerlichten Stimmen und Zwängen abzubauen, die den impulsiven Prozess unseres inneren Kindes begrenzen.

Selbstnavigation 

(Bereit sein, zu lernen und zu verlernen; Die Selbstwahrnehmung kultivieren. Reflexion zur Routine machen; die eigenen Grenzen kennen und respektieren)

Der Weg zur Selbstorganisation erfordert eine schrittweise Verlagerung von äußeren Strukturen hin zu innerer Kompetenz und persönlicher Entwicklung als Quellen von Stabilität. Der Muskel der Selbstnavigation ist dabei zugleich Voraussetzung und Produkt dieses Prozesses. Er fußt auf der Ortskenntnis unserer inneren Landschaft und bedingt die Fähigkeit, sich einzulassen und dabei zugleich die eigenen Grenzen zu respektieren. Während hierarchische Organisationen oft Belastungen durch Entfremdung und Fremdsteuerung mit sich bringen, besteht die Belastung im Kontext von Selbstorganisation häufig darin, ein gesundes Maß an Engagement zu finden, da wir nicht nur für uns selbst, sondern für das Große Ganze mitverantwortlich sind. 

Selbstnavigation lässt sich nicht aus dem Lehrbuch erlernen. Bücher können Ideen und Inspirationen liefern, neue Dinge auszuprobieren oder Altes loszulassen, aber die Karte ist nicht das Gebiet: Das wirkliche Wachstum geschieht im reflektierten Handeln. Mikropraktiken und Reflexionsroutinen sind dafür gute Container. Strukturelle Unterstützung für den Muskel der Selbstnavigation erfordert, ihnen Raum und Zeit zu widmen und sie gegen die gierigen Wellen des Tagesgeschäfts zu verteidigen.

Resonanz in Beziehungen

(Tief zuhören. Empathie und Neugierde kultivieren. Mit dem Herzen hören)

Die Bedeutung von Resonanz für jegliche soziale Praxis liegt auf der Hand. Für die Praxis der Selbstorganisation ist sie besonders relevant: Die adaptive Qualität von selbstorganisierenden Systemen zielt auf die laufende Anpassung an ihrer Umwelt. Zur Umwelt gehört dabei das externe Feld, aber auch die interne Dynamik, die die Mitglieder einbringen. Die wirklich spannenden Dinge in diesen beiden Bezugswelten liegen unsichtbar unterhalb der Wasserlinie. Auf kollektiver Ebene bedeutet Resonanz, solch verborgene Dynamiken zu erspüren.

Auf der Beziehungsebene liegt Resonanz nahe bei Empathie. Empathie ist die Fähigkeit, sich in eine andere Person einzufühlen und ihre emotionale Situation zu erleben. Sie kann zum Beispiel durch Perspektivenübernahme kultiviert werden: in die Schuhe des Gegenübers schlüpfen, Austausch und Feedback üben. Ein weiterer Weg ist das tiefe Zuhören, das etwa in der dialogischen Praxis und in der gewaltfreien Kommunikation verankert ist.

Souveränität in rauhen Gewässern

(Abweichende Meinungen vertreten; Die produktive Kraft von Spannungen genießen; Entschlossen verhandeln; Wo nötig Nein-Sagen)

Teams mit einem ausgeprägten Wertehintergrund der „People Positivity“ kultivieren oft ein Dogma der Harmonie: „Ich stelle deine Idee nicht in Frage und du stellst meine nicht in Frage“. Eine solche Harmonie verringert das Potenzial kollektiver Kreativität und führt zu Schwächen in der Entscheidungsfindung: Ideen und Beiträge werden einfach unter einem breiten Dach zusammengefasst, anstatt kritisch geprüft und ausgewählt oder zusammengeführt zu werden. Unterschiede in den Standpunkten und Interessen werden mit einer Decke der Wertschätzung überdeckt. Diese Art von Harmonie wird oft mit Alignment verwechselt: „Wenn wir uns nicht reiben, müssen wir wohl eine gemeinsame Ausrichtung haben“. 

Die Praxis der Selbstorganisation betrachtet Spannungen dagegen als notwendigen Treibstoff für Entwicklung. Holacracy definiert sie etwa als „Lücke zwischen der aktuellen Realität und einem wahrgenommenen Potenzial“. Die regelmäßige Bearbeitung von Spannungen hilft dabei auch, zu verhindern, dass sie zu manifesten Problemen und Konflikten eskalieren. 

Souveränität in Rauen Gewässern erfordert ein fruchtbares Maß der Einlassung auf solche Spannungen. Stell Dir vor, Du gehst spazieren und finden einen Haufen Schutt auf deinem Weg. Bei einem einmaligen Ausflug wirst Du den Haufen wahrscheinlich weder wegschaufeln noch über ihn hinwegklettern. Je nach Stimmung bleibst Du vielleicht kurz verwundert oder verärgert stehen und umrundest dann das Hindernis, um zu Deinem Ziel zu kommen. Handelt es sich hingegen um einen Weg, den Du täglich gehst, liegt es nahe, dass Du den Haufen wegräumst, um dauerhaft Zeit und Energie zu sparen. Mit Konflikten und Spannungen verhält es sich ähnlich: Die einmaligen Kleinigkeiten wie auch einige Spezial-Dramen können wir einfach umschiffen. Warum Energie auf etwas verschwenden, das uns von unserem Ziel ablenkt? Die Spannungen, die uns dagegen immer wieder in die Quere kommen, sollten wir angehen, ganz gleich, wie unbedeutend oder massiv sie sind. 

Der Weg zur Souveränität in Rauen Gewässern, ist schlicht, aber nicht einfach: Übe, mit Spannungen umzugehen, ohne Dich von ihnen verrückt machen zu lassen. Initiiere Spannung in einem sicheren sozialen Umfeld und bleib bei ihr, ohne sie zu entschärfen. Sei kritisch, sei wütend, sei unhöflich, wenn es sein muss. Übe Einspruch, sag Nein. Achte auf Deine Empfindungen, Deine körperlichen und geistigen Reaktionen. Mach Dir Notizen über Deine täglichen Workarounds und entscheide Dich, welchen dieser Umwege Du loswerden willst.  Und dann tu es einfach und sieh, wie das Leben danach weitergeht.

Bewusstheit fürs lebendige System 

(Muster erkennen und Dynamiken beobachten. Vereinfachungen misstrauen. Das große Ganze im Blick behalten. Verstehen, wie auch kleine Dinge den Purpose nähren. Aufmerksam sein für emergente Ordnungen)

Komplexitätsbewusstsein (Complexity Consciousness) ist eine der Metakompetenzen unserer Zeit. Sie bezeichnet die Anerkennung der nicht-linearen dynamischen Qualität sozialer Prozesse und die Fähigkeit, mit dieser Dynamik umzugehen, was wiederum Flexibilität, Geduld und Ambiguitätstoleranz erfordert. Die besondere Relevanz dieses Muskels für die Navigation selbstorganisierender Systeme hat mit deren spezifischer Mischung aus formellen und informellen Settings zu tun.

Bemühen wir hier eine weitere Analogie: Beim Autofahren steuern wir ein kompliziertes System, das auf einer Mechanik erster Ordnung mit einigen selbstregulierenden Rückkopplungsschleifen aufbaut. Natürlich braucht es eine gewisse Ausbildung, um Start- und Steuervorrichtungen zu bedienen, um den Unterschied zwischen Kupplung und Bremse zu kennen und um zu wissen, welche Anzeigen im Auge zu behalten sind. Wenn das Auto eine Panne hat, ist es gut zu wissen, welcher Mechaniker weiterhelfen kann. Das war’s eigentlich schon. Der wirklich knifflige Part ist nicht das Auto, sondern der Verkehr. Sich souverän durch dichten Verkehr zu bewegen, erfordert mehr als nur ein bisschen Training. Verkehr ist ein komplexes System, er ist lebendig und unberechenbar. Er besteht aus dynamischen Interferenzen und selbst-verstärkenden Rückkopplungsschleifen, die plötzliche Veränderungen bewirken können. Sich in diesem Umfeld zurechtzufinden, erfordert Erfahrung, Achtsamkeit und mitunter beherztes Handeln.

Organisationen vereinen diese beiden Qualitäten: Während Strukturen und Prozesse kompliziert sind, bilden die sozialen Interaktionen in ihnen eine komplexe zweite Realität ab. Je mehr wir den Schwerpunkt auf informelle Dynamik statt auf formale Strukturen und Prozesse legen, desto mehr müssen wir uns auf diese komplexe Natur der Organisation einstellen. Selbstorganisierende Systeme beruhen auf einem hohen Maß emergenter Dynamik – in dem Sinne ist in ihnen die Qualität des Verkehrs prägender, als die des Autos.

Wie lässt sich eine Bewusstheit fürs Lebende System aufbauen? Das Einlassen auf Komplexität erfordert zunächst eine spezielle Art des Sehens: Sie lebt vom fließenden Wechsel zwischen der konzentrierten Beobachtung von Details und der offenen Wahrnehmung von Mustern. Was gestern geschehen ist und was jetzt gerade geschieht, ist relevant. Seine Bedeutung erhält es aber vor allem durch dem Kontext dessen, was immer wieder geschieht. 

Schließlich ist es auch hilfreich, Klarheit über unsere Modelle zu bewahren. Der Komplexität unserer sozialen Welt gerecht zu werden, ist praktisch unmöglich: wir brauchen Modelle und Abkürzungen, um handlungsfähig zu bleiben. Wenn wir vergessen, dass wir diese kognitiven Hilfsmittel nutzen, verwechseln wir unsere Vereinfachungen mit der Realität.

Einbindung im Groove 

(Alignment entstehen lassen. Die kollektive Dynamik und die eigene Rolle darin spüren. Sich synchronisieren. Swing ins Spiel bringen)

Der letzte Muskel ist der kniffligste und umfassendste. „Groove“ ist ein nebulöses Konzept das schwer zu operationalisieren ist (können Algorithmen miteinander grooven?). Die erste Zutat zum Groove ist „Alignment“ – eine Qualität, die sich vielleicht am besten mit „gemeinsamer Ausrichtung“ übersetzen lässt; die zweite ist lebendige Dynamik, oder auch „Swing“.

Eine Lebendige Ausrichtung bedeutet nicht, dass alle in dieselbe Richtung schwimmen oder ein gemeinsames Ziel haben – es geht darum, dass das übergeordnete Ziel mit dem Ziel jedes Einzelnen zusammenpasst. Was genau ist der Unterschied? In manchen Kollektiven herrscht Nivellierung vor: Alle folgen einer gemeinsamen Richtung, denken, gleich, fühlen gleich – es gibt keine individuellen Absichten, da jede:r Einzelne seine/ihre Agenda ins Kollektiv projiziert. Im Gegensatz dazu müssen für gelingende Selbstorganisation die individuellen Agenden aufgeladen sein und dynamisch auf das gemeinsame Ziel ausgerichtet werden (Spotify hat hierfür den Begriff der „Aligned Autonomy“ geprägt). Die leichten Divergenzen zwischen der individuellen und der kollektiven Zielebene und die daraus entstehenden Spannungen sind Motor von Entwicklung. Wenn sie keinen Raum haben und nicht zelebriert werden, ist das System zwar ausgerichtet, aber nicht lebendig. 

Eine dynamische Einbindung in den Groove zu entwickeln, ist so anspruchsvoll, wie ein guter Jazzmusiker zu werden. Es erfordert ein feines Gehör, einen offenen Geist und eine Beherrschung den eigenen Rollen; in gewissem Sinne baut dieser Muskel auf den Vorhergehenden auf: auf der Fähigkeit zu Vertrauen, der Präsenz, der Selbstnavigation und allen anderen. Und wie alle Muskel wächst er vor allem mit der Erfahrung der Praxis.

Die Liste zeigt: Es gibt Dinge, zu denen wir fähig sind, die wir aber in unserem sozialen Alltag nicht praktizieren, so dass die entsprechenden Fähigkeiten verkümmern. Wenn wir diese Muskeln wieder entdecken, können wir sie trainieren und zurückerobern. Jeder Muskel hat dabei eine individuelle und eine kollektive Qualität. Ich muss lernen präsent zu sein und Impulsen zu folgen, und wir als Team müssen lernen, das Beste aus diesen Impulsen zu machen. Ich muss Praktiken der Selbstnavigation entwickeln, und wir als Team müssen Räume schaffen, die diese Praktiken unterstützen. Sowohl die individuelle als auch die kollektive Qualität kann durch ein Training initiiert werden, das die entsprechenden Muskeln anregt. SOCIUS arbeitet an der ersten Serie solcher Trainingseinheiten.

