Wenn Kunsttherapie und Organisationsentwicklung einander begegnen

Wenn Kunsttherapie und Organisationsentwicklung einander begegnen

Was passiert, wenn wir die gewohnte Kontrolle verlieren und stattdessen Raum geben – für Fehler, für Nicht-Wissen, für das Ungeplante? Beim SOCIUS labor in Hamburg sind wir genau dieser Frage nachgegangen – mit Impulsen aus der Kunsttherapie und der Organisationsentwicklung.

Organisationsentwicklung meets Kunsttherapie – unter diesem Dach fand das SOCIUS labor in Hamburg mit Annika Trosien und Hannah aus dem SOCIUS Team statt. Im Zentrum stand die Frage: Wie gehen wir mit (vermeintlichen) Fehlern um – in Organisationen und als Prozessbegleiter:innen –, wenn der „richtige Schritt“ oder die „richtige Lösung“ immer schwerer vorhersehbar ist?

Aus der Perspektive der Organisationsentwicklung haben wir uns dabei von Otto Scharmers U-Prozess und dem Konzept der Psychologischen Sicherheit von Amy Edmondson leiten lassen. Präsenz, Offenheit und eine gelebte Lernkultur bilden hier die Grundlage. Was Veränderungen verhindert, sind vorschnelle Urteile, zynischer Rückzug und die Angst vor Bewertung – alles auch Ausdruck einer unsicheren Teamkultur. Wo Teams hingegen überzeugt sind, dass es sicher ist, sich zwischenmenschlich mutig zu zeigen, sinken diese Barrieren. Verletzlichkeit zeigen zu dürfen, offen sprechen und zuhören zu können – das ermöglicht nicht nur Lernen, sondern auch das schöpferische Potenzial von Fehlern zu nutzen.

Annika Trosien hat mit ihren künstlerischen Übungen Räume geöffnet, in denen sich genau das erleben ließ: Was passiert, wenn etwas nicht gelingt – oder ganz anders wird als geplant? Wie gehe ich damit um, wenn ich mit je einem Wachsmalblock in jeder Hand gleichzeitig eine liegende Acht zeichnen soll – und es bei der Nachbarin scheinbar besser klappt? Langsamer werden, den Blick von außen nach innen richten, den Vergleich loslassen – das waren einige der Erkenntnisse, die ganz konkret spürbar wurden.

Besonders eindrücklich war die Übung mit dem „perfekten Kreis: Zuerst einige Minuten lang mit größter Sorgfalt am eigenen Kreis arbeiten – und ihn dann weitergeben. Eine andere Person sollte nun absichtlich einen massiven „Fehler“ hinzufügen. Eine echte Zumutung – und genau deshalb so aufschlussreich. Denn danach kam das Bild zurück, und es entstand die Möglichkeit, um etwas Neues zu gestalten, das die Veränderung nicht nur akzeptiert, sondern integriert.

Im Raum waren nun ganz unterschiedliche Gefühle: Traurigkeit über das Verlorene, Frust über zerstörte Perfektion – aber auch Leichtigkeit, Spielfreude, Neugier. Die Kunst hat dabei geholfen, das Gefühl von Scheitern, Scham und Angst zu transformieren. Respekt und Demut vor dem Prozess – aber auch vor der Idee des Neuen – haben diesen Wandel spürbar gemacht. Erwartungen loslassen, den eigenen Anspruch hinterfragen, sich auf das Unbekannte einlassen: All das hat den Blick auf Transformation verändert.

Neben den individuellen Reflexionen hat sich mit Blick auf Organisationen eines deutlich gezeigt: Veränderung braucht Zeit. Zeit zum Loslassen, zum Wertschätzen, zum Anerkennen. Schuld und Scham blockieren Veränderung. Aber wenn Freiräume entstehen, in denen Teilhabe und Spiel möglich sind, dann entsteht auch das, was Zukunft braucht: Vertrauen, Verbindung – und neue Ideen.

Vielleicht ist genau das der Anfang von Veränderung: wenn wir bereit sind, nicht nur mit dem Kopf, sondern mit allen Sinnen zu lernen – und uns auch dort zu zeigen, wo noch nichts „perfekt“ ist.

Autorin Hannah Kalhorn

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„Gesunde Kranke“ – Ein Rückblick auf drei Salons

„Gesunde Kranke“ – Ein Rückblick auf drei Salons

Als wir im Oktober 2024 die Salon-Reihe „Krankheit in Organisationen“ starteten, hatten wir uns bereits seit einem Jahr regelmäßig einmal im Monat zu dritt mit unserer Kollegin und Freundin Monia ausgetauscht zu persönlichen Erfahrungen und Erkenntnissen, was es bedeutet, mit einer chronischen Krankheit arbeiten und wirksam sein zu wollen. Im Verlauf dieser Gespräche wurde immer deutlicher, wie groß und wichtig das Thema ist und gleichzeitig wie unterrepräsentiert und undiskutiert es ist in der Welt der Organisationen: Laut einer Studie der Kassenärztlichen Bundesvereinigung In Deutschland sind 41% der Männer und 48% der Frauen im Alter zwischen 35 und 59 Jahren von mindestens einer lang andauernden Krankheit betroffen, die regelmäßig medizinisch behandelt werden muss. 

Die theoretische Ausgangsbasis lautete außerdem: Chronische Erkrankungen können mit zahlreichen Einschränkungen und Belastungen einhergehen, die das Leben der Betroffenen erheblich beeinflussen. Neben dauerhaften oder schubweise auftretenden Schmerzen, die den Alltag erschweren, geht oft auch viel Zeit für Therapien, medizinische Behandlungen, Besuche bei Ärzt:innen oder Krankenhausaufenthalte verloren. Besonders herausfordernd ist, dass viele Symptome chronischer Erkrankungen unsichtbar sind. Sie bleiben für Außenstehende verborgen, obwohl sie die Leistungsfähigkeit im Alltag und insbesondere am Arbeitsplatz erheblich einschränken können. Diese Unsichtbarkeit führt oft zu Scham, Unsicherheit und der Angst vor negativen Reaktionen aus dem sozialen Umfeld, wie zum Beispiel von Kolleg:innen oder Vorgesetzten. Diese Ängste können zusätzliche psychische Belastungen hervorrufen. Tatsächlich ist das Risiko, an einer Depression oder Angststörung zu erkranken, bei Menschen mit chronischen körperlichen Erkrankungen deutlich erhöht: Rund 40 % von ihnen sind davon betroffen – ein signifikant höherer Anteil im Vergleich zu gesunden Menschen. Die psychischen Belastungen zeigen sich oft schon in alltäglichen Situationen:. Beispielsweise können häufige Ausfälle bei der Arbeit zu Schuldgefühlen gegenüber Kolleg:innen führen, insbesondere wenn diese nicht über die Hintergründe informiert sind. Viele Betroffene haben wiederum Sorge vor den möglichen Konsequenzen einer Offenlegung ihrer Krankheit. Sie fürchten einen Karriereknick oder gar den Verlust ihres Arbeitsplatzes. Arbeitssuche nach einer längeren Zeit der Arbeitsunfähigkeit infolge einer chronischen Krankheit, ist wiederum extrem herausfordernd, da Lücken im Lebenslauf erklärt werden müssen und das Gegenüber von der eigenen Arbeitsfähigkeit überzeugt werden muss. Gleichzeitig wirft die Erkrankung Fragen darüber auf, wie sie die Beziehungen zu Kolleg:innen, Vorgesetzten und anderen Menschen im persönlichen Umfeld beeinflusst.

Wie kann es also sein, dass wir so selten über (chronische) Krankheiten in der Arbeit sprechen und wissen?