In diesem Sinne: Stay tuned, wir sehen uns im Fitnessstudio!

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SOCIUS brief Mai 2022

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Change von Kotter/Akhtar/Gupta

Change von Kotter/Akhtar/Gupta

Change

Wie Unternehmen in unübersichtlichen Zeiten herausragende Ergebnisse erzielen

von John Kotter, Vanessa Akhtar und Gurav Gupta

Erstaunlich eigentlich, dass es in den 2020er Jahren noch möglich ist, ein Buch mit dem schlichten Titel „Change“ auf den Markt zu bringen. Aber Kotter ist nicht irgendwer, sondern ein Altmeister und Vordenker in Sachen Führung und Change und hat mit Büchern wie „Leading Change“ (1996), „A Sense of Urgency“ (2008) und „Accelerate“ (2019) immer wieder einflussreiche Impulse ins Feld gebracht.

Die Ausgangsfrage von Change ist: Wie verhindern wir, dass Menschen und Systeme in eine Schockstarre verfallen, wenn die Zumutungen der VUCA Welt mit den vorprogrammierten Verunsicherungen von Veränderungsprozessen zusammen kommen?

Kotter, Akhtar und Gupta bauen in diesem Buch eine inspirierende Brücke von der Neurobiologie zur Dynamik sozialer Systeme. Angelpunkt ist dabei die Unterscheidung zweier Modi: „Survive“ und „Thrive“ (in Deutsch vielleicht etwas unbeholfen „Überleben“ und „Gedeihen“).

Der Survive Modus reagiert auf Gefahr. Hat das Survive Radar eine Bedrohung in unserer Umwelt ausgemacht, aktiviert es das sympathische Nervensystem: Adrenalin wird ausgeschüttet, Herzschlag, Blutdruck und Atmung werden erhöht um den Körper auf Kampf oder Flucht vorzubereiten. Der mentale Fokus ist eng und scharf auf die Bedrohung konzentriert. Im Normalfall wird diese Körperreaktion mit dem Abklingen der Gefahr zurückgefahren – im Falle anhaltender Bedrohungen nistet sie sich aber als Stress ein, der Energie und Konzentration saugt und schließlich zu einer Unfähigkeit führt, den Herausforderungen kompetent zu begegnen: Kotter und Kolleg:innen nennen dies die „überhitzte Überlebensreaktion“.

Während Survive also für Gefahrenabwehr und schnelle Problemlösung zuständig ist, ermöglicht Thrive Innovation, adaptives und co-creatives Handeln. Das Thrive Radar ist ständig auf der Suche nach Chancen. Es kontrolliert das parasympathische Nervensystem, das ein ganz anderes Set von Botenstoffen und Körperreaktionen auslöst: Im Thrive Modus kommt es statt einer plötzlichen Energiespitze zu einer graduellen und stetigen Aktivierung, die als positive Erregung oder auch Leidenschaft erlebt wird. Der Fokus wird weit statt eng, es erfolgt eine kreative Annäherung an die wahrgenommene Chance.

Im strategischen Alltag von Organisationen sind beide Modi relevant: Sowohl Gefahrenabwehr und Problemlösung als auch Innovation sind notwendig für das nachhaltige Überleben von Systemen. Dass der überhitzte Survive Modus die Grunddynamik vieler Veränderungsprozesse in Organisationen ausmacht, hat dabei verschiedene Gründe:

Zunächst ist die Veränderungsrate der Umwelt mittlerweile bedeutend höher als die Veränderungsfähigkeit klassischer Unternehmen. Die Notwendigkeit kontinuierlicher Anpassung produziert in Anbetracht des modernen Organisations-Paradigmas von Effizienz und Zuverlässigkeit Stress. Agilität ist dabei nach Ansicht der Autor:innen nicht die alleinige Antwort: Gefragt ist ein „duales Betriebssystem“, das eine stabile Konfiguration und eine dynamische Netzwerkstruktur kombiniert (anderswo wird das als „Ambidextrie“ beschrieben).

Zugleich wird Change – ganz im Sinne der von Kotter selbst vor Jahren auf die Bühne gehobenen „Urgency“ (Dringlichkeit) – meist von einer „brennenden Plattform“ aus kommuniziert („Wenn wir uns nicht verändern, gehen wir unter“). Um neben dem notwendigen Survive Modus auch Thrive zu aktivieren, ist ein Fokus auf Chancen wichtig, der das ganze System einbindet und aktiviert.

Zur Sicherung einer fruchtbaren Balance von Survive und Thrive geben die Autor:innen fünf Empfehlungen:

  1. Identifiziere Barrieren und Trigger: Was passiert gerade in der Organisation? Welche Muster von Survive und Thrive schlagen an, was sind die jeweiligen Auslöser? Was blockiert eine breitere Aktivierung und Übernahme von Führungsverantwortung?
  2. Bring Dich selbst in Balance: Was brauchst Du als Verantwortliche:r oder Führungskraft, um dich im gesunden Korridor zwischen Survive und Thrive zu regulieren? Welche Chancen und Leidenschaften kannst Du in den Fokus nehmen, welche Stressoren und Survive Trigger kannst du abbauen?
  3. Flute die Organisation mit chancenorientierten Denk- und Austauschräumen: Wie können wir den defizitorientierten Blick abbauen und das Denken in Möglichkeiten befördern? Wie können wir möglichst viele Beteiligte in dieses Denken einbinden?
  4. Reduziere Survive-Induzierenden „Noise“: Welche alltäglichen Stressoren – etwa Sanktions- und Performancedruck, rigide Normierungen oder auch Erwartungsunsicherheiten – können wir abbauen? Wie können wir verhindern, das durch dieses Grundrauschen zusätzliche Belastungen zu einer überhitzten Survive Reaktion führen?
  5. Feiere kleine Erfolge: Wie können wir über positive Erlebnisse den Thrive Kanal anreichern? Wie entsteht Momentum aus den kleinen Schritten der Annäherung an Chancen?

Während die Grundidee des Buches – wie so oft – schnell erzählt ist, arbeitet sich der Hauptteil von Change recht umfassend durch verschiedene  Anwendungsarenen – Strategieprozesse, Digitaisierungskampagnen, Projekte zum Kulturwandel, Fusionen und weiteres. Die Fallbeispiele im Buch beschreiben dabei vor allem gescheiterte und gelingende Change-Prozesse großer Unternehmen, die Kotter und seine Kolleg:innen beraten. Zugleich gibt es aber auch spannende Ein- und Ausblicke auf politische und soziale Bewegungen, die die globalen Herausforderungen unserer Zeit angehen.

Für die Ausführungen der fünf Handlungsempfehlungen, die zum Teil recht spannend und bemerkenswert sind,  bleibt am Ende leider nicht mehr viel Raum – hier ist noch offenes Feld zum Weiterdenken. Inspirierend könnte dabei unter anderem ein Blick auf Norma Wong (Move to End Violence) sein, die schon lange vor Kotter und seinem Team mit ihren Betrachtungen zu „Habits of Thriving und Surviving“ inspirierende Impulse für Strategiearbeit und nachhaltigen Aktivismus ins Feld gebracht hat.

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Reflexionen im Schaum

Reflexionen im Schaum

Intense Period Debriefs als Entwicklungsrahmen in Aktions- und Hilfesystemen

 

Krisen – auch die furchtbaren und schmerzhaften – bringen Neues hervor. In der Organisationswelt schlägt sich das in struktureller Arrangements nieder, die zugleich Rahmen und Ausdruck von Entwicklung sind. Zwei Typen solcher transformativen Strukturen sind „Blasen“ und „Schäume“ (eine tiefere Betrachtung dieser von Peter Sloterdijk auf die Bühne gehobenen Phänomene findet sich hier).

Während in der Covid Krise das Phänomen der Blase dominant war, bilden sich in Reaktion auf den Krieg in der Ukraine aktuell vielfach zivilgesellschaftliche Schaumstrukturen aus. Sie sind die Bugwelle einer systemischen Krisenintervention, deren evolutive Dynamik sich wie folgt nachzeichnen lässt:

Die erste organisierte Antwort auf den Krieg kommt wie so oft bei Krisen aus der Community: Betroffene und Engagierte nehmen Dinge in die Hand, Initiativen und Bündnisse bringen in spontanen Aktionsformen erste Lösungen und Unterstützungsangebote auf die Straße. In dieser ersten Welle formieren sich die Aktionsblasen zu Schäumen, die teilweise redundant und improvisiert, in der Regel aber in beeindruckender Weise funktional sind.

In der zweiten Welle klinken sich die professionellen Hilfsorganisationen und Stiftungen ein, die anhand einer Sichtung des Feldes nach Best Practices und Hebelstellen suchen. In konzertierten Aktionen bauen sie neben ihren eigenen operativen Programmen vielversprechende Arrangements der ersten Stunde aus und vernetzen sie weiter. Diese zweite Welle ist das Adapterstück zwischen den Schäumen und der institutionalisierten Ordnung.

Als Drittes treten staatliche Akteure ins Feld, die beim Aufbau langfristiger Programme wirkungsvolle Modelle integrieren, verstetigen und skalieren und sie in einen systemischen Rahmen einbinden.

Die Dynamik lässt sich wie folgt auf den Punkt bringen: „Der Schaum innoviert, das System repliziert und skaliert auf ein effektives Niveau“. Allerdings zeigen sich in diesem Prozess mehrere Problemzonen:

Auf individueller Ebene ist die Wucht der Begegnung mit der Krise vor allem in Anbetracht der fehlenden strukturellen Unterstützungsarrangements im Schaum oft überwältigend: Engagierte treffen auf Menschen in extremen Problemlagen und arbeiten dabei unter Bedingungen extremer Unzulänglichkeit. Für nachhaltiges Engagement ist es notwendig, Support und Verarbeitungsräume zu schaffen und die Fähigkeiten und gefühlte Legitimation zur Selbstsorge und Selbststeuerung zu stärken.

• Auf Ebene der Schaum-Konstellation ist der Modus der emergenten Evolution zwar effektiv, aber in Anbetracht des großen Handlungsdrucks vielfach zu langsam. Die starke Aktionsorientierung im Schaum verhindert oftmals die bewusste Verbesserung von Abläufen und Konfigurationen. Um möglichst schnell zu guten Lösungen zu kommen, müssen die Akteure regelmäßige Routinen zur kollektiven Selbstbeobachtung und Prozessreflexion ausbilden.

• Auf Ebene der Systemischen Skalierung ist die Identifikation wirkungsvoller Modelle problematisch: Hier müssen funktionierende und wirkungsvolle Schaum-Konstellationen aufgespürt, ihr Modellgehalt entschlüsselt und daraus Templates für weitere Interventionen abgeleitet werden. Oft werden dabei vor allem solche Modelle als Best Practice identifiziert, die in ihrer Interventionsgrammatik kompatibel mit der jeweils eigenen Handlungslogik der Systemakteur:innen erscheinen. Viele wertvolle Modelle – vor allem die, die im Kleinen innovative Ansätze entwickelt haben – werden übersehen.

Ein Tool, das alle drei Problemzonen adressieren kann, ist das Intense Period Debrief (IPD). Im Rahmen von IPDs werden im Anschluss an dichte Aktionssequenzen in kurzen Team-Reflexionen von Beteiligten Wirkungsbeobachtungen sowie Erlebnisse und Erkenntnisse über den Aktionsprozess abgefragt. IPDs kommen v.a. im Rahmen von Kampagnen im Advocacy Bereich zum Einsatz, werden aber auch in der Katastrophenhilfe genutzt und sind den After Action Reviews aus dem militärischen Kontext verwandt.

Das folgende IPD Format ist als Teil einer systematischen Reflexions- und Begleitstruktur für Engagement in Hilfskontexten konzipiert. Es kann in moderierten Team-Interviews eingesetzt werden (45 Minuten, 3-5 Personen, online oder live) und hat drei Ebenen:

  1. Zentrale Ebene: Identifikation von Lessons Learned und Verbesserungspotentialen im Interventionsgeschehen

Was waren Erfolge und Magic Moments, wie kam es dazu und welches Potential zeigt sich in ihnen? Wo sind Reibungen – was kann in Ansatz und Abläufen schnell und konkret verbessert werden?

  1. Verweis auf individuelle Ebene: Austausch und Check zu individuellen Belastungssituationen und Unterstützungs-Bedarfen (von hier ggf. Referral zu individuellen  psychologisch fundierten Unterstützungsangeboten

Wie geht es Dir in diesem Moment? Und wie geht es Dir übermorgen, wenn es so weitergeht? Was brauchst Du, um gesund zu bleiben?

  1. Verweis auf System-Ebene: Identifikation wirkungsvoller Lösungen für zentrale Problemstellungen (ggf. Einspeisen in eine Best Practice Modell-Sammlung)

 Was waren Eure größten Herausforderungen? Welche Antworten habt Ihr darauf gefunden, die auch andere interessieren könnten?

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save the date: oe-tag 2022 – Kreative Zerstörung und Erneuerung am 10. Juni!

save the date: oe-tag 2022 – Kreative Zerstörung und Erneuerung am 10. Juni!

+++ Wie katalysieren und begleiten wir Krisen, Exits und Übergänge? +++ Was hat Innovation mit Zerstörung zu tun? +++ Wie funktioniert Trauerarbeit in Organisationen? +++ Was kommt nach dem Ende? +++ Was genau passiert vor der weißen Leinwand?+++

Wer SOCIUS ein wenig kennt, weiss: oe tage sind für uns Weihnachten und Geburtstag in einem. Sie sind der Moment, an dem wir uns erlauben, in unbekannte Tiefen der Organisationsentwicklung  einzutauchen, an dem wir ausnahmsweise mal alle an einer gemeinsamen Sandburg bauen, und in dem wir all die feinen Leute auf einem Haufen treffen, die wir als unsere Community verstehen. Kurz gesagt: der oe-tag ist für uns fachlich wie sozial der Gipfel.

In diesem Jahr findet das  oe-tag Mini Festival an einem sonnigen 10. Juni auf der Floating University in Berlin statt. Im Fokus steht ein ebenso faszinierendes wie zeitgemäßes Phänomen: die Figur der Kreativen Zerstörung und Erneuerung – die Kehrseite des Wachstums im „Ecocycle Modell“. 

 

Das Ecocycle Modell beschreibt den natürlichen Rhythmus des Entstehens und Vergehens in lebenden Systemen. Aus der Ökologie, insbesondere der Resilienzforschung entlehnt, lässt es sich auch auf Communities, Organisationen und Gesellschaften anwenden. Während die klassische Management- und Entwicklungspraxis überwiegend auf Gründung, Wachstum und Reife (den „Front Loop“ des Ecocycles) fokussiert ist – lotet der oe-tag 2022 aus, welche Potentiale für die Organisationsentwicklung in Loslassen und Erneuerung steckt (dem „Back Loop“). 

© Victoria Tomaschko

Zum Hauptgericht des oe-tags lädt wie immer ein reichhaltiges Workshop Buffet ein. Daneben ist ein Parkours von interaktiven Installationen, Forschungsstationen und Pop Up Socials geplant. Wir freuen uns über das gemeinsame Denken in Vorbereitung und bei der Feier des oe tags am 10. Juni!

 
Anmeldung zum oe-tag

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Die transformative Kraft von Schaum

Die transformative Kraft von Schaum

(Auszug aus „On the Transformative Power of Foam”, Actors of Urban Change 2021)

Transformation ist langfristig, tiefgreifend und prozessbasiert, was in dieser Kombination bereits eine gewisse Zumutung ist: Wenn alles Prozess ist, ein ständiges Wandeln, ein dauernder Fluss kreativer Zerstörung und Erneuerung, laufen wir Gefahr, die Orientierung zu verlieren. Als wären die Welt nicht schon dynamisch, komplex und krisenhaft genug, unternehmen wir als Protagonis:innen gesellschaftlicher Transformation auch noch eine Ozean-Querung, deren anderes Ufer zwar besungen aber noch nicht kartiert wurde. Wo es keine Homebase gibt, keinen Schutzraum, in den man sich zurückziehen kann, wird die Welt da draußen zur ständigen Dehnungsarena, in extremen Fällen zu einer Panikzone.

Eine nicht ganz unwesentliche Frage ist also: Was ist ein überzeugender „stabiler Körper“ für die transformative Reise? Wie strukturieren wir Gefäße, die uns vor Krisen und dem Schüttelfrost dauernder Anpassung schützen und uns und die Welt um uns zugleich transformieren? Ist die gute alte „Organisation“ immer noch die beste Antwort? Haben klassische Institutionen die transformative Kraft, die wir brauchen, um unsere „Wicked  Problems“ zu bewältigen? Von der anderen Seite gefragt: Können offene Gemeinschaften und soziale Bewegungen die stabilen Zonen bieten, die wir brauchen, um uns in all dem Wandel zu orientieren und zu regenerieren?

Der strukturelle Aspekt von Transformation ist noch nicht umfassend ausgeleuchtet, aber die Zeiten sind günstig für ein wenig Feldreflexion. Was sonst in vielen Farben schillert, wird in der Krise holzschnittartig überhöht. In der Betrachtung des Covid-Universums stechen zwei transformative Konfigurationen hervor – mit Sloterdijk könnte man sie als „Blasen“ und „Schäume“ bezeichnen. (Die folgenden Überlegungen geben Sloterdijks ursprünglichen Gedankengang zu diesen Kategorien nicht vollständig wieder. Wer daran interessiert ist, dem sei die 2500 Seiten umfassende Sphären-Trilogie empfohlen).

Die „Blase“ folgt der Idee eines geschlossenen Systems, einer Sphäre, die ihr Inneres vor den Stürmen der Welt schützt. Ihre Membran ist darauf ausgelegt, Komplexität zu reduzieren und Impulse von und in die Außenwelt zu begrenzen. Sie ist resilient, nicht weil sie sich anpasst, sondern weil sie sich einkapselt. Die Blase ist ein Raum fokussierter Beziehungen. Ideelle Gemeinschaften und Kollektive haben die Qualität von Blasen – sie werden als Gegenwelten, als „Islands of Sanity“ (Meg Wheatley) errichtet – im besten Fall werden sie zu Orten der Selbstentfaltung und utopischen Inkubation.

Im Gegensatz zu Guerilla-Gardening-Interventionen, die im öffentlichen Raum aufgepflanzt werden und von dort – allen Wettern ausgesetzt – in ihr Umfeld ausstrahlen, ist die Blase ein Gewächshaus für neue Mikrosysteme, dessen transformative Wirkung erst dann realisiert wird, wenn sie in das übergeordnete „Mutter-System“ zurückschwappt. Bis dahin ist ihre Transformation vor allem Selbsttransformation. Viele Initiativen und Organisationen haben in der anhaltenden COVID Brandung die Decke über den Kopf gezogen und in ihren Blasen überwintert. Einige von ihnen kommen mit der Zeit verändert heraus, mit neuen Ideen und Schwung für sozialen Wandel. Andere sind zu Echokammern und selbstreferentiellen Systemen geworden. Blasen haben transformatives Potential, aber nicht jede Blase ist am Ende transformativ.

Der „Schaum“ wiederum gründet auf Verbundenheit und Bewegung. Er setzt sich aus vielen kleineren Blasen zusammen, die sich organisch entwickelnde Konstellationen bilden. Ein Schaum ist ein offenes System. In organisatorischer Hinsicht ist er lockerer als ein Netzwerk, das in strenger Definition einen gemeinsamen Zweck und ein kollektives Handlungsstreben voraussetzt. Jede Blase in einem Schaum bleibt ihre eigene souveräne Einheit und folgt ihrer eigenen Logik. Dennoch ist ein Schaum mehr als nur ein zufälliger Haufen: Er ist eine plurale Sphäre von sich gemeinsam entwickelnden Einheiten, zwischen denen ein gemeinsamer Zweck entstehen kann. In diesem Sinne ist er eher ein Feld als eine Struktur.

Wie die Blase erweist sich auch der Schaum in Krisenzeiten als äußerst widerstandsfähig. Das Geheimnis seiner Resilienz liegt im Unterschied zwischen statischer und dynamischer Stabilität. Während die klassische Vorstellung von Stabilität mit fester Kopplung verbunden ist (die Dinge sind so fest miteinander verbunden, dass sie jedem Sturm trotzen), gibt es eine zweite Art von Stabilität, die mit der Fähigkeit verbunden ist, zu biegen, anstatt zu brechen (Schilfrohr ist zum Beispiel dynamisch stabil). In sozialen Systemen wird dynamische Stabilität durch die Lose Kopplung von Einheiten ermöglicht. Lose Kopplung bedeutet, dass die Teilsysteme nicht durch Weisung und Kontrolle, sondern durch laterale Koordination und Aushandlung miteinander verbunden sind. Anstelle von statischen Regeln und Vorschriften werden sie durch Prinzipien oder kulturelle Normen koordiniert. Wenn eine Organisation oder ein Netzwerk stark konfliktäre Stakeholder-Beziehungen austarieren muss oder sehr turbulenten Umgebungen ausgesetzt ist, hilft lose Kopplung, ihre adaptive Integration zu gewährleisten. Sie verhindert auch Domino Effekte in Krisen, da lokale Auseinandersetzungen und Lösungen zu Lernfeldern für das gesamte System werden und es so unter Stress stärker machen (eine Eigenschaft, die Nicholas Taleb als „Antifragilität“ bezeichnet). Netzwerke sind lose gekoppelt. Schäume sind ultra-lose gekoppelt

Schaum-Strukturen finden sich in organisationalen Ökosystemen und vernetzten Communities. Wo sich ihr gemeinsamer Zweck herauskristallisiert, wird ihre transformative Natur offensichtlicher – aber das ist nur die halbe Wahrheit: Es ist die absichtslose Natur des Schaums, die innovative Lösungen ermöglicht: Schäume verändern ihre Gestalt und passen ihre Konfigurationen in einer Reihe von Evolutionsschritten kontinuierlich an: Blasen treten ein, Blasen treten aus, Blasen verschmelzen und teilen sich, Beziehungen und kollektive Handlungsmuster ändern sich mit der internen und externen Dynamik. Jeder Schaumzustand ähnelt einer „vorläufigen Ordnung“ – einer Anordnung, die endgültig sein könnte, aber auch im nächsten Moment neu konfiguriert werden kann.  Auch wenn es Schlüsselakteure gibt, die den Prozess vorantreiben, kann die Entwicklung nicht auf individuelle Handlungen zurückgeführt werden – sie ist kollektiv und emergent. Und obwohl Schaum von Natur aus vergänglich ist, liegt seine transformative Kraft in genau dieser dynamischen Prototyping-Qualität begründet. Sobald eine Schaumkonstellation sich in Bezug auf eine Problemstellung als „funktionierend“ erwiesen hat, wird sie zur Blaupause für die weitere Entwicklung des Systems. Die beteiligten Blasen (Initiativen, Organisationen, Communities) müssen nicht unbedingt den langfristigen Betrieb der Funktion übernehmen. Sie produzieren lediglich ein Arbeitsmodell, das von etablierten gesellschaftlichen Institutionen kopiert und übernommen werden kann. In evolutionären Begriffen: Der Schaum innoviert, das System repliziert und skaliert auf ein effektives Niveau.

Das Bedürfnis nach Solidarität und gegenseitiger Unterstützung, die offensichtliche Komplexität der globalen Herausforderungen, die Erkundung neuer Kooperationsstrategien und die explosionsartige Zunahme der virtuellen Zusammenarbeit haben während der Corona Pandemie zu Schaum-Bildung im gemeinschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Sektor beigetragen. Die transformative Wirkung dieser Entwicklung, die Einwaage der „TransFOAMation“ ist bereits sichtbar, ihre Nachhaltigkeit muss noch weiter beobachtet werden.

Die Blase und der Schaum sind nur zwei mögliche transformative Konstellationen. Für den sozialen Wandel sind viele unterschiedliche Strukturen erforderlich – einige, die der Reform oder auch die Revolte gegen das etablierte Systems Form geben. Einige, die sich auf die Erschaffung und Freisetzung neuer alternativer Mikrosysteme beziehen. Und schließlich einige, die als Container der Selbsttransformation fungieren. Keine von ihnen wird für sich allein erfolgreich sein, alle sind notwendig, um einen nachhaltigen Wandel mitzugestalten. Forschen wir also weiter!

SOCIUS brief Mai 2022

SOCIUS brief Oktober 2021

Liebe Leser:innen

es sind aufregende politische Zeiten: Wer jetzt ans Ruder kommt, hat in den nächsten Jahren unwägbare Gewässer zu navigieren und muss zugleich wesentliche Weichen für die langfristige Entwicklung der Gesellschaft stellen – nicht ganz leicht, zugleich adaptiv und transformativ zu steuern! 