Unsere Grundannahme war von daher, dass insbesondere Führungskräfte, aber letztendlich wir alle nicht umhin können, handlungs- und sprechfähig zu werden und sich damit auseinandersetzen müssen, was es – weit über Formate und Ansätze des Betrieblichen Gesundheitsmanagements hinaus – in der Arbeitswelt bedeutet, von einer chronischen Krankheit betroffen zu sein und wie eine Arbeitsfähigkeit ermöglicht werden kann. 

So war die Idee mit dem neuen Format SOCIUS salon einen offenen Austauschraum anzubieten zum Thema “Gesunde Kranke” anzubieten, um uns gemeinsam mit den Teilnehmenden dem Thema anzunähern, uns über Erfahrungen auszutauschen und gemeinsam über Lösungsmöglichkeiten nachzudenken.  Das Echo auf diese drei3 zweistündigen Veranstaltungen entlang der Überschriften „Besprechbarkeit“, „Sichtbarkeit“ und „Rücksichtnahme“ überstieg bei weitem unsere Erwartungen und war zutiefst berührend. Selten hatte ich das Gefühl, dass ein so zentrales gesellschaftliches Thema so tabuisiert ist und es so wenig Selbstverständlichkeit, Neugier und Verantwortungsbereitschaft gibt, eine offene Kommunikation zu ermöglichen und gemeinsam angemessene Lösungen zu finden!

In sehr persönlichen Austauschrunden trugen wir die folgenden Erfahrungen und Einsichten zusammen:

Besprechbarkeit: Über Krankheiten reden – aber wie?

Eine Teilnehmerin brachte es auf den Punkt: „Ich spreche so viel darüber, aber am nächsten Tag ist es wie weg. Wie können wir Formen der Kommunikation finden, die nachhaltig sind, wo wir nicht immer wieder bei Null anfangen zu erklären, was wir brauchen?“ Hier wurde klar, dass es nicht nur Mut braucht, um über Krankheiten zu sprechen, sondern auch Strukturen, die ein solches Gespräch erleichtern und in regelmäßigen Abständen wiederholt werden.

Scham spielt dabei eine zentrale Rolle. Viele Teilnehmende berichteten, dass sie sich verletzlich und unsicher fühlen, wenn sie über ihre Erkrankung sprechen. Eine Teilnehmerin erklärte: „Ich will mich nicht verantwortlich fühlen für das, was andere fühlen, wenn ich über Krankheit spreche.“ Um solche Gespräche zu enttabuisieren, brauche es sowohl Co-Regulation in Gruppen als auch mehr gesellschaftliche Offenheit. Gleichzeitig sprachen andere Teilnehmende auch über die Unsicherheit und Hilflosigkeit der Nicht-Kranken, ein offenes Gespräch zu beginnen. Ein wichtiger Aspekt war dabei der Umgang mit Scham: „Der einzige Weg raus aus der Scham ist, sich verletzlich zu zeigen – aber dazu braucht es auch ein verletzliches Gegenüber.“

Die Diskussion verdeutlichte, dass es oft an Werkzeugen fehlt, um über Krankheiten zu sprechen. Eine inklusivere Sprache und Formate wie Deep-Listening-Räume können helfen, Kommunikation auf Augenhöhe zu ermöglichen. Solche Räume schaffen die Möglichkeit, ohne Unterbrechungen und ohne Wertung über die eigenen Herausforderungen zu sprechen – ein Ansatz, der in Organisationen etabliert werden könnte.

Sichtbarkeit: Krankheiten sichtbar machen und anerkennen

Genau diese Unsichtbarkeit chronischer Krankheiten stellt Betroffene vor große Herausforderungen. „Wenn die Krankheit nicht sichtbar ist, wird sie schnell vergessen“, beschrieb eine Teilnehmerin ihre Erfahrungen. Es braucht Symbole und klare Signale, um das Bewusstsein für chronische Erkrankungen in Teams und Organisationen zu verankern. 

Doch Sichtbarkeit birgt auch Risiken: Sich sichtbar zu machen, ohne dass darauf reagiert wird, wird als besonders verletzend empfunden. „Menschen brauchen Symbole, um sich daran zu erinnern, dass jemand krank ist. Wenn dann aber nichts passiert, ist es das Schlimmste“, so eine Teilnehmerin. Auch die Art der Erkrankung spielt eine Rolle: „Mit einem Hirntumor bekommt man mehr Sympathie als mit Depression. Das bringt auch einen Raum zum Schweigen.“ In Anlehnung an die Diversity-Arbeit wurde als Wunsch an die Nicht-Kranken formuliert: „Vergiss, wenn Du mit mir sprichst, dass ich eine kranke [schwarze] Person bin. Und vergiss nie, dass ich eine kranke [schwarze] Frau bin!“. Dies setzt also eine Bereitschaft zu einer tieferen Auseinandersetzung und zu persönlichen Lernprozessen voraus. 

 

Gleichzeitig berichteten viele Betroffene unter den Teilnehmenden von vielfachen Diskriminierungserfahrungen am Arbeitsplatz durch Vorgesetzte, die auch den vorsichtigen Umgang mit der Selbstoffenbarung rechtfertigen

Eine offene Sichtbarkeit kann nicht nur Betroffene entlasten, sondern auch Organisationen bereichern. Eine Teilnehmerin berichtete, dass ihre Organisation sich bei ihr für das Wissen bedankt habe, das ihre Krankheit dem Team gebracht habe. Diese Haltung ermöglicht es, chronische Erkrankungen nicht nur als Belastung, sondern auch als Quelle von Reflexion und Transformation zu sehen.

Rücksichtnahme: Zwischen Empathie und Veränderung

Rücksichtnahme ist ein vielschichtiger Begriff. Für viele bedeutet er eine Balance zwischen individueller Fürsorge und der Forderung nach Veränderungen in Organisationen. „Verlässlichkeit ist zentral. Versprechen, die nicht gehalten werden, sind die echte Katastrophe“, wurde betont. Hier liegt eine große Verantwortung bei Führungskräften und Teams, um eine Kultur der Verbindlichkeit zu schaffen.

Im Umgang mit chronischen Erkrankungen ist wiederum ein Perspektivwechsel essentiell: Statt auf Heilung zu fokussieren, geht es darum, ein gutes Leben mit der Krankheit zu führen und sie in den Alltag zu integrieren. Gut gemeinte Ratschläge wie „Probier doch mal…“ helfen nicht, da sie die Realität chronischer Erkrankungen verkennen. Wichtiger ist es, Betroffenen zuzuhören, ihre individuelle Bewältigung und Kompetenz im Umgang mit ihrer Krankheit anzuerkennen und passgenaue Aufgabenzuschnitte zu ermöglichen. „Wenn mir Aufgaben übergeben werden, die nicht passgenau ausgerichtet sind auf das, was ich leisten kann, wird mein Leben nicht einfach nur etwas anstrengender, sondern es ist eher ein Rausschmiss oder komplette Exklusion für mich!“, lautete eine Aussage. 

Doch Rücksichtnahme darf nicht in Bevormundung ausarten. Betroffene berichteten, dass sie sich oft unter Druck gesetzt fühlen, dadurch, dass sich ein riesiger „sozialer Schuldenberg“ auftürmt. Eine Teilnehmerin plädierte dafür, klare Strukturen zu schaffen: „Ich brauche die Macht, selbst zu bestimmen, was ich tue und was ich nicht tue. Andererseits ist es oft viel einfacher, Verantwortung für andere zu übernehmen, als für sich selbst einzustehen.“

Auch für Teams ist es wichtig, eine klare Differenzierung zwischen akuten und chronischen Erkrankungen vorzunehmen. In einem Beispiel aus einem kleinen Team mit zwei chronisch Kranken und einer gesunden Person wurde deutlich, wie belastend unklare Rollen und Erwartungen sein können, dass bei aller Offenheit im Umgang sich auch leicht Ungleichgewicht einschleichen kann zwischen dem, was geleistet werden will und kann. „Es braucht viel Weichheit und Flexibilität im Umgang miteinander“, lautete ein Fazit. 