Auch SOCIUS steht inmitten einer bewegten Zeit, die uns umtreibt und auch fordert – über den Ausstieg von Rudi Piwko aus dem SOCIUS Team haben wir bereits berichtet und umrissen, an welche neuen Ufer es uns jeweils zieht. Für uns ist eine inspirierende Karte für diese neue Etappe bei unserer diesjährigen Entwicklungsklausur in Stolzenhagen entstanden: Dort haben wir Anfang September einen (aus dem U Lab entlehnten) 3D Mapping Prozess durchlaufen. In der Modellierung des SOCIUS Kosmos ist uns dabei sehr deutlich geworden, dass wir uns nicht primär als Veränderungs-Dienstleistung, sondern zunehmend als sozial gestaltende Akteur:innen verstehen. Wir wollen unsere Ideale leben und Organisationen ermöglichen, dies in ihrem inneren Wesen, ihrer Feld-Einbettung und ihrem Wirken in der Welt auch zu tun.

So klar die Gravitation dieser Ideale für uns spürbar ist, so schwer fällt es uns doch, ihnen das passende Gesicht und Namen zu geben. In der Suche nach Beschreibungen für die Welt in ihrem großartigsten Zustand, sind wir zuletzt auf das Konzept regenerativer Kulturen gestoßen. Es beschreibt Haltungen und Praktiken, die nicht nur nachhaltig sind, sondern darüber hinaus ihre jeweiligen Umwelten in eine positive Richtung transformieren. 

Was dieses Konzept als Kompassnadel für die OE und unser Wirken leisten kann, wollen wir weiter erkunden.

Wie immer grüßen wir herzlich und freuen uns über Dialog! 

Andreas Knoth 
Christian Baier, Denise Nörenberg, Joana Ebbinghaus, Julia Hoffmann, Kerstin Engelhardt, Nicola Kriesel, Ralph Piotrowski, Simon Mohn

 

Hier gehts zum ganzen SOCIUS brief

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Inside Out

Inside Out

Wirkungsfelder persönlicher Entwicklung im Projektmanagement

von Gudrun Zipper und Andreas Knoth

Projekte bestehen nicht nur aus Konzepten, Plänen und Häkchen hinter Meilensteinen: jede Zielformulierung gründet auf eine Balanceakt zwischen eigenen und äußeren Ansprüchen; jeder Plan beinhaltet den atemberaubenden Sprung ins Nicht-Planbare; im Untergrund jeder verantwortlichen Rolle lauern Fantasien von Versagen und Heldentum.
In dem Maße, wie Projekte persönlich werden, haben sie das Potential, Spielfeld persönlicher Entwicklung zu sein.

Dieses im Sommer erschienene Buch beleuchtet die Schnittstelle von persönlicher und professioneller Entwicklung im Projektmanagement aus der Perspektive der Begleitung im Training und Coaching. Grundlage dafür bildet die langjährige Tätigkeit von Gudrun Zipper und Andreas Knoth im Lektorenprogramm der Robert Bosch Stiftung.

Die 125 seitige Publikation kann als Hardcopy über den Verlag von MitOst bezogen werden und ist auch im Download verfügbar: https://www.mitost.org/publications/

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Selbstorganisation in der Praxis – das Rollenboard

Selbstorganisation in der Praxis – das Rollenboard

Selbstorganisation ist bekanntlich ein Prozess und kein Modell von der Stange. Umso schöner, dass es Tools und Formate gibt, die selbstorganisiertes Arbeiten in Teams griffig und erlebbar machen. Das Rollenboard sticht hier hervor: es bietet als Mischung aus kollektiver To Do Liste und fluidem Organigramm einen Rahmen zur dynamischen Verteilung von Verantwortlichkeiten. Für uns bei SOCIUS ist es nicht nur fester Teil des Beratungsrepertoires, sondern seit rund drei Jahren als Tool und Praktik treuer Begleiter auf unserer eigenen Reise zur Selbstorganisation. Warum also dieses schöne Tool nicht einmal in die Mitte legen und mit Gleichgesinnten daran laborieren?

Den Reagenzraum halten diesmal Ralph Piotrowski und Andreas Knoth. Das Interesse am Thema ist groß – innerhalb von Minuten nach der ersten Ankündigung trudeln Anmeldungen ein: Viele in der Runde haben eigene Erfahrungen in der Arbeit mit Rollenboards, andere wollen herausfinden, ob es etwas für sie ist. Irgendetwas Darunterliegendes fühlt sich sehr verbunden an – vielleicht die gemeinsame Haltung zum geteilten Verantwortung. Bei 25 Personen ziehen wir den Strich – im virtuellen geht ja eigentlich mehr, aber jenseits der 5×5 Bildkacheln, die auf eine Zoom Seite passen, ist eine kritische Grenze virtueller Gruppendynamik überschritten: Wir möchten in den Laboren gerne gewährleisten, dass wir uns zumindest alle in die Augen schauen können.

Am Anfang stehen wie oft in den Laboren Fragen aus der Runde: 

  • Wie können wir in einer wachsenden Organisation mehr Klarheit und Verantwortung bekommen?
  • Wie motiviere ich Menschen, die schon sehr lange in anderen Fahrwassern arbeiten und wie gebe ich Verantwortung ab?
  • Wie können wir als Team die Potentiale von Selbstorganisation und eigenem Gestaltungsspielraum nutzen und dennoch Verantwortung da klar verorten und einfordern, wo sie „hingehört“.

Am größten ist das Cluster an Fragen zu Übergängen: Wie kommen wir von hier nach da? Und wie verhindern wir dass der Stein wieder zurückrollt? 

Wir folgen Ralph in die Rahmung von Selbstorganisation im Zusammenfließen der Diskurse um Complex Systems Theory, Soziokratie/Holokratie , Reinventing Organisations und Agilität. In allen Kontexten schwenkt das Scheinwerferlicht letztendlich von der Struktur zur Haltung: Mit dem Wegfall äußerer Regulierung braucht es inneres Gerüst und Rüstzeug.  Hier winkt die Erkenntnis, dass das Rollenboard nicht nur Werkzeug, sondern auch Übungsraum ist – ein  Trimm-Dich-Pfad, auf dem die Mühen der Selbstorganisation spürbar und die entsprechenden „Muskeln“ nach und nach in der Praxis gestärkt werden: (Selbst)Verantwortung, Ownership & Agency, Loslassen & Vertrauen, Selbstregulierung, Transparenz sowie Feedback und Kontakt. Die Einführung des Rollenboards markiert schließlich oft einen Kultur- und Musterwechsel. 

Andreas gibt einen Blick in die Praxis von SOCIUS: Wie funktioniert das „Rollenboard“ überhaupt bei uns? Und – noch davor: Wie ist in diesem Zusammenhang das Konzept der „Rolle“ definiert? Eine Rolle ist eine temporäre Funktion einer Person im Organisationsgeschehen. Sie wird beschrieben durch ein Set von Zusammengehörenden Aufgaben (tasks:  „Was ist zu tun?“), Befugnissen (authority: Was kann eigenständig entschieden werden?) und Verantwortlichkeiten (accountabilities: Was soll erreicht/ abgeliefert werden?).  

Das Board bildet diese Funktionen (entweder analog oder digital – etwa auf Trello) in einer Reihe von „Schwimmbahnen“ ab: Jedes Teammitglied hat eine eigene Bahn, auf der seine langfristigen/wiederkehrenden und einmaligen Aufgaben als Kärtchen repräsentiert sind.  Je nach Spielart werden dabei nur Gemeinschaftsaufgaben oder alle Rollen-Verantwortlichkeiten der Person abgebildet. (Noch) nicht vergebene Aufgaben sind in einer eigenen Bahn gesammelt und werden von dort verteilt. Erledigte Aufgaben werden feierlich in den Müll-Eimer überführt. Zu jeder Rollenkarte entsteht im Idealfall eine kurze Gebrauchsanweisung mit den wichtigsten Informationen zur erfolgreichen Ausführung der Rolle.

Die kollektive Praxis des Rollenboards spielt sich in den regelmäßigen Reviews ab  – kurze Runden im Rahmen von Teamsitzungen, auf denen Reibungen und Absprachenbedarfe zu den einzelnen Rollen geklärt werden. 

Soweit so gut? Wer mehr wissen will, kann sich einlesen in der neuen SOCIUS Reihe New Work Essentials – einem kleinen Kanon von Tutorials, der es Organisationen und Teams ermöglicht, eigenständig in Richtung Selbstorganisation zu reisen.  https://newwork.socius.de/

Wer Interesse an einer Fortführung oder Wiederauflage des Labors hat, der melde sich unter fortbildung@socius.de! Bei ausreichender Nachfrage legen wir das Labor gerne wieder auf.

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Strategische Schachzüge in unsicheren Zeiten

Strategische Schachzüge in unsicheren Zeiten

Strategy Pocket Lab

Komplexität ist nicht erst gestern in die Welt gekommen: Soziale Systeme sind ja quasi per Definition vielschichtig und dynamisch, also komplex. Die Grenzerfahrung zwischen Dynamik und Chaos im Corona-Universum macht allerdings das, was im zeitgenössischen Managementdiskurs als „VUCA Welt“ besungen wird (Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity), aktuell sehr greifbar. Das Erleben von Unsicherheit löst dabei widersprüchliche Reaktionen aus – auf der einen Seite Kontrollwahn, auf der anderen Schicksalsergebenheit. Beides scheint in der derzeitigen Situation nicht besonders hilfreich: Wir müssen offen nach vorne schauen, und zugleich leidenschaftlich die Zukunft gestalten. Wir müssen einen Plan haben, aber radikal offen dafür sein, ihn anzupassen. Insbesondere zivilgesellschaftliche Organisationen sind in diesem Spagat gefragt, ihre Prioritäten und Handlungsformen auf die neuen Herausforderungen hin zu kalibrieren.

Das Strategy Pocket Lab stellt ein kompaktes Strategieformat vor, das Elemente der Liberating Structures (K. McCandless und H. Lipmanowicz), der Transformativen Scenario Planung (A. Kahane) und der Chancenorientierten Entwicklung (P. Skat-Rørdam) kombiniert. In einem halbtägigen Workshop werden Entwicklungsbedarfe umrissen, kritische Unsicherheiten und relevante Umweltszenarien untersucht und der nächste strategische „Schachzug“ abgeleitet. Das Lab kann als Live-Workshop oder als Online-Sitzung durchgeführt werden.

Der Ansatz baut auf drei Grundgedanken auf:

1. Strategische Schritte statt Masterplan

Das Lab ist bewusst nicht als einmaliger Bauplatz für den Großen Strategischen Wurf  konzipiert, sondern als wiederkehrendes Element eines kontinuierlichen Strategie-Prozesses  („Strategizing“). In Anlehnung an den agilen Strategieansatz stellt jede Lab-Sitzung (die quartalsmäßig oder häufiger durchgeführt werden) eine Bewegung hin zu einer günstigeren strategischen Position dar. Es geht um ein Herantasten, nicht um ein langfristiges  Vorausplanen. Ein gemeinsamer Kompass – eine Vision oder ein Purpose Statement-  ist dabei Voraussetzung, um agiles „Mission Drift“ zu vermeiden, also das opportunistische Wegdriften vom übergeordneten Daseinszweck. Was dieser Kompass nicht festlegt, ist die Roadmap, also die Wegführung der großen Strategischen Linien. Wie bei einer Schachpartie orientieren sich die strategischen Züge am übergeordneten Sinn, werden aber im Abgleich mit internen und externen Entwicklungen geführt. Das strategische Gesamtbild entwickelt sich erst als dynamisches Muster in der Abfolge der Züge. Dem Ansatz legt damit das Prinzip zugrunde, das Henry Mintzberg in seiner post-funktionalistischen Strategie-Definition beschreibt: „Strategy is a pattern in a stream of decisions“.

2. Adaption und Transformation

Traditionell erforscht die Szenarioplanung mögliche zukünftige Entwicklungen unter der Fragestellung, wie wir uns erfolgreich an diese unterschiedlichen Zukünfte anpassen können. Adaptive Planung ist zweifelsohne zeitgemäßer als ein „Long Range Plan“ alter Schule; sie vernachlässigt jedoch die Möglichkeit, die Zukunft aktiv zu beeinflussen und damit zu verändern. In Anlehnung an Adam Kahanes Ideen zur transformativen Szenarioplanung stellt das Strategy Pocket Lab die Frage, wie wir die Faktoren, die die Szenarien hervorbringen, beeinflussen und so zu einer möglichst positiven Zukunft beitragen können. Da ein transformativer Ansatz Zeit braucht und mit der Entwicklung unserer eigenen Haltung und Beziehungsweisen beginnt, scheint ein Taschenformat für den Anspruch kaum angemessen. Die transformative Haltung muss mithin im gesamten Strategieansatz zum Tragen kommen: Wenn sie neben der adaptiven Fragestellung ihren Platz findet und das strategische Handeln insgesamt mit prägt, wird sie ihre Kraft entfalten. Konkret bedeutet dies, auch die Dinge, die wir für gesetzt halten, in der Strategiearbeit grundsätzlich als gestaltbar zu denken: Ob wir es dann mit unserer Organisation alleine schaffen, sie zu verändern oder nur in breiten Allianzen, ob wir die Rahmen verschieben können oder nur einen kleinen Beitrag dazu leisten, das sie sich weiten, muss sich zeigen.

3. Chancen- und Aktionsorientierung

Der Lab-Prozess umfasst mehrere schnelle Zyklen von Erkundung (Divergenz) und Zuspitzung (Konvergenz) und ist auf ein Commitment zum gemeinsamen Handeln ausgerichtet. Jede Sitzung endet mit einer klaren Entscheidung über den nächsten strategischen Schritt innerhalb eines definierten Fokusbereichs. Der Kern des Labs baut dabei auf der Critical Uncertainties-Methode aus dem Liberating Structures Ansatz auf. Dabei wurde vor alle die oft nicht ganz einfache Verbindung zwischen Szenario-Erkundung und strategischem Handeln im Sinne des chancenorientierten Ansatzes weiterentwickelt: Leitende Fragen sind hier: Welche Chancen bieten sich im Lichte der Szenarien? Welche Handlungsfenster sehen wir, in denen wir Gelegenheiten im Sinne unserer strategischen Ziele ergreifen können? Strategisches Denken und Handlungsorientierung stehen oft in scheinbarer Dissonanz: Strategie impliziert eine übergeordnete Position, einen Standpunkt, der enthoben von den Details des Alltags vorausblickt. Handlungsorientierung impliziert Bodennähe – eine geerdete Haltung, die vom Hier und Jetzt nach vorne orientiert. Anspruch des Strategy Pocket Labs ist es, zwischen diesen beiden Positionen einen fruchtbaren Wechsel zu gestalten.

Wer sollte teilnehmen?

Strategie braucht Perspektivenvielfalt. Sie sollte nicht in geschlossener Vorstands-Runde oder als einsame Führungsroutine entwickelt werden. Natürlich hat jedes Meeting eine optimale Teilnehmerzahl. Für das Strategy Pocket Lab sehen wir die ideale Gruppengröße bei 7-15 Personen, die die Perspektiven der gesamten Organisation repräsentieren (also etwa Programmmitarbeiter*innen, Teamleitungen, Management und Vorstandsmitglieder). Bei größeren Organisationen kann es sinnvoll sein, einen delegierten Strategiekreis zu bestimmen.

Schritte des Labs

Vorbereitung: Welches Feld braucht unsere Aufmerksamkeit?

In einem Abstimmungsprozess vor der Sitzung wird eine grobe Eingrenzung des zu bearbeitenden Felds vorgenommen. Die Strategieentwicklung erfolgt damit nicht für die Gesamtheit der Funktionsbereiche der Organisation, sondern fokussiert auf einen handhabbaren Teilaspekt: etwa die Formatentwicklung in einem Programm, der Ausbau von Personalakquise-Strategien oder die strategische Entwicklung von Partnerschaften in einem Handlungsfeld. Hinweise auf möglichen Handlungsbedarf geben dabei Spannungen und Themen, die wiederholt in Meetings und Arbeitsabläufen auftauchen und zu groß sind, um sie in der täglichen Routine zu bearbeiten. Es kann sinnvoll sein, bei der Identifikation von Fokusfeldern besonders Schnittstellen in den Fokus zu nehmen, in denen die Organisation in direktem Kontakt mit ihrer Umwelt steht. Für den Workshop wird in der Regel ein internes Moderationsteam bestimmt, das den Prozess methodisch anpasst und vorbereitet.

1. Review – Was ist und was könnte sein?

Die Sitzung beginnt mit einer Runde zu Perspektiven auf das fokussierte Feld: Warum braucht dieser Bereich gerade jetzt unsere Aufmerksamkeit? Was ist Ziel des Strategie-Treffens (ein bestimmtes Problem lösen, Prozesse koordinieren, eine Chance ergreifen, wieder in Schwung kommen…)? Im nächsten Schritt findet in Kleingruppen ein visionärer Austausch zum höchsten Potenzial des Feldes statt: Was ist die spannendste und inspirierendste Zukunft, die wir uns in Bezug auf diesen Bereich vorstellen können?

Beide Schritte fehlen in vielen Ansätzen der Strategie-Arbeit. Sowohl die Eingrenzung des Strategiefelds (die oft als unzulässige Trivialisierung und Zumutung für dem systemischen Blick empfunden wird) als auch das positive Framing bringen dabei eine besondere Qualität in den Prozess: eine fokussierte Handlungsenergie.

2. Systemische Analyse – Was sind die kritischen Unsicherheiten?

Der zweite Teil des Labs beginnt mit einem Brainstorming über Faktoren, die einen starken Einfluss auf das gewählte Entwicklungsfeld haben. Dabei werden neben organisationsinternen Faktoren Aspekte aus unterschiedlichen STEP-Kategorien einbezogen (sozio-kulturelle Faktoren, technologische Faktoren, ökonomische Faktoren und politische Faktoren). Die Faktoren sollten konkret, bodennah und nicht zu global gefasst werden.

Aus der Liste werden durch Punkteverfahren zwei Faktoren priorisiert, die zugleich besonders unvorhersehbar sind und einen hohen Einfluss auf die Arbeit im Fokusbereich haben (in der Sprache der Liberating Structures sind dies „Critical Uncertainties“). Die beiden Faktoren spannen die Achsen des nun zu bildenden Szenario Feldes auf, das in der Kombination der Ausprägung (z.B. hohe Regulierungsdichte vs. geringe Regulierungsdichte auf der einen Achse und steigendes Infektionsgeschehen vs. langsames Absinken des Infektionsgeschehens auf der anderen Achse) vier mögliche Szenarien abbildet. Die Gruppenmitglieder markieren schließlich mit Spielfiguren, wie sie die aktuelle Situation und die in 12-18 Monaten wahrscheinlichste Entwicklung im Szenario Feld einschätzen.

3. Erkundung der Szenarios – Was liegt vor uns?

In dritten Teil des Labs werden alle plausiblen Szenarien (also alle Szenarien, die im vorangegangenen Schritt als denkbar eingeschätzt wurden) weiter erkundet. Hierzu erörtern Kleingruppen zwei Fragenkomplexe:

  • Szenariobeschreibung: Wie sieht unser Feld in diesem Szenario aus? Was erleben wir und die Menschen, mit denen wir interagieren? Was wäre ein treffender Titel für das Szenario? (hier bieten sich z.B. Anklänge an Film- und Buchtitel an). Es ist wichtig, an dieser Stelle kein Schwarz-Weiß-Bild zu malen, auch wenn die Polaritäten der Faktoren manchmal Best-Case- und Worst-Case-Szenarien nahelegen. Es geht auch um Grauzonen, um das Gute im Schwierigen und das Schwierige Guten.
  • Strategische Optionen: Wie wirkt sich diese Realität auf unsere Arbeit aus und was können wir tun, um auf die Chancen und Risiken in diesem Szenario vorbereitet zu sein? Was müssen wir tun, um uns auf diese Zukunft einzustellen? Was können wir tun, um zu den positiven Aspekten in diesem Szenario beizutragen?

Die Szenariobeschreibungen und strategischen Optionen werden geteilt und mit Resonanz versehen. Den Abschluss dieses Teils bilden ein paar Minuten der stillen Reflexion, um sich persönlich mit dem Gehörten auseinanderzusetzen.

4. Strategisches Handeln – Was ist unser nächster Schritt?

In neu gemischten Gruppen werden nun mögliche strategische Schritte diskutiert, die in den verschiedenen Szenarien Sinn machen. Was sind die größten Risiken, gegen die wir uns absichern sollten? Welches sind die größten Chancen, auf die wir uns vorbereiten sollten? Was müssen wir tun, um diese Chancen besser nutzen zu können? Was ist unser nächster Schritt? Abschließend werden die Vorschläge im Plenum anhand von zwei „Währungen“ bewertet: Strategiepunkte zeigen an: „Diese Aktion halte ich im Lichte unseres strategischen Ziels für besonders sinnvoll“. Energiepunkte zeigen an: „Für diese Aktion bin ich persönlich bereit, Energie zu investieren“. Idealerweise sollten Vorhaben vereinbart werden, die in beiden Währungen Punkte erhalten haben, die also als sinnvoll und unterstützenswert eingestuft werden. Die Vereinbarung mündet in der Beauftragung einer Task Force, die die geplanten Aktivitäten ausarbeitet und ihre Umsetzung in die Wege leitet. 

Das Lab endet feierlich mit einer Runde von Toasts auf die Goldene Zukunft.

Das Strategy Pocket Lab (pdf zum Download) wurde von Mitgliedern des Civil Society Toolbox Core Teams in Zusammenarbeit von SOCIUS Organisationsberatung gGmbH und MitOst e.V. mit Unterstützung des IAC/Bosch Alumni Network entwickelt. Die Methode kann im Rahmen der Creative-Commons-Prinzipien genutzt und angepasst werden. Vorlagen für Miro sind über SOCIUS zugänglich.

 

Quellen

 

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SOCIUS labor Bericht: Positioniert im Dialog

SOCIUS labor Bericht: Positioniert im Dialog

Dilemmata zeichnen sich dadurch aus, dass sie eigentlich nicht sauber entscheidbar sind. Auch da wo sich griffige Formeln in scheinbarer Synthese finden („Wollen Sie schlanke Beteiligungsprozesse“?), wütet das Dilemma unter der Decke meist fröhlich weiter. Kein Wunder also, dass eine dilemmatische Themen-Aufhängung auch ein wenig Dehnungsschmerz hervorruft. Und welchen besseren Rahmen gäbe es dafür als ein SOCIUS labor, eine gemeinsame Forschungsreise, moderiert von einer kundigen Themengeber:in – hier Britta Loschke in der Frage: Wie können wir als Facilitator:innen Offenheit im Dialog befördern und zugleich klare Grenzen an Positionen ziehen, die uns wichtig sind?

​Die Herleitung des Themas beginnt mit einer irritierenden Erfahrung: mit Verweis auf Echokammern – überschneidungsfreien Räumen, in denen Milieus in ihrem eigenen kommunikativen Saft schmoren  – wird die Notwendigkeit abgeleitet, alle inneren Wahrheiten (Werte, Überzeugungen) fluide zu machen, die einer Offenheit für das andere Ende des Meinungsspektrums im Wege stehen. Der Bogen dieser Eröffnung spannt sich bis zur Frage, welche gesellschaftlichen Polarisierungen eigentlich problematisiert werden, welche nicht und wer davon was hat.

Von hier aus geht es daran, im  Austausch eine eigene dilemmahafte Fragestellung, eine „Wicked Question“, zu formulieren und weiter zuzuspitzen. Die geteilten Fragen sind ein besonderer Schatz dieses Nachmittags. Jede einzelne von ihnen öffnet eine Tür in ein spezielles Spiel- und Spannungsfeld des Dialogs. Etwa:

  • Wie kann ich mit jemand in ein konstruktiv wirksames Gespräch kommen, mit dem ich keine gemeinsame Realität und damit keine „Bausteine“ für eine Konstruktion (eine konkrete Lösung) habe?
  • Wie kann ich damit umgehen, dass rechte/konservative Gruppen linke Strategien und emanzipatorische Forderungen kapern und dabei gleichzeitig Entsolidarisierung herausfordern?
  • Inwiefern bedeutet, dass ich einer mir inakzeptablen / menschenverachtenden Position zuhöre, bereits eine Anerkennung derselben?

Während der erste Teil des Labors Loschke’esk wohlstrukturiert in den Schritten der „Liberating Structures“ abläuft, geht es im zweiten Teil der Wanderung ins offene Feld, in einen dialogischen Austausch zur Frage,„Welche Wege, Inspirationen und Ansätze  begegnen uns, die eine Antwort auf die Dilemmata darstellen könnten?“.  Hier wird deutlich, wie weit und offen die Fragestellung tatsächlich ist: Es fällt schwer, die vielfältigen Stränge und Erfahrungen im Thema stringent zu verknüpfen. Zwischen den Zeilen ist ein Unbehagen spürbar: Von welcher Richtung nähern wir uns dem Ding?