Transformation der Arbeitswelt

Die Veranstaltungen zeigten, dass chronische Erkrankungen in der Arbeitswelt eine Vielzahl von Herausforderungen mit sich bringen, für die wir bislang noch wenig Räume, Instrumente und angemessene Sprache besitzen. Angesichts der Entwicklungen in der Gesellschaft und auf dem Arbeitsmarkt können wir es uns nicht leisten, weiter in der Unbeholfenheit und Unwissenheit zu verharren. Es geht darum, in Organisationen eine Kultur des Austauschs zu schaffen, in der Menschen über ihre Krankheit sprechen können, ohne sich schämen oder rechtfertigen zu müssen. Sichtbarkeit und Rücksichtnahme sollten keine Ausnahmen sein, sondern selbstverständliche Elemente inklusiver Arbeitswelten. Gleichzeitig braucht es eine gesellschaftliche Debatte auf Augenhöhe darüber, was echte Inklusion bedeutet. 

In einem angemessenen Umgang mit chronischen Krankheiten in Organisationen stecken allerdings nicht nur Herausforderungen, sondern auch große Potenziale. Chronisch Kranke sind oft Vorreiter einer Transformation, wenn wir sie als Seismographen verstehen für das, was falsch läuft und zu Stress und Überlastung in gesamten Teams führt. „Ständige Meetings sind mir unmöglich – aber auch für andere Kolleg:innen oft sehr anstrengend. Letztendlich sind es Auswüchse von Bequemlichkeit, sich selbst Informationen zusammen zu suchen“. „Wir brauchen chronisch Kranke, um die Arbeitswelt zu verändern“, hieß es in der Diskussion. Mit kreativen Lösungen wie flexiblen Arbeitszeiten, Buddy-Systemen und Reflektionsräumen können Organisationen ein Umfeld schaffen, in dem alle – ob gesund oder krank – produktiv im Rahmen ihrer Möglichkeiten und zufrieden arbeiten können. 

Am Ende der drei Veranstaltungen hatten wir das Gefühl, gerade nur ein wenig an der Oberfläche gekratzt zu haben. „Wir brauchen eine Bewegung!“, lautete eines unserer Fazits. Genau deswegen und weil wir mehrfach gehört haben „dies ist das erste Mal, dass ich mich so offen austauschen konnte“, werden wir 2025 weitermachen. Von Januar bis Juni haben wir sechs weitere SOCIUS salons geplant:

Autorin Joana Ebbinghaus

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Trauma und sekundäre Traumatisierung in klassischen und unerwarteten Arbeitssettings

Trauma und sekundäre Traumatisierung in klassischen und unerwarteten Arbeitssettings

Zusammenfassung

Der Text behandelt das Thema Trauma und Traumatisierung in verschiedenen Arbeitsumfeldern. So zeigt sich das Phänomen Traumatisierung mit seinen Folgen und Auswirkungen sowohl intra- als auch interpersonell sowie in Kontexten, die bislang nicht oder kaum darauf vorbereitet waren. Mitarbeitende können solche Erfahrungen als Überforderung erleben und auf unterschiedliche emotionale und körperliche Weise reagieren. Im Text wird zunächst der Anlass für die Beschäftigung mit diesem Thema benannt. Sodann werden die verschiedenen Traumata-Ebenen, die Einflussfaktoren und Wirkungen vorgestellt. Und schließlich wird erörtert, wie im Arbeitskontext damit umgegangen werden kann.

Die unerwartete Erfahrung

Sie weinen. Sie sind aggressiv – in ihrer Haltung, in ihrer Sprache. Sie sind verstört. Sie wollen ihre Geschichte erzählen, ausführlich, gefragt und ungefragt. Sie wollen Aufmerksamkeit. 

Darauf waren die Mitarbeitenden der Stiftung nicht vorbereitet. Dafür sind sie auch nicht ausgebildet. Sie sind herausgefordert, manchmal überfordert. Und reagieren unterschiedlich: mit Furcht vor direktem Kontakt; mit Gereiztheit, Frustration, Zynismus, Erschöpfung. Oder es zeigen sich körperliche Symptome: von Verspannungen bis hin zu Schlafstörungen. Und es bleibt das überwältigende Gefühl, der Situation und den Menschen nicht gerecht zu werden.

Wir waren eingeladen, eine Fortbildung zum Thema Verunsichernde Orte durchzuführen. Uns gegenüber saßen Mitarbeitende einer Stiftung, die sich mit einer spezifischen historischen Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg befasst. Und dazu u. a. eine große Ausstellung bietet. Die Mitarbeitenden kamen aus den Bereichen Bildung, Bibliothek und Archiv. Fast alle stehen immer wieder in direktem Kontakt zu Besucher:innen. Diese sehen sich die Ausstellung an, nutzen die Bibliothek oder fragen nach Unterlagen im Archiv, oft zur eigenen (Familien-)Geschichte. Andere nehmen telefonisch oder digital den Kontakt auf.

Wir änderten spontan das Programm und gestalteten die weitere Fortbildung zum Thema Trauma: Trauma in seinen verschiedenen Varianten wie der primären, der sekundären oder der intergenerationellen Traumatisierung. Und sprachen über das Thema Umgang mit Traumatisierten. Anschließend führten wir in die Methode Kollegiale Beratung ein. In kleineren Gruppen erprobten die Teilnehmenden die Methode. Und erarbeiteten sich auf diese Weise einen ersten kleinen Fundus an Handlungsmöglichkeiten für die unterschiedlichen herausfordernden Situationen.

Weder die Leitungskräfte noch die Mitarbeitenden waren auf Menschen mit Symptomen von Traumatisierung vorbereitet. Auch nicht darauf, was solche Begegnungen bei ihnen selber auslösen (auslösen kann).

Damit waren und sind sie nicht die einzigen. Erst in jüngster Zeit wird das Thema Traumatisierung auch in beruflichen Feldern, die davon bislang scheinbar unberührt waren, wahrgenommen.

Wie es der Zufall will, ergaben sich im Anschluss an die oben genannte Fortbildung weitere Aufträge anderer Institutionen zum Inhalt Traumatisierung und Folgewirkungen. So führten wir eine große interne Befragung unter dutzenden Doktorand:innen durch, in deren Forschungsthema auch Gewalt vorkommt – sowohl bei historischen als auch bei gegenwartsbezogenen Forschungsthemen. Und wir realisierten weitere Fortbildungen für Institutionen, deren Mitarbeitende ebenfalls nicht auf die Begegnung mit Traumatisierungen gefasst waren.

Bevor wir im Folgenden einige Grundlagen zum Thema Trauma und Traumatisierung vorstellen, hier noch ein Hinweis: Der Begriff „traumatisiert“ ist zu einem häufig verwendeten Begriff in der Alltagssprache geworden. Oft, um ärgerliche oder lästige Erfahrungen zu bezeichnen. Z. B.: „Ich bin allmählich traumatisiert, die S-Bahn hatte schon wieder Verspätung.“ Davon unterscheidet sich der klinische Begriff fundamental. 

 

 

Grundlagen zum Thema Trauma

Die Deutsche Traumastiftung definiert Trauma als „ein belastendes Ereignis oder eine Situation, die von der betreffenden Person nicht bewältigt und verarbeitet werden kann. Es ist oft Resultat von Gewalteinwirkung – sowohl physischer wie psychischer Natur. Bildhaft lässt es sich als eine „seelische Verletzung“ verstehen.“ Beschrieben wird hier die Primäre Traumatisierung. Das Adjektiv „traumatisiert“ bezieht sich auf diesen psychischen Zusammenhang.

Das klinische Klassifikationssystem ICD-10 formuliert als Traumakriterium:

„[…] ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde (ICD-10) (z.B. Naturkatastrophe oder menschlich verursachtes schweres Unheil – man-made disaster –, Kampfeinsatz, schwerer Unfall, Beobachtung des gewaltsamen Todes Anderer oder Opfersein von Folter, Terrorismus, Vergewaltigung, Misshandlungen oder anderen Verbrechen)“. Und weiter: 

 

Dieses Ereignis

  • löst extremen Stress, Gefühle des Entsetzens, der Hilflosigkeit und des Kontrollverlusts aus; sowohl, wenn jemand selbst von dem Ereignis betroffen ist, als auch als Augenzeug:in, wie andere Menschen Opfer eines solchen Ereignisses werden
  • bewirkt die Verletzung der persönlichen Grenze und einen Vertrauensverlust in die Mitmenschen, in die Technik oder in die Umwelt

Trauma

Der Begriff „Trauma“ entstammt dem altgriechischen τραύμα: Wunde/ Verletzung. Im Plural: „Traumata“, “Traumen“. 

ICD 10

International Classification System of Diseases. Die ICD-10 ist die 10. Revision der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Sie dient der Verschlüsselung medizinischer Diagnosen. (Am 1. Januar 2022 ist die ICD-11 mit weiteren Krankheitsdiagnosen in Kraft getreten. Nach einer Übergangszeit von mindestens 5 Jahren soll die Kodierung nur noch nach ICD-11 erfolgen.)

  • und schließlich gelingt aufgrund der regelrechten Überflutung des Gehirns durch solch eine überwältigende Stressreaktion keine angemessene Verarbeitung des Erlebten; die gemachte Erfahrung lässt sich nicht wie gewohnt in den Erlebnisschatz integrieren und es ist nicht möglich, davon wieder Abstand zu gewinnen. In der Konsequenz dieser Überforderung des angeborenen biologischen Stresssystems kommt es zu seelischen, eventuell auch körperlichen Folgen.

Um von einem Trauma im klinischen Sinn auszugehen, müssen also folgende drei Kriterien erfüllt sein:

  1. Das Ereignis stellt eine existenzielle Bedrohung dar und würde von den meisten Menschen als schwere Bedrohung erlebt.
  2. Die Betroffenen sind mit der Verarbeitung des Erlebten überfordert und haben ihre persönlichen Möglichkeiten ausgeschöpft.
  3. Das Ereignis hat eine nachhaltige Auswirkung auf die Betroffenen, Leid und Beeinträchtigung der Alltagsbewältigung sind die Folgen.

Doch nicht jedes belastende Erlebnis bewirkt bei den Betroffenen eine Traumatisierung. Dazu unten weiter mehr.

Festhalten zum Phänomen Trauma lässt sich:

  • Ein psychisches Trauma kann jeden Menschen treffen
  • es ist ein extrem bedrohliches Ereignis 
  • es übersteigt unsere Bewältigungsmöglichkeiten 
  • ein Mensch kann das Ereignis (1) als Opfer, (2) als Zeug:in oder (3) indirekt erleben (z.B. über visuelle oder schriftliche Berichte verstörender Ereignisse oder die Konfrontation mit traumarelevanten Reizen im Rahmen der beruflichen Tätigkeit) 
  • das Ereignis erzeugt starke unangenehme Emotionen wie z.B. Angst, Hilflosigkeit, Ohnmacht 
  • das Ereignis würde so ziemlich jeden anderen Menschen ebenfalls in Verzweiflung stürzen 
  • das Ereignis erschüttert das Selbst- und Weltverständnis nachhaltig 
  • Traumata können eingeteilt werden nach Häufigkeit oder Ursache
  • Traumata können unterschieden werden in 
    • Schocktrauma: ein einzelnes abgegrenztes Ereignis, das meist gut im Gedächtnis geblieben ist
    • Entwicklungstrauma: zumeist hoher, über längere Zeit anhaltender Stress; oftmals damit verbunden, sich nirgends sicher zu fühlen
    • Soziales Trauma: ein Ereignis, das viele Menschen betrifft (z. B. Zugunglück) 
    • Trauma-Reaktivierung im Alter (siehe unten)
    • transgenerationales Trauma (siehe unten
    • Sekundärtrauma oder indirektes Trauma (siehe unten). 

PTBS

Die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) tritt als eine verzögerte psychische Reaktion auf. Typisch    für die PTBS sind die sogenannten Symptome des Wiedererlebens, die sich den Betroffenen tagsüber in     Form von Erinnerungen an das Trauma, Tagträumen oder Flashbacks, nachts in Angstträumen aufdrängen. Eine PTBS tritt teilweise erst nach langer Zeit auf.

Als Symptome und Traumafolgen gelten:

  • Hypervigilanz (ständige Übererregung): hohe Spannung, Schlaflosigkeit, Essen zur Beruhigung, Substanzmissbrauch (Sucht), innere Unruhe, Angst und Panikzustände, Panikattacken, Konzentrationsschwierigkeiten, Wutanfälle, Hyperaktivität, Sprunghaftigkeit
  • Flashbacks (Erinnerungen, die den Menschen einholen, als würde die Situation nochmals erlebt werden) 
  • Zwangsstörungen, Depression, Angststörungen
  • bei Untererregung: Erschöpfung, Kraftlosigkeit, Lustlosigkeit, gestörtes Essverhalten, Substanzmissbrauch (Sucht), Gefühl von Sinnlosigkeit, Abgeschnittensein, sich anders und fremd fühlen
  • sehr häufig treten aber auch subtilere, weniger eindeutige Symptome auf.
Traumata lassen sich im Kontext betrachten:
  • Traumata, die als Gruppe erlebt werden, sind leichter zu überwinden als solche, bei denen das Gefühl besteht, „mir allein“ ist es widerfahren
  • ein traumatisches Ereignis ist zudem leichter zu bewältigen bei schicksalshaften Ereignissen oder zufälligen Katastrophen, z. B. bei Naturkatastrophen
  • viel schwieriger ist es, wenn das Trauma von einem anderen Menschen – vielleicht sogar von einem nahestehenden/ vertrauten Menschen – verursacht wird („man made trauma“)
  • dauerhafte Traumatisierungen, d. h. mehrfache oder langandauernde Wiederholung, führen häufiger zu einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) als ein einmaliges Erlebnis
  • die Wirkungen sind ferner abhängig von persönlichen Faktoren (soziales Netzwerk, allgemeine psychische Verfassung, Lebensalter, Vorbelastungen, Ressourcen)
  • in vielen Fällen verschwinden nur wenige Wochen nach einem alleinigen Ereignis die akuten Belastungsreaktionen, ohne dass die betroffene Person viel dazu tun muss. Oft reicht schon ein Sicherheit gebendes Umfeld aus, damit die Psyche/ die Seele und der Organismus zur Ruhe finden und die betreffende Person die Kontrolle über das eigene (Er)Leben wiedererlangt.

Frühere Traumata können im Alter reaktiviert werden:

Oft gelingt es Menschen aufgrund ihrer zur Verfügung stehenden Kräfte und den ihnen gestellten Aufgaben, auch nach einem Trauma ein mehr oder weniger normales Leben zu führen. Die Bewältigungsstrategien sind ausreichend, um mit der Belastung umzugehen. Die Versorgung der eigenen Kinder, die Pflege von Angehörigen oder die beruflichen Anforderungen bedingen, dass der Fokus auf andere wichtige Lebensbereiche gelenkt ist; dadurch gerät das Trauma für eine Zeit, manchmal für Jahre, in den Hintergrund.