Wieder zwängen sich die zwei Seiten auf: Auf der einen Seite lautet die Frage: Wie können wir eine klare Haltung praktizieren , obwohl  unsere Rolle die der „allparteilichen“ Dialoghüter:in ist? Wo und wie setzen wir Grenzen? Wie gehen wir als Moderation souverän mit einem „Klops“ um, wenn der plötzlich in der Mitte liegt?

Im Laufe des Gesprächs entstehen erste Antworten:  Früh klare Signale , die problematisches Verhalten (nicht Personen an sich) in die Grenzen weisen. In der Rahmung von Dialogprozessen kann  der Bezug auf einen Wertekonsens, nicht zuletzt die Menschenrechte, hilfreich sein. Vielleicht gibt es auch eine Begleitungsrolle, die über die der Dialog-Hüter:in hinaus geht. Der Verweis auf Konzepte wie Intersektionalität lenkt den gemeinsamen Blick auf die  Komplexität und Existenz gesellschaftlicher Strukturen über das Individuum hinaus.

Von der anderen Seite fragt es sich: Wie können wir im Dialog bleiben obwohl wir eigene und vielleicht auch grundlegend konträre Positionen haben? Hier lautet das Schlüsselwort der Diskussion: Empathiefähigkeit. Die „Erweiterung der Empathiehorizonts“ läßt sich von buddhistischen Praktiken über die „Suspension“ der Dialogpraxis nach Bohm und Isaacs bis hin zur Bedürfniserkundung der Gewaltfreien Kommunikation nachvollziehen. Der Fokus auf die persönliche Ebene kann dabei ein Weg aus der Polarisierung in vorgefertigten Positionen sein, der auch seine Tücken hat. Im Sinne der Intersektionalität sitzt jede:r teils auf der einen und teils auf der anderen Seite der Mehrheitsgrenze – aber die Achsen haben bei weitem nicht alle die gleiche Durchschlagskraft. Bei der Diskussion um Charles Eisensteins Artikel zur Symmetrie der psychologischen Untergründe der Mainstream-Entfremdung am linken und rechten Rand der US Amerikanischen Gesellschaft und der quasi nebenbei-Übertragung in der deutschen Kontext stockt kaum spürbar die Luft im virtuellen Raum.  Manchen fällt das gar nicht auf, manche schlucken eine kleine Kröte hinunter.

Es wird deutlich, dass das Thema in einem offenen Dialog an genau die Grenzen gerät, die es zu bearbeiten sucht. Im Nachgang ist uns klar: hier wäre eine Suspensions-Ebene spannend, eine Metaebene im Dialog: was passiert gerade mit uns? Welche Kontexte sprechen mit? Wo sind wir gefangen in Imperativ des Dialog oder in der Abgrenzung?

Und schließlich: Wie geht es uns mit den Widersprüchen darin?

Es bleiben einige Knoten im Kopf. Also: Mehr davon! Wir bleiben dran.

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SOCIUS brief Mai 2022

SOCIUS brief Februar 2021

 

 

Den ganzen SOCIUS brief im Februar 2021 gibts hier.

 

SOCIUS hört: Leadermorphosis

SOCIUS hört: Leadermorphosis

Heute mal keine Buchrezension, sondern eine Empfehlung zum Hören: mein absoluter Favorit unter den OE Podcasts ist „Leadermorphosis“ mit Lisa Gills. Die Sammlung umfasst über 50 einstündige Gespräche mit Vordenker*innen und Pionieren der Selbstorganisation. Es sind alte Bekannte dabei – etwa Brian Robertson, Margaret Wheatley oder Frederic Laloux – aber auch neue Stimmen aus der Forschung und Praxis der „emerging world of self-management and progressive organisations“. Im Mosaik der Beiträge wird deutlich: Selbstorganisation ist weit mehr als eine Modeerscheinung – sie ist eine weltweite lebendige Bewegung. https://leadermorphosis.co

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Strategische Schachzüge in unsicheren Zeiten

Strategy Pocket Lab

Strategische Schachzüge in unsicheren Zeiten

Die VUCA Realität ist nicht erst gestern in die Welt gekommen, das Grenzfeld von Komplexität und Chaos im Corona Universum macht sie aber gerade sehr greifbar. Die Erfahrung dieses Feldes löst widersprüchliche Reaktionen aus – auf der einen Seite Kontrollwahn auf der anderen Schicksalsergebenheit. Beides scheint in der aktuellen Situation nicht sonderlich hilfreich: Wir müssen offen nach vorne blicken, aber zugleich leidenschaftlich die Zukunft gestalten.

Das Strategy Pocket Lab stellt ein kompaktes Strategie-Format vor, das Elemente der Liberating Structures, des Transformative Scenario Planning und der Chancenorientierten Entwicklung vereint. In einem halbtägigen Workshop erfolgt eine Einschätzung des Entwicklungsbedarfs, die Untersuchung relevanter Umweltszenarien und die Ableitung des nächsten strategischen „Moves“. Das Lab ist dabei bewusst nicht als einmalige Entwicklung einer „Grand Strategy“ sondern als regelmäßige Übung im „Strategizing“ angelegt. Es kann als Präsenzworkshop, oder – unterstützt durch Miro Templates – online durchgeführt werden.

Im Rahmen des IAC / Bosch Alumni Netzwerks, das die Entwicklung des Pocket Labs als Kooperationsprojekt von MitOst und SOCIUS finanziert hat, findet am 5.10.2020 von 15-18h eine Einführung für Moderator*innen, Coaches und zivilgesellschaftliche Akteure statt. Bei Interesse freuen wir uns über eine Nachricht an knoth@socius.de

 

 

Die Avatare, die da sind, sind die richtigen!

Die Avatare, die da sind, sind die richtigen!

Erfahrungen einer Online Akademie mit Virtuellem Open Space

Als Second Life Anfang der 2000er Jahre online ging, traf die Online Plattform den Nerv der aufkommenden Web 2.0 Welle und wuchs in kaum 10 Jahren auf 36 Millionen User an. Vom social strolling über Kultur- und Konsumangebote bis hin zur virtuellen FDP Zentrale gab es hier schnell alles, was eine Nebenwelt so braucht und nicht braucht. Ökonomisch florierten vor allem e-Grundstücksgeschäfte, aber auch Online Casinos und andere Adult Entertainment Angebote. Schließlich endeckten Universitäten und HR Abteilungen Second Life und eröffneten Class- und Boardrooms, um e-learning Seminare und virtuelle Meetings durchzuführen. Für uns Trainer- und Berater*innen damals zumindest eine angehobene Augenbraue wert.

Mit dem Corona-Shut Down erleben virtuelle Welten eine neue Konjunktur. Für uns etwa im Rahmen der Suche nach einer Durchführungs-Alternative für die Frühjahrsakademie im Lektorenprogramm der Bosch Stiftung. Geplant war, Lektor*innen von 19 Unis in China, Thailand, Vietnam und Indonesien in Bangkok zu einer Woche Open Space, Projektwerkstatt und Seminaren zusammenzubringen. Wegen der eskalierenden Ein- und Ausreisebeschränkungen wird kurz vor der Akademie klar, dass eine Präsenzveranstaltung in Thailand nicht in Frage kommt. Was tun? Fünf Tage mit Skype oder Zoom sind ganz schön heftig. Außerdem: Wie macht man einen Open Space im virtuellen Raum?

Die Erinnerung an die hochgezogene Augenbraue kommt hoch – wir aktivieren unsere verstaubten Avatare und schauen uns um im Second Life Universum von 2020. Der erste Eindruck: trotz verbesserter Grafik ist das irgendwie trashig. Der Niedergang der letzten zehn Jahren ist deutlich sichtbar: Wer sich heute einloggt, bewegt sich in einer Geisterwelt. Ab und an huscht mal ein skurril dekoriertes Wesen mit koreanischem Label vorbei, vor allem aber stehen viele leblose Avatare in der Gegend herum. Die User Zahlen haben sich auf unter eine Million zurückentwickelt, Gamer haben mittlerweile interessantere Ufer entdeckt, mit der Bildungswelt hat‘s auch irgendwie nicht gefunkt – die SL Entwickler von Linden Lab haben irgendeinen Zug verpasst. So geht das also leider nicht. Dann fällt uns eine feine Alternative ins Auge: der 3D Learnspace des Online Bildungsanbieters WBS Akademie.

Der Learnspace ist ein virtuelles Akademiegebäude mit Auditorium, Konferenzräumen, Lounge und einer großzügigen Dachterrasse. Die Teilnehmer*innen können sich als Avatare selbständig durchs Haus bewegen und sich in Vorträge, Arbeitsgruppen und spontane Gespräche einklinken – oder sich auch mal mit jemandem in ihr persönliches Büro zurückziehen. In jedem Raum gibt es Medienwände, auf die Präsentationen, Filme oder andere Dokumente gebeamt werden können. Die Verbindung ist primär akustisch (Personen im selben Raum hören sich gegenseitig), zugleich erzeugt die Bewegung der Avatare und die rudimentäre Steuerung von Mimik und Gestik ein Gefühl von echter Begegnung im Raum. Der Zauber dieser Erfahrung nennt sich „Immersion“ – das Eintauchen in ein Medium, bei dem die Virtualität so weit in den Hintergrund tritt, dass eine physische und soziale Präsenz erlebt wird.

Nach ein paar Software-Installations-Hürden und leichtem Murren der Teilnehmenden, eine so ungewohnte Arbeitsform gewählt zu haben, stehen wir am Montag-Morgen vor der „Gruppe“. Das Moderieren im virtuellen Raum ist zunächst herausfordernd: Es fehlt an Resonanz. Wenn die Avatare schweigen, schweigen sie wirklich. Mit der Einladung, anders als bei Konferenzschaltungen üblich, die menschlichen Nebengeräusche des aktiven Zuhörens und emotionalen Verarbeitens (Zustimmung, Lachen, Zwischenrufe…) nicht zu „muten“ sondern bewusst in den Raum zu bringen, wirkt hier Wunder. Der spontane Rückkanal ergänzt die Dimension, die sonst so oft fehlt im virtuellen Arbeiten.

Der Open Space funktioniert dann weitgehend selbstorganisiert: Die Gruppe sammelt Themen auf einer virtuellen Pinnwand, diskutiert in Arbeitsgruppenräumen und teilt die Ergebnisse wie im realen Raum. Was bei Zoom und Skype sonst kaum zu machen ist, ist hier einfach: die Teilnehmenden navigieren durch die Themenlandschaft, stehen auf, wenn sie in der Gruppe nichts mehr mitnehmen oder beizutragen haben und wechseln in eine andere Gruppe oder auf die Terrasse zum Schmetterlingsgespräch.

Die neue Umgebung hat einen Zauber, der alle trotz der schwierigen Umstände 5 Stunden am Tag 5 Tage lang im Bann hält. Die Moderation in der Akademie muss trotzdem aktiver, strukturierender sein: Bei Runden alle mit Namen ansprechen; nachfragen, ob jeder hören, sehen und verstehen kann; Arbeitsaufträge zweimal sagen und dann noch schriftlich auf eine Medienwand beamen; auf Zeitdisziplin achten – nicht einfach prozessorientiert drauflosarbeiten (wenn sich jemand ausklinkt oder wegen technischer Probleme aus dem System fliegt, muss er/sie Orientierung und Anschluss finden). Aber man gewöhnt sich daran und mit der Zeit werden wir sicherer und experimentieren mit der Methodik – Aufstellungen, Rollenspiele, Fishbowls – all das geht tatsächlich auch im virtuellen Raum.

Am erstaunlichsten ist das schwindende Bedürfnis nach „echtem“ Bild: Im Learnspace lässt sich ein Webcam-Stream neben dem Namensschild überm Avatar einrichten. Am Anfang ist das für uns noch wichtig, um uns miteinander zu orientieren. Bei Vorträgen projizieren wir uns zudem lebensgroß auf die Videowalls im virtuellen Raum. Ab Tag 3 ist kaum noch eine Kamera in Betrieb und keiner vermisst das Live Bild. Es ist, als würde die Immersions-Erfahrung sogar besser funktionieren, wenn nicht dauernd die andere Realität der „echten“ Personen daneben gestellt wird.