Mit zunehmendem Alter kommt es jedoch zur Abnahme der Ressourcen (Bewältigungsmechanismen), z.B. durch weitere Gebrechen, Erkrankungen oder andere Belastungen. Wenn eine kritische Schwelle überschritten wird, kann es sein, dass die Bewältigungsmechanismen nicht mehr ausreichen. Dann werden für die Betroffenen plötzlich Trauma-Erinnerungen sehr präsent und es können sich Traumafolgestörungen entwickeln, inkl. gesundheitlicher Symptomatik oder sozialer Probleme. Dann können auch eigentlich alltägliche Signale – Gerüche, Geräusche, bestimmte Situationen – die Ängste von früher wieder aktivieren (Trigger) und die betroffene Person überwältigen. Hier geschieht eine Reaktivierung des Traumas. Und manchmal geschieht es, ohne dass eine konkrete Erinnerung an das verursachende Ereignis besteht. 

Diese Reaktivierung betrifft vor allem Menschen ab dem 65. Lebensjahr. 

Eine weitere Traumaebene ist die Transgenerationale Traumaweitergabe: 

Wichtige Erkenntnisse liefert hier die Epigenetik. Die Epigenetik beschäftigt sich mit dem Zusammenspiel von Umwelt und Genetik. Demnach können äußere Faktoren Gene beeinflussen und sie auch an- und ausschalten. So kommt es, dass Vorfahren ihre Erlebnisse über ihre veränderten Gene an ihre Nachkommen weitergeben. Die Nachfahren tragen z. B. Ängste, Selbstzweifel oder Scham in sich, ohne die Gründe oder Zusammenhänge zu verstehen. 

Das heißt nicht, dass eine Traumafolgestörung bei den Nachkommen vorherbestimmt ist (jeder Mensch hat außerdem zwei Elternteile), aber es kann eine gewisse Verletzlichkeit (Vulnerabilität) gegeben sein.

Sexualisierte Gewalt

Von sexualisierten Gewalterfahrungen geht oft ein doppeltes Leiden aus: Das Thema der sexuellen Gewalt wurde damals verschwiegen und ist auch heute noch für die oder den Betroffenen schambesetzt – das kann die Verarbeitung oder Bearbeitung des Traumas massiv erschweren. 

PTBS im Alter

Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) sind überdurchschnittlich häufig bei älteren Patient:innen zu finden.

Sekundäre Traumatisierung

Ferner existiert die Sekundäre Traumatisierung, auch „indirekte“ Traumatisierung genannt:

Sekundäre Traumatisierung beschreibt eine Traumatisierung, die ohne direktes eigenes Erleben des Ausgangstraumas entsteht. Sie kann sich durch viel oder regelmäßigen Kontakt mit traumatisierten Personen und/ oder ihren Angehörigen entwickeln. Oder sie entsteht durch die – in der Regel ebenfalls häufige oder wiederkehrende – Beschäftigung mit visuellen, auditiven oder schriftlichen Zeugnissen belastender Ereignisse wie Gewaltverbrechen, Naturkatastrophen oder Kriegen. Die betroffenen Personen zeigen dabei Symptome, die denjenigen Symptomen von Menschen mit primärer Traumatisierung gleichen. Eine sekundäre Traumatisierung entwickelt sich in der Regel allmählich. 

Sekundäre Traumatisierung geschieht zumeist im beruflichen Kontext. Nach gegenwärtigem Forschungsstand sind Berufsgruppen wie Psychotherapeut:innen, Supervisor:innen und z. B. Polizist:innen davon betroffen; sowie allgemein Angehörige helfender Berufe wie Feuerwehrleute, Notfallhelfer:innen, Sozialarbeiter:innen, Pflegekräfte. Aber auch Archivar:innen, Journalist:innen und Wissenschaftler:innen können betroffen sein. Geschichtswissenschaftler:innen etwa beschäftigen sich beispielsweise jahrelang mit denselben grausamen Verbrechen, sprechen ausgiebig mit Zeug:innen, bearbeiten ungeschöntes Bild- und Tonmaterial. Oder Archivar:innen erfassen Unterlagen zu Strafprozessen, in denen es um Gewalthandlungen aller Arten geht. (Vergleiche auch: https://intrapsychisch.de/sekundaere-traumatisierung)

Wieso einige Menschen im beruflichen Kontext eine sekundäre Traumatisierung entwickeln und andere nicht, hängt neben der beruflichen Aufgabensituation auch von der jeweiligen Person und deren Lebensumstände ab.

So verfügen Personen mit sekundärer Traumatisierung zumeist über eine mitfühlende Haltung: Im Gehirn entsteht eine emotionale Reaktion auf das geschilderte oder dokumentierte Ereignis. Dabei werden dieselben Stresshormone ausgeschüttet wie bei den Personen, die das Trauma direkt erleben. 

Eine Rolle spielen ferner Faktoren wie die Resilienz bzw. vorhandene oder nicht ausreichend vorhandene Bewältigungsstrategien, der jeweilige situative Kontext, das soziale Umfeld und eigene Traumaerfahrungen der beteiligten Person. Und schließlich entwickeln Gewaltdarstellungen von Menschen an Menschen (man made trauma/ man made disaster) zumeist mehr verstörende Kraft als z. B. Naturkatastrophen.

Den größten Risikofaktor allerdings bildet eine dauerhafte Beschäftigung mit einem traumatischen Inhalt, wobei dieser traumatische Inhalt variieren kann. 

Friedrich Nietzsche formulierte es so: „Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“

Traumasensibel im Arbeitskontext:

Gegenwärtig diskutiert und zum Teil eingefordert wird ein traumasensibler Umgang miteinander im Arbeitszusammenhang. Konkret bedeutet dies, „auch ohne Kenntnis über eventuelle Traumatisierungen eines anderen Menschen traumabewusst, traumalindernd und Retraumatisierung vermeidend zu arbeiten und allen Personen, mit und ohne Traumaerfahrungen, so zu begegnen, in Zusammenarbeit und Dialog zu treten, sie zu begleiten“.

Zu vermeiden gilt dabei eine vorschnelle Zuschreibung wie „Sie ist traumatisiert„ und daraus sofort einen Handlungsauftrag abzuleiten. Auch wenn eine Person Symptome zeigt, die eventuell auf eine Traumatisierung hindeuten. Im Rahmen eines im Frühjahr 2024 bei SOCIUS durchgeführten Labors zeigten sich folgende Fragen als hilfreich, um die jeweils eigene (Handlungs-)Perspektive zu schärfen:

  • Handelt es sich um eine tatsächliche Diagnose oder um meine individuelle Einschätzung?
  • Was ist der konkrete Gruppen-, Team- oder Organisationskontext?
  • Was ist hier mein Auftrag?
  • Ist hier, in meinem Mikrokontext, der richtige Ort/ der richtigen Rahmen für eine Intervention meinerseits?
  • Und was kann ich überhaupt halten bzw. bin ich hier wirklich kompetent?

Mögliche eigene Reaktionen bzw. Interventionen lassen sich außerdem im Rahmen interner oder externer Beratung reflektieren. Intern kann dies in Form eines vertraulichen Gesprächen mit Kolleg:innen, Vorgesetzten, Personalverantwortlichen und – sofern vorhanden – Gesundheitsbeauftragten geschehen; oder mithilfe der ebenfalls vertraulichen Instrumente Kollegiale Beratung und Supervision. Ich kann aber auch externe Beratung in Anspruch nehmen, z. B. bei Krisendiensten wie dem Berliner Krisendienst oder der Telefonseelsorge. Auf diese Weise werde ich aktiv und übernehme ich Verantwortung bei zugleich größtmöglichem Schutz der betreffenden Person sowie meiner selbst. Und letzteres ist schließlich auch wichtig.

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Es gibt keine machtfreien Räume

Es gibt keine machtfreien Räume

Mit Žaklina Mamutovič und Nele Kontzi hatten wir quasi zwei Pionierinnen des Anti-Bias-Ansatz in Deutschland ins SOCIUS labor im Juni eingeladen. Die beiden arbeiten seit über 23 Jahren zusammen im Anti-Bias-Netz. Sie klären auf, unterstützen, bieten Fortbildungen an, beraten und es ist ihnen sehr anzumerken, dass sie das voller Überzeugung und Leidenschaft tun. Bereits 2015 hat das Kollektiv des Anti-Bias-Netz ein Buch zum Anti-Bias-Ansatz veröffentlicht.

Sie werden nicht müde beizutragen zu einer vorurteilsbewussteren und diskrminierungsärmeren Gesellschaft. 

Was ist der Anti-Bias-Ansatz? 

Der Anti-Bias-Ansatz ist eine (pädagogische) Strategie, die darauf abzielt, Vorurteile und Diskriminierungen zu erkennen, zu reflektieren und abzubauen. Diese Methode wurde ursprünglich in den USA entwickelt und hat sich seit den 1980er Jahren weltweit verbreitet. Insbesondere mit dem Ende des staatlichen Apartheidsregime in Südafrika hat der Ansatz dort weite Verbreitung  gefunden. In Deutschland hat der Ansatz in der Mitte der 90er Jahre angekommen, hat sich Anfang der 2000er etabliert und ist seit dem stetig weiterentwickelt worden. 

Zentrale Aspekte des Anti-Bias-Ansatzes sind

Bewusstmachung von Vorurteilen: Der Ansatz hilft eigene Vorurteile und Stereotypen zu erkennen. Dies geschieht durch Reflexion und Diskussion über verschiedene Formen von Diskriminierung und Ungleichheit, sei es aufgrund von Herkunft, Geschlecht, sozialer Klasse, Behinderung oder anderen Merkmalen.

Vielfalt und Inklusion: Der Anti-Bias-Ansatz will Vielfalt und Inklusion fördern. Er ermutigt dazu, Unterschiede zu schätzen und als Bereicherung zu sehen, anstatt sie als Grundlage für Diskriminierung zu verwenden.

Kritische Reflexion: Ein wichtiger Bestandteil ist die kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Machtstrukturen und deren Einfluss auf Individuen und Gruppen. Dies beinhaltet das Hinterfragen von Normen und Praktiken, die Ungleichheiten aufrechterhalten, sowie den eigenen individuellen Beitrag, den jede*r dazu leistet. 

Empowerment: Der Ansatz zielt darauf ab, Individuen zu stärken und ihnen die Werkzeuge zu geben, sich gegen Ungerechtigkeit und Diskriminierung zu wehren. Dies beinhaltet die Förderung von Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl, insbesondere bei Menschen, die von Diskriminierung betroffen sind.

Praxisorientierte Ansätze: In der Praxis umfasst der Anti-Bias-Ansatz eine Vielzahl von Aktivitäten und Methoden, von denen wir im SOCIUS labor einige ausprobiert haben.

Was hat Thema Diskriminierung mit dir zu tun?

Das war die Einstiegsfrage zur Check-in-Runde. Welchen Gegenstand in deiner Nähe verbindest du mit Diskriminierung? Oder was ist ein Symbol dafür? Zum Vorschein vor der Kamera kamen ein Reisepass, ein Schlüsselband, ein Foto mit drei Generationen von Frauen, eine Postkarte, ein Stein, Geschichten aus Büchern wie “Die Schönheit der Differenz” (das ich vor ca. einem Jahr hier rezensiert habe), und aus Lebenserfahrung als “Streik-Feministin” in der Schweiz der 80er Jahre. Wir hörten Geschichten von Menschen, die den Eindruck haben, erst spät in ihrem bisherigen Leben verstanden zu haben, dass Diskriminierung ein Thema ist, das auch sie angeht und von dem sie betroffen sind, und solche von Personen, die schon sehr früh in ihrem Leben bewusste Diskriminierungserfahrungen gemacht haben, sei es aufgrund des eigenen Namens oder aufgrund der sozialen Situation ihrer Familie. Schon hier wurde klar, wie unterschiedlich die Zugänge zum Thema sind. Auffallend war auch, dass die Gruppe der Teilnehmenden überproportional weiß, weiblich und cis war.

Der Hinweis auf die Diskriminierungsform Adultismus (Form der Diskriminierung, bei der Erwachsene Kinder und Jugendliche aufgrund ihres Alters und ihrer vermeintlich geringeren Lebenserfahrung und Weisheit benachteiligen, bevormunden oder herabsetzen) war meines Erachtens hier sehr lehrreich, denn diese Erfahrung teilen wir alle und haben dabei sehr früh gelernt, dass Diskriminierung okay und weit verbreitet ist. 

Sensibilisierung

Im Anti-Bias-Ansatz wird davon ausgegangen, dass wir grundsätzlich zu wenig über Diskriminierung sprechen und dass es, wenn es zu Sprache kommt, entweder von direkt Betroffenen erwartet wird, oder aber nicht direkt Betroffene über die Diskriminierung anderer sprechen. 

Was zu selten passiert, ist darüber zu sprechen, wie wir selbst (unbewusst) diskriminierend handeln und was dazu beiträgt. In einer Speed-Dating Übung hatten wir in Dyaden in fünf Runden je fünf Minuten Zeit uns über die folgenden Fragen auszutauschen. 

  • Welchen Bildungsabschluss haben deine engsten Freund*innen und wo hast du sie kennengelernt?
  • Wann hast du gemerkt, dass es unterschiedliche sexuelle Orientierungen gibt? 
  • Wann und wo bist du das erste Mal mit jüdischem Leben in Kontakt gekommen? 
  • Meinst du der Begriff “Behinderung” sollte auf dem Sprachgebrauch gestrichen und mit einem anderen ersetzt werden?
  • “Ich bin in den besten Jahren” – was heißt das? 

Wie Nele uns wissen ließ, gibt es noch viele weitere solche Fragen, aber schon diese fünf hielten innerhalb kürzester Zeit einen großen selbstreflektorischen Gewinn für uns bereit. Wie auch in anderen Settings, ist es auch hier wieder als sehr verbindend wahrgenommen worden, anderen beim “Gedanken-machen” zuzuhören. 

Diskriminierungsrisiken und -formen

Accountable Spaces

Die Möglichkeit Diskriminierung anzusprechen, ist eine wesentliche Voraussetzung um sie zu reduzieren. Allerdings gibt es hier nach wie vor in den meisten Gruppen, Teams und Organisationen große Hürden. Hier ist es hilfreich sich mit dem Konzept der “Accountable Spaces” zu befassen. Sie unterscheiden sich von den sogenannten “Safer spaces” und “Braver spaces” dahin gehend, dass in “verantwortlichen Räumen” jede Person Verantwortung für sich selbst, die eigenen Absichten, Worte und Handlungen übernimmt. Es bedeutet, einen Raum mit guten Absichten zu betreten, und zu verstehen, dass erst wenn die Handlung im Einklang mit der Absicht steht, das commitment für Verantwortlichkeit wahrhaftig wird. 