Nach einer Woche ist der Spaß vorbei und wir tauchen auf aus der Avatar Welt. In der Abschlussrunde wird deutlich: Es war fordernd aber kurzweilig und spannend. Klar wäre es schöner gewesen, sich zu sehen. Aber unter den Umständen war dies ein ziemlich guter Ersatz. Vielleicht sind solche immersiven Formate ja nicht nur in Zeiten von Corona eine sinnvolle Alternative zum Konferenz Jet Set. Wir jedenfalls haben Lust auf mehr davon bekommen.

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SOCIUS labor Bericht: Liberating Structures

SOCIUS labor Bericht: Liberating Structures

Liberating Structures – die Wortkombination von „Strukturierung“ und „Befreiung“ ist schon eine kleine Zumutung, aber eine schöne: Strukturen sind ja nur dann Gefängnisse, wenn sie Entfaltung verhindern. Wo sie sie ermöglichen, können sie im doppelten Sinne befreiend wirken – befreiend von der Stagnation überregulierten Formgeschehens und vom Dschungel unterregulierter Gruppendynamik. Und doch gelingt dieses Spagat so oft nicht – was ist das Geheimnis? Willkommen in der Welt der „Wicked Questions“, der Nr. 1 im Menü der Liberating Strcutures.

Britta Loschke ist für SOCIUS durch langjährige Zusammenarbeit und gemeinsame Geschichte ein Very Special Guest. Sie ist im besten Sinne ein Strukturfreak (muss man sein, wenn man mit Großgruppen beteiligungsorientiert arbeiten will). Damit knüpft dieses Labor auch an unseren langjährigen „Battle“ an über die Frage, wieviel Struktur und wieviel Emergenz Prozesse vertragen.

Der Einstieg zum Labor bildet das „Impromptu Networking“: wechselnde 4-minütige Zufalls-Begegnungen zu den Fragen „Was erhoffst Du Dir von diesem Labor? Und was bringst Du in ein?“. Und wie dieser Austausch einen kompakt-intensiven ersten Kontakt unter den 15 Labor-Teilnehmenden ermöglicht, geht es im Programm auch weiter: Die Gruppenerfahrung und das gemeinsame Interesse an Beteiligungsprozessen bilden dabei immer die Plattform, über die Methoden miteinander in Austausch zu kommen.

Was macht die Liberating Structures aus?

Die Structures (auch liebevoll „LS“ genannt) sind ein Repertoire von sogenannten „Mikro-Strukturen“, Abläufen zur Gestaltung von Gruppenprozessen und Workshops. Die erste Sammlung wurde von Keith McCandless und Henri Lipmanovicz vom Plexus Institute zusammengestellt. Sie umfasst bisher 33 Methoden – einige alt-bekannt (etwa der Open Space oder die Appreciative Inquiry Interviews), andere neu erdacht und pointiert aufbereitet. Auch wenn der Modus und die Spielregeln der Weiterentwicklung in der LS Community nicht abschließend geklärt ist (übrigens mal ein hochinteressantes Thema für eine Forschungsarbeit), kommen neue Methoden laufend hinzu.

Gemein ist den Strukturen, dass sie zu jedem Zeitpunkt die größtmögliche Aktivierung der Gruppe unterstützen (Vorträge und lange Vorstellungsrunden gehören daher nicht zum Repertoire der Structures), und dass sie Vielfalt und Komplexität produktiv nutzen anstatt sie zu simplifizieren oder zu ignorieren. Die Haltungen dahinter sind in 10 Prinzipien niedergeschrieben, die als loses Manifest der Liberating Structures im Labor-Raum verteilt hängen – auch mit der Einladung dazu, Resonanz und Reibung mit einzelnen der Prinzipien zu erkunden.

 

Wie in jeder guten Methodensammlung sind die Structures anhand eines einheitlichen Rasters beschrieben: die Zeiteinteilung, die Verteilung von Teilhabe und Mitwirkung, die „Einladung“ (oder auch Spielanleitung), die Zusammensetzung der Gruppe(n) und die Anordnung des Raumes.

Arbeit mit Widersprüchen und beängstigenden Unsicherheiten

Nach einigen Einführungen zum Wesen und zu den Prinzipien der Liberating Structures geht es im Labor mit den „Wicked Questions“ weiter: Wir schreiben auf, was für uns wesentliche Wahrheiten und Prinzipien unserer Arbeit in und mit Gruppen sind und wo diese besonders miteinander in Reibung stehen. Die Wicked Question wird im Format notiert: „Wie kann es sein, dass … und gleichzeitig…“. Das von Britta als Beispiel eingeführte Spannungsfeld  „Struktur“ und „Emergenz“ lässt sich hier gut bearbeiten. In paarweisen Austauschen werden die Widersprüche geschärft und weiter herausgearbeitet. Es ist eine interessante Erfahrung, dem Reflex zu widerstehen, Widersprüche sofort aufzulösen und zu spüren, welche Kraft in der Spannung scheinbar unvereinbarer Prinzipien liegt. Die Timebox schließt sich auch hier wieder mit dem Ping des Klangstabs – ein kompakter Moment Reflexion und weiter. Auch das ist Struktur.

Als letzte Structure erkunden wir die „Tiny Demons“ – eine neuere LS Übung zur spielerischen Arbeit mit Befürchtungen. Die Übung hat drei Schritte:

  1. Zeichne auf einem Blatt in vier Quadranten je eine Krakellinie (oben rechts eine dynamische Linie, oben links eine geschlossene Figur, unten rechts ein eckiges Gebilde, unten rechts irgendwas). Ergänze die Formen jeweils zu einem Monster, indem Du Zähne, Haare, Flügel, Klauen dazu zeichnest.
  2. Mache auf der Rückseite eine Liste Deiner Befürchtungen in Bezug auf die zu bearbeitende Fragestellung – im Labor widmen wir uns der Frage: Was macht Dir Sorge in der Anwendung der Liberating Structures?
  3. Wähle die vier größten Befürchtungen aus. Welches Monster passt zu welcher deiner Befürchtungen? Gib den Dämonen einen Namen und stelle sie jemandem vor (hier lassen sich auch szenische Dialoge mit den Dämonen anschließen).

So ungewohnt die Übung beginnt, die Gespräche am Ende sind tief und leicht zugleich. Eine schöne, kreative Methode, die auch bei den Fortbildungs-Junkies unter den Labor-Besucher*innen noch den Nerv des Unbekannten trifft.

In der Abschlussbetrachtung schwingt Erfülltheit von den vielen intensiven Austauschen, inspirierte Nachdenklichkeit zum noch teilweise nebligen LS Überbau, Dankbarkeit für die praktischen und schnell anwendbaren Methodeneinblicke und Respekt für die integre und souveräne Begleitung von Britta durch diesen Ritt.

Und natürlich gibt es wie immer im Nachklang der Labore eine leckere Suppe von Denise und Drinks am Kamin.

weitere Infos

Die Liberating Structures findet man als Sammlung im Netz (https://www.liberatingstructures.de), als Buch (The Surprising Power of Liberating Structures: Simple Rules to Unleash A Culture of Innovation, 2014), als Kartenspiel und mittlerweile auch als kostenlose App.

Zum tieferen Einstieg in die Welt der Structures gibt es verschiedenste Möglichkeiten: Virtuell tauscht sich die globale LS Community auf Slack (http://bit.ly/libstrucslack) und in den Social Media Kanälen (#LiberatingStructures) aus. Wer mehr auf live Interaktion steht, finden auf https://www.liberatingstructures.de/community/ eine Übersicht über lokale und regionale LS Gruppen. Workshops zu den Liberating Structures werden in Deutschland u.a. vom Liberating Network (z.B. Berlin 19./20.3.) von Holisticon (Hamburg) und von der Facilitation Academy (Berlin) angeboten.

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SOCIUS liest: Mit Ignoranten sprechen

SOCIUS liest: Mit Ignoranten sprechen

Peter Modler: Mit Ignoranten Sprechen  (Campus 2019)

Es gibt ohnmächtige Momente in Auseinandersetzungen, die bleiben haften. Die Erfahrung wirkungslos in der Luft zu stochern, während ein Gegenüber ständig in die Magengrube trifft, kann Züge eines Mikrotraumas annehmen. Ich habe ein paar solcher Momente in meinem Leben erfahren und nie so recht verstanden, was da genau passiert ist. Wem das nicht fremd ist, der sollte sich dieses kleine Buch an den Nachtisch legen (lange wird es da nicht bleiben, es liest sich in einem Zug).

Peter Modler ist Unternehmensberater und Führungs-Coach mit besonderem Interesse an Geschlechterkommunikation. Im Rückgriff auf die Soziolinguistin Deborah Tannen stellt er hier zwei Kommunikationsstile gegenüber: das horizontale und das vertikale System. Während im vertikalen System Revier- und Rangordnungen eine große Rolle spielen, sind im horizontalen System der inhaltliche Austausch auf Augenhöhe und Signale der Zugehörigkeit zentral. Treffen in einer Auseinandersetzung Vertreter*innen der beiden Kommunikationsstile aufeinander, entstehen Verwerfungen. Ein zentraler Unterschied liegt dabei in der Nutzung unterschiedlicher kommunikativer Ebenen: während die „Horizontalen“ sich vor allem auf der Ebene des „High Talk“ auseinandersetzen, in der Argumente ausgetauscht werden, um zu verstehen und zu überzeugen, wechseln die „Vertikalen“ gerne in die „Basic Talk“ Ebene, in der plakative Sprachformen dominieren, die ohne Nebensätze und inhaltliche Argumentation auskommen: „Zu viel Details!“, „Das glaubst Du doch selbst nicht“, “Das holt mich nicht ab!“, „Wrong“, „Fake News!“. An solchen markigen Provokationen – gerne auch in Dauerschleife wiederholt – prallt jedes noch so gute High Talk Argument ab.

Das Herzstück des Buches ist die eindrückliche Schilderung der Fernsehduelle zwischen Donald Trump und Hillary Clinton im US Wahlkampf 2016. Satz für Satz, Bewegung für Bewegung wird hier seziert, wie es dem eigentlich argumentativ unterlegenen Trump gelingt, die Lufthoheit zu erlangen und am Ende als Sieger vom Platz zu gehen. Eine wesentliche Rolle spielt dabei Trumps Einsatz der dritten Eskalationsstufe des vertikalen Kommunikationsstils: der „Move Talk“ – das Senden von Dominanz- und Rangsignalen durch körperlichen Einsatz. Diese Kapitel tun beim Lesen weh und sind unglaublich lehrreich.

Basic Talk und Move Talk haben zwar mit Trump eine idealtypische Verkörperung gefunden, ist aber weit verbreitet. Modler zeichnet die Muster der vertikalen Kommunikation in zahlreichen parlamentarischen Auftritten der AfD nach und beleuchtet, wie so mancher poltrige Politiker (kein Gender-Sternchen hier!) der Volksparteien das vertikale Instrumentarium erfolgreich in Anschlag bringt, um gut gerüstete Gegner verbal und szenisch kaltzustellen. Neben den politischen Szenen dreht sich das Buch aber auch um Beispiele aus dem betrieblichen Alltag. Dass es sich hier auch um ein nützliches Handbuch für die Mikropolitik in Organisationen handelt, erklärt sich nicht zuletzt durch Modlers langjährige Praxis in der Führungskräfteentwicklung  (u.a. mit seinem „Arroganz-Training“ für weibliche Führungskräfte).

Die einzig wirksame Antwort auf Basic Talk, so Modlers Überzeugung, ist Basic Talk. „Wrong!“ – „Right! And you know it!“. Was erst einmal klingt wie ein potentieller Absturz in die Niveaulosigkeit, ist tatsächlich nur eine taktische Antwort, die Ignoranten mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Modlers eindringlicher Appell an das aufgeklärte Bildungsbürgertum: Kommt runter von Eurem hohen Ross, sonst haut der Basic Talk des Populismus Eurem schönen Pferd die Beine weg! Ganz nebenbei bemerkt er dabei, dass Ignoranz meistens eine zweiseitige Zuschreibung ist.

Das Buch hat manche Wiederholung, manche Trivialisierung (ups…), aber ich kann es sehr empfehlen!