Verabredungen für verantwortliche Räume ermöglichen es Verbündeten und marginalisierten Gemeinschaften, sich auf eine Reihe von handlungsorientierten Verhaltensweisen/Aktionen während der Diskussion zu einigen, und auch darüber hinaus in Echtzeit sich als Verbündete zu zeigen. Es ermöglicht den Teilnehmenden, ihre gut gemeinten Absichten durch eine gemeinsame Reihe von Vereinbarungen mit Wirkung in Einklang zu bringen.

Solche Richtlinien legen eine gleiche Verpflichtung für alle fest, sich gerecht und inklusiv zu verhalten, um ein tieferes Verständnis für diverse Lebenserfahrungen zu fördern.

Die University of California, Los Angeles (UCLA) hat dafür folgende Vorschläge erarbeitet, von denen viele Euch sicherlich schon bekannt sind: 

  1. Bitte unterbreche andere nicht.
  2. Höre aktiv zu, anstatt nur darauf zu warten, zu sprechen. Verwende bei Bedarf Stift und Papier, um Gedanken aufzuschreiben.
  3. Achte auf deine Gesamt-Redezeit und sprich, um zur Diskussion beizutragen.
  4. Gib jeder Person die Chance zu sprechen, ohne unnötigen Druck.
  5. Denk daran, dass wir alle lernen. Wenn du etwas Beleidigendes oder Problematisches gesagt hast, bitte für deine Handlungen oder Worte um Entschuldigung, nicht dafür, dass sich eine andere Person beleidigt fühlt.
  6. Erkenne und akzeptiere Reibung und Spannung als Beweis dafür, dass mehrere Ideen in die Diskussion eingebracht werden — nicht dafür, dass die Gruppe sich nicht versteht.
  7. Gib Anerkennung, wo sie fällig ist, z.B. durch Wiederholung und Bezugnahme auf die Ideengeber*in. 
  8. Frag nach Klarstellungen — statt in Annahmen und Projektionen zu bleiben.
  9. Spreche für dich selbst. Verwende „Ich“-Aussagen und teile nicht die Lebenserfahrungen anderer.
  10. Worte und Tonfall sind wichtig. Achte auf die Auswirkungen dessen, was du sagst, und nicht nur auf deine Absicht.
  11. Reflektiere nach dem Verlassen des Raums über umsetzbare Punkte, um in deinem täglichen Arbeits- oder Privatleben ein*e Verbündete*r zu werden. Kannst du es nicht herausfinden? Nutze das Internet oder die Bibliothek, aber belaste aus Rücksicht auf die wenigen schwarzen Menschen in deinem Büro nicht andere, besonders nicht diejenigen aus benachteiligten Gemeinschaften, mit der Aufgabe, dir etwas beizubringen.
  12. Wenn du als Verbündete*r der Gemeinschaft teilnimmst, gib bitte den benachteiligten und marginalisierten Gemeinschaften Raum, um ihre Erfahrungen zu teilen.
  13. Frage, ob es andere Richtlinien gibt, die sie benötigen, um sicherzustellen, dass die Diskussion keine weiteren Traumata oder unnötigen mentalen oder emotionalen Belastungen verursacht.

Mit Hilfe von KI übersetzter Text von Elise Ahenkorah auf Medium

Wenn wir über Diskriminierung sprechen wollen, müssen wir immer auch über Macht sprechen. 

Was gibt Menschen Macht?

Diese Sammlung ist während des Labors entstanden. 

Zum Abschluss des labors haben wir uns darüber ausgetauscht, wie Machtbewusstsein in Teams und Organisationen erhöht werden kann, und wie sehr andere darauf angewiesen sind, dass wir unsere Macht nicht ausnutzen. Die Frage: Was ermöglicht es, dass Menschen ihre Macht nicht ausüben, nicht dominant sind? haben wir nicht mehr ganz zu Ende besprechen können. 

Insgesamt haben wir uns nachdenklich und motiviert aus dem SOCIUS labor verabschiedet und werden am Thema dran bleiben. 

Autorin Nicola Kriesel

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Noch längst nicht alles gesagt

Noch längst nicht alles gesagt

Spurensuche zur jüngeren deutsch-deutschen Geschichte in Organisationen

Schon die Einstiegsrunde ließ erahnen, dass dies ein besonderer Abend werden würde. Eine kleine feine Gruppe von 6 Personen hatte sich zum SOCIUS labor live mit anschließendem Ausklang am Kaminfeuer eingefunden, um zu erkunden, wo und wie uns eigentlich das Thema Ost-West in unseren Organisationen heute noch beschäftigt. 

Bei der Sammlung der Fragen, welche die Teilnehmenden in Bezug auf das Thema mitbrachten, fand sich nichts an üblichen Allgemeinplätzen, sondern sofort ein Vorstoß in die Tiefen persönlichster Geschichten, Verletzungen und fundamentaler Auseinandersetzungen.

„Wie kann ich dem Schmerz begegnen?“

 „Was wäre gewesen, hätten wir verschiedene Sprachen gesprochen?“ 

„Warum werden Einigungsprozesse, die auf Augenhöhe liefen, nicht erzählt?“ 

„Hat es irgendetwas verändert im übernehmenden System West?“ 

„Wie und wo können wir uns (endlich?) (wieder?) wirklich begegnen, in Kontakt kommen und damit vielleicht besser verstehen?“

Falls wir uns bis dato gefragt haben sollten, ob das Thema 35 Jahre nach der Wiedervereinigung wirklich noch eine Relevanz hat, wurden wir unmittelbar eines Besseren belehrt. Dabei war es nicht das Anliegen und schien auch nicht notwendig, als Ausgangspunkt des Austausches die persönlichen Geschichten voreinander auszubreiten. Es war wie ein stilles Einverständnis und Wissen umeinander: Natürlich gibt es schmerzhafte Erfahrungen, Prägungen von Verlust, Entwurzelung und Abwertung. Und Schulter an Schulter reihen sich gleichfalls auch Erfahrungen von Freiheit, Glück und nie dagewesenen Chancen. 

Schnell kamen wir zu dem Schluss, dass die biographischen Prägungen in Ost und West noch immer allgegenwärtig sind und unser Miteinander im Privaten wie im Arbeitsalltag prägen. Dabei gibt es auch 2024 noch Tendenzen, zu meinen, stereotypes Verhalten zu entdecken und daraufhin Personen vorschnell in die Schublade Ossi-Wessi zu stecken. Biographischen Prägungen begegneten uns dabei über alle Alterskohorten hinweg und führte uns zu der Frage, ob diese zum Teil innerhalb von Familien weiter reproduziert werden oder ob es so etwas wie vererbte Identitäten gibt? So war die zum Teil noch immer erfolgende (wenn auch manchmal eher unterbewusst vorgenommene) Kategorisierung bei der Bekanntschaft mit neuen Menschen „Ist sie/er aus dem Osten oder Westen?“, durchaus ein vertrautes und noch immer beobachtbares Phänomen. Eine Schlussfolgerung unserer Diskussion war, dass die wahrgenommenen Unterschiede – ob über Stereotypisierung überhöht oder nicht –in der eigenen Wahrnehmung oft zu Unsicherheiten im Umgang mit den unterschiedlichen biographischen Prägungen führen.

Die zunächst neutrale Benennung von Unterschieden fand laut der Teilnehmenden einen Ausdruck in Erfahrungen von einerseits stereotypen Zuschreibungen ostdeutschen Identitäten gegenüber, Erfahrungen von Verlust, Zurücksetzung, Herabwürdigung, Chancenungleichheit und Diskriminierung. Verletzungen zeigten sich dabei aber durchaus auch auf beiden Seiten – ohne dass es darum ging, die Erfahrungen auf der einen Seite gegen die auf der Anderen gegenrechnen zu wollen. Es wurden auch Erfahrungen des otherings benannt von Personen in eindeutig anders-deutsch sozialisiert-dominierten Settings. Im Vordergrund stand dabei vor allem das als gescheitert erlebte Bemühen um echte Begegnung, Verstehen und am Ende auch um Zugehörigkeit. 