Die „10 Goldenen Regeln“ – hier die Zusammenfassung der Zusammenfassung:

 

  1. Die eigenen Sprachgewohnheiten hinterfragen! – Üben Sie sich im Kommunizieren außerhalb der Komfortzone ihres eigenen Sprachmilieus.
  2. Moralische Empörungsreflexe herunterfahren! – Die innere Abwertung des Gegenübers verhindert einen klaren Blick auf ihn und die Situation.
  3. Kommunikation außerhalb der Argumentation wahrnehmen! – Halten Sie Basic Talk und Move Talk Ihres Gegenübers im Blick.
  4. Das Offensichtliche aussprechen! – Nennen Sie provokatives und übergriffiges Verhalten im Gespräch beim Namen.
  5. Keine Zuhörbereitschaft voraussetzen! – Gehen Sie nicht davon aus, dass Ihr Gegenüber unbedingt an einer respektvollen Auseinandersetzung auf Augenhöhe interessiert ist.
  6. Keine Panik bei Unsachlichkeit! – Beantworten Sie Basic Talk in aller Gelassenheit mit Basic Talk.
  7. Schönheit des Patts wahrnehmen! – Übernehmen Sie nicht die volle Verantwortung dafür, dass jede Auseinandersetzung sofort zu einer Lösung führen muss.
  8. Langsam siegen! – Lassen Sie Ihren Argumenten und Moves im Gespräch genug Zeit, Wirkung zu entfalten.
  9. Höflichkeit relativieren! – Verteidigen Sie die Höflichkeit, indem Sie auf Grobheit auch mal grob reagieren.
  10. Nicht rechtfertigen! – Anstatt Ihr Verhalten defensiv zu rechtfertigen, begründen Sie lieber offensiv Ihre Position.  

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Schwarze Spiegel in Fernost

Schwarze Spiegel in Fernost

Ich sitze am Hangzhou International Airport nach einer Akademie-Woche an der Zhejiang University. Die 9 Millionen Metropole Hangzhou liegt 190 km südwestlich von Shanghai und gilt als eine der schönsten Städte Chinas. Wie überall im Land wird auch hier mit großer Entschlossenheit die bauliche und kulturelle Entwicklung der Stadt vorangetrieben. China wandelt sich in atemberaubendem Tempo.

Im Flieger die üblichen Sicherheits-Hinweise von aus dem Bildschirm lächelnden Stewardessen: nicht rauchen, Handys aus, anschnallen bitte. Der Film endet mit der freundlich intonierten Ermahnung: „Please be aware that violations are recorded on video and will be prosecuted and in severe case may result in imprisonment“. Der Satz bringt es auf den Punkt: 1. Hier sind sinnvolle Spielregeln, es wäre gut sich daran zu halten. 2. Nichts bleibt unentdeckt (die rund 180 Millionen Überwachungskameras im Land führen übrigens auch dazu, dass man sich in China auf eine Weise recht sicher fühlt – Wim Wenders’ „Ende der Gewalt“ lässt grüßen). Und 3: Im schlimmsten Fall ist da immer noch das Gewaltmonopol des Staates. Der gedankliche Blick schweift in die Nord-West Regionen des Landes.

Wie schön: Soziales Feedback!

Ich bin nicht der einzige, der hier oft an „Black Mirror“ denken muss. Ich sehe diese Serie düsterer Szenarien der nahen digitalen Zukunft mit einer Faszination, die Balint „Angst-Lust“ nennen würde. Social Fiction ist nun mal in der Regel dystopisch, warum also nicht gleich in die Vollen gehen? Dabei scheint mir immer öfter hier in China die Wirklichkeit der Fiktion bereits ein paar Schritte voraus. Als ich die Black Mirror Folge „Nosedive“ zum ersten Mal sah, schien mir die dort beschriebene soziale Verhaltenskontrolle als düstere Projektion. Das seit ein paar Jahren in der Erprobung befindliche System der Social Credit Points steht dem in nichts nach.

Es basiert auf einer Währung gesellschaftlicher Anerkennung, die durch Wohlverhalten aufgeladen und durch „Verfehlungen“ mit Abzügen belegt wird. Der Credit Score bestimmt den Zugang zu Rechten und Privilegien – von der Kreditwürdigkeit, Vergabe von Ausbildungsplätzen und öffentlichen Jobs bis hin zu schnellem Internet, dem Erwerb von Flugtickets oder dem Kauf von Autos. Als Wohlverhalten sind zum Beispiel soziales Engagement, gesundheitsförderlicher Lebenswandel, der Kauf inländischer Waren und weitere Akte einer „positiven Gesinnung“ eingestuft. Abzüge gibt es für Regelverstöße (von Ordnungswidrigkeiten bis hin zu falscher Mülltrennung) und politisch nicht-konformes Verhalten im öffentlichen Raum, zuvorderst in den Sozialen Medien. Bislang ist das ganze halbwegs freiwillig und spielt sich in Pilotregionen und auf der Bezahlplattform AliPay ab. Ab 2020 wird das System auf einem hochintegrierten digitalen Rückgrat flächig implementiert.

Was tut ein Spiegel? Er spiegelt!

Unverkennbar steckt ein Stück Konfuzius in diesem ausgeklügelten Modell der Micro Governance. Dennoch liegt die besondere Qualität des chinesischen Ansatzes eher in der perfektionierten Form als in einer unerhört neuen Zielstellung. Wie die Ausrichtung von Verhalten funktioniert, ist seit jeher eine Lieblingsfrage der angewandten Psychologie, auch und gerade im aufgeklärten Abendland. Punktesysteme kennt man ja bereits aus der Schule, wo es fürs Tafel-Abwischen Bienchen und fürs Stören Punktabzüge gibt (mir schien das immer eher unbeholfen, und irgendwie tun einem Lehrer*innen ja auch ein bisschen Leid). Die gepunktete Linie zieht sich ins Arbeitsleben in Form der Personalbeurteilung fort, die v.a. über monetäre Anreizsysteme Alignment und Leistung des *der einzelnen Mitarbeiter*in sichern soll. Das ist zwar alles oft noch etwas hölzern, aber die Digitalisierung kommt auch hier langsam um die Ecke. Das gerade erschienene Heft der Zeitschrift für Organisationsentwicklung preist die glorreichen Chancen der Big Data Analytik für Management und OE (übrigens ohne einen Funken kritischer Reflexion, was mit Daten sonst noch so alles angestellt werden kann. Shohana Zuboff hat den verstörenden Begriff des „Surveillance Capitalism“ geprägt – der ist hier noch nicht angekommen). Nicht zuletzt findet sich auch jede Menge Verhaltenssteuerung im institutionellen Alltag unserer schönen Demokratie: von den Punkten in Flensburg als nicht-monetäre Verkehrsdisziplinierung über die Bewertungs-Scores der Schufa bis zu den Bonuspunkten, mit denen meine Krankenkassenbeiträge sinken, wenn ich zum Sportverein oder zur regelmäßigen Zahnprophylaxe gehe. Das finde ich alles ganz ok. Man könnte sagen, China ist in diesem Punkt nicht moralisch hinterher, sondern lediglich technisch vorneweg. Wenn da nicht diese „letzte Konsequenz“ wäre.

Heiligt der Zweck auch diese Mittel?

Wir haben Flughöhe mit Kurs Berlin erreicht. Nüchternes Fazit in der Luft: Ich möchte unter einer zentral gesteuerten Verhaltensmodellierung ebenso wenig leben, wie im anschwellenden Micro-Targeting Dauerfeuer des Zuboff’schen Überwachungs-Kapitalismus oder der ökonomisierten Teilhabe, wie sie Jeremy Rifkin in „Access“ beschreibt. Wie bei allen (Sozial)Technologien lässt sich jeweils fragen, ob es die Formen oder die Ziele sind, die hier problematisch wirken? Und wie das überhaupt analytisch zu trennen ist?

Gedankenexperiment: Was, wenn all dies für einen ganz unzweifelhaft guten Zweck eingesetzt würde? Green Credit Points und Climate Analytica als Schnellwaschgang der Großen Transformation; Access-Steuerung als Policy Instrumentarium des Klimanotstands. Wäre das akzeptabel? Eigentlich nicht, aber „eigentlich“ frisst sich bekanntlich immer selbst… Schwarz-weiß ist das alles nicht – düster allemal.

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SOCIUS liest: Mit Ignoranten sprechen

SOCIUS liest: Dialogic Organisation Development

  1. Bushe und R. Marshak (Hrsg.) , Barrett-Kohler Publishers, Oakland 2015

Als ich kürzlich einen Londoner Berater-Kollegen nach seiner konzeptionellen Beheimatung fragte, legte er kurz und bündig den Begriff „Dialogic OD“ auf den Tisch. Mein anerkennendes Nicken (Sounds good!) war von skeptischer Neugier unterlegt (ein neues Catch-Lable?). Kurz darauf fiel mir in der SOCIUS Bibliothek der dazu passende Sammelband von Bushe und Marshak in die Hände. Vorwort von Ed Schein, das schaut man sich ja erstmal wohlwollend an…

Das Buch ist eine programmatische Wagenburg. Es folgt dem Anspruch, die theoretische Fundierung, die Diskurs-Position und das Denkmodell des Dialogischen Ansatzes aufzufächern. Die Herausgeber versammeln hierzu Pioniere der Forschung und Beratungspraxis im Themenfluss von Selbstorganisation, Emergenz und Komplexität (darunter etwa Ralph Stacey, Peggy Holman und Frank Barrett), die in ihren Beiträgen zu einem gemeinsamen Gedanken einladen: Systeme verändern sich nicht durch die Einführung neuer Strukturen und Prozesse und erst recht nicht durch Strategiepapiere oder Mission Statements. Sie verändern sich in ihrer eigenen Logik dialogisch – durch kontinuierlichen direkten und offenen Meinungs- und Perspektiv-Austausch, oder im Art of Hosting Jargon: durch „Meaningful Conversations“. Wenn anderswo in der OE davon die Rede ist, dass man alles verändern kann außer der Organisationskultur, impliziert die Dialogische OE somit genau das Gegenteil: das Einzige, womit sich wirklich etwas ändert, ist die Kultur, genauer: die dialogisch vermittelten Sinn- und Deutungsmuster der Organisation.

 

Das Spielfeld der Dialogischen OE liegt in diesem Bedeutungs-System. Die Begleitung kann impulsgebend sein, indem sie Musterunterbrechungen provoziert und neue Deutungs-Angebote in die Organisation einspeist. So wird etwa Im „Generative Metaphor Intervention Process“ zunächst der Fokus gezielt weg vom konkreten Bearbeitungsfeld in einen symbolischen Raum gehoben (eine Geschichte, ein Bild, eine Analogie). Dann wird in diesem Raum durch gemeinsame kreative Assoziation eine neue Metapher eingeführt, die den Gegenstand ins Licht alternativer Deutungen rückt (hierfür steht der Schlüsselbegriff des „Generative Image“). Es folgt eine spielerische Auseinandersetzung mit der Metapher sowie schließlich die Reflektion und der Rückbezug der Erkenntnisse auf das Bearbeitungsfeld.

Wo Störungen und Wandel der Sinngebung durch interne oder externe Turbulenzen bereits gegeben sind, besteht die wichtigste Rolle der Begleitung darin, sichere Räume als Dialog- und Beziehungsrahmen zur Verfügung stellen und zu halten.

Im Gegensatz zu klassischen „diagnostischen“ Ansätzen setzt die Dialogische OE statt geplanter Entwicklung (unfreezing-moving-refreezing) auf begleitete Emergenz. Das System macht seine Entwicklungs-Hausaufgaben im Großen und Ganzen selbst, der Transformative Wandel folgt der Eigendynamik der Selbstorganisation. Was genau dabei „hinten“ rauskommt, ist mithin kaum vorhersagbar – ein für die Auftraggeber*innen von Beratungsprozessen eher ungemütlicher und gewöhnungsbedürftiger Umstand.

 

 

Die akademisch-philosophische Flughöhe des Buches wird zwar immer wieder durch den Erfahrungsschatz der beitragenden Praktiker*innen geerdet, dennoch finden sich hier keine Kochrezepte. Wer das How-To der Dialogischen Arbeit lernen will, muss sich erst einmal noch den einzelnen Schulen verschreiben, die sich unter dieser Flagge versammeln (Art of Hosting, Story Work, Transformative Learning Practice, Appreciative Inquiry…). Es gibt also noch einiges zu tun (u.a. auch, dieses Buch zu übersetzen). Und auch wenn noch nicht alle Fragezeichen gelöscht sind, steigt in mir der Verdacht, dass die Dialogische OE auch eine meiner konzeptionellen Beheimatungen sein könnte.

„I find myself more interested in, and most effective, when I am drawing attention to and confronting deeply held conceptual metaphors or storylines that are implicitly framing experience. From a dialogic perspective I am seeking to “disrupt” the pre- vailing storyline (alter or break the taken-for-granted frame) while creating a context or container that is safe enough for people to explore new possibilities“. (Robert Mashak, OD Practitioner 42/2, 2015)

Gelesen von Andreas Knoth.

 

 

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