Schmerzhaften biographischen Erfahrungen und Wut über gesellschaftliche Ungleichheiten stand gleichzeitig ein Erleben einer gewissen eigenen, aber auch gesellschaftlichen Sprachlosigkeit gegenüber. Im Raum stand die Aussage, sich nicht einreihen zu wollen in eine „Olympiade des Betroffenseins von Diskriminierung“, was in der Tendenz dazu führen kann, persönliche Triggerpunkte als nicht „angemessen genug“ einzustufen, um das Ostdeutschsein wirklich zum Thema zu machen. 

Die große Frage, die dabei benannt wurde, lautete: Wie hindern uns die Erfahrungen der letzten 30 Jahre, uns vorbehaltlos zu begegnen? Wie kann echte Begegnung auf Augenhöhe aussehen?

Als eine zentrale Voraussetzung machten wir hier einerseits eine Artikulationsfähigkeit zu erlebten Verletzungen aus, ohne dabei dem als stereotyp erlebten Bild des „Jammer-Ossis“ zu entsprechen. Auf der anderen Seite wurde aber auch ein tiefes Bedürfnis benannt, dass in politischen und gesellschaftlichen Kontexten Anerkennung und auch Bedauern über die gemachten Erfahrungen von Abwertung und Diskriminierung vieler Ostdeutscher angemessen artikuliert wird. Eine symbolträchtige Handlung mit Strahlkraft könnte hier einen Beitrag leisten, alte Wunden zu heilen. 

Zu welchen Schlussfolgerungen führte uns der tiefgehende Austausch am Ende des Abends? 

Die fundamentalste Erkenntnis lautete dabei: Wir sind alle Menschen mit einer unterschiedlichen Geschichte. Es braucht immer wieder Gewahrsein darüber, es braucht Neugier zu verstehen und Mut, dafür Sprache zu finden. Um in ein offenes Gespräch zu kommen, wäre eine Voraussetzung, Nicht-Augenhöhe als Ausgangsbasis anzuerkennen. Denn sowohl gesamtgesellschaftlich als auch im unmittelbaren zwischenmenschlichen Kontakt fällt es den Privilegierteren (den Besserverdienenden, den durch ererbten Wohlstand Abgesicherten, Menschen in Top-Positionen, Rang-Höherstehenden etc.) immer schwerer, die Größe soziale Ungleichheiten wahrzunehmen. Aber auch untere Einkommensschichten haben eine verzerrte Wahrnehmung gegenüber besserverdienenden Berufsgruppen (siehe: Christoph Butterwege, Aus Politik und Zeitgeschichte: Ungleichheit in der Klassengesellschaft, 37-38, 2022. Siehe auch den Blogbeitrag von Nicola Kriesel zur Machtkritik). Vielleicht bräuchte es perspektivisch irgendwann so etwas wie „Critical West-ness“? Oder zumindest die Integration des Ostdeutschseins in die Diversitätskategorien (die Zuordnung zur Diversitätskategorie Ethnische Herkunft und Nationalität ließe sich argumentieren, wenn es eine Anerkennung der Tatsache gäbe, dass auch Ostdeutsche über eine Migrationserfahrung ohne Ortswechsel verfügen). Um zwischenmenschliche Gespräche, Reflektion und Austausch in Teams oder auch politische Debatten fruchtbar zu gestalten, bräuchte es vor allem eine Bereitschaft zu mehr Differenziertheit – um die Ambivalenz der unterschiedlichen Gefühls- und Gemengelagen navigieren zu können. „Wir müssen wieder lernen, viel mehr zu fragen, ohne bereits zu glauben, die Antwort zu wissen“, lautete ein persönliches Fazit. 

Und das auch ernüchterte Resümee am Ende lautete: Was wir heute angerissen haben, hat höchste politische Relevanz, ist integraler Teil der großen Debatten! 

Autorin Joana Ebbinghaus

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Ein Leitbild namens Verwaltungskompass

Ein Leitbild namens Verwaltungskompass

Was hat dich geprägt? 

  • Die Frage nach dem Mythos einer Organisation? Es gibt in jeder Organisation Mythen, die immer und immer wieder erzählt werden. Diese zu entschlüsseln und sich ihrer bewusst zu werden, hat mich geprägt. 
  • Meine iranische Mitbewohnerin, die eine krasse Feministin ist und im Knast schon gehungert hat, hat mich geprägt, ihre Geschichten und ihre Art in der Welt zu sein. 
  • Die Idee selbstbestimmt zu leben – hin zu einer Utopie. 
  • Mich prägen die Themen Klimawandel und Trauer. Welche kollektiven Prozesse brauchen wir um die Zerstörung unseres Planeten zu betrauern?
  • Die frühe Politisierung in jungen Jahren, als ich am Rande eines Großflughafens aufwuchs, für dessen Erweiterung quadratkilometerweise Wald gerohdet wurde.

Das sind nur einige der 20 Antworten auf die Frage in der Einstiegsrunde zum SOCIUS labor “intergrative Leitbildentwicklung” mit Jens Hartmann und Josephine Ulrich

Josephine war interne Multiplikatorin im Leitbildentwicklungsprozess der großstädtischen Verwaltung in der sie arbeitet, Jens ist externer Berater, der eben jene Verwaltung in ihrem Leitbildprozess begleitet hat. Ein spannendes Duo mit unterschiedlichen und sich ergänzenden Perspektiven. 

Der Sinn und Zweck von Leitbildern

Und darum geht es bei der Leitbildentwicklung auch immer wieder: verschiedene Perspektiven, unterschiedliche Prägungen, vielfältige Lebenserfahrungen, multiple Professionen – alle versammelt in einer Organisation und im besten Fall mit einer gemeinsamen Idee versehen, wie und aus welchem Grund wer mit welchem Ziel arbeitet. Das gilt für kleine Vereine, Start ups und aktivistische Verbünde genauso wie für Stiftungen, Unternehmen, Wohlfahrtsverbände und eben auch Verwaltungen. 

Leitbilder wollen Orientierung bieten. Sie sind eine Richtschnur für Entscheidungen, sie dienen der Identitätsstiftung, sie richten Aktivitäten aus, sie sollen ein Kommunikationsmittel sein und manchmal sollen sie auch eine Meßlatte für Ergebnisse sein. 

Der Verwaltungskompass entsteht

In einer Verwaltung mit 2500 Mitarbeitenden erscheint es wie eine Mammutaufgabe, diesen Erwartungen gerecht zu werden. 

Zum Glück gibt es Partizipation! Und Delegation. 

Josephine war in ihrer Verwaltung eine von 50 Multiplikator*innen, die aus allen Bereichen der Stadtverwaltung kamen und mit den externen Begleiter*innen die Kernarbeit in der Leitbildentwicklung erledigten. Ihre Aufgabe war immer wieder dafür zu sorgen, die Ideen, Bedarfe, Hoffnungen und Erwartungen aus ihren Abteilungen mit in den Prozess einzubringen. Dabei war verabredet immer mit drei Perspektiven zu arbeiten: ökologisch, ökonomisch und sozial.

  • Anspruchsgruppen: Für wen und mit wem arbeiten wir?
  • Bedarfe: Welche Erfordernisse, Bedürfnisse und Mängel erkennen wir?
  • Kompetenzen: Was können wir richtig gut?
  • Mission: Was ist unser Auftrag?
  • Vision: Wie sieht die ideale Verwaltung aus?
  • Rolle: Wer sind wir? Womit identifizieren wir uns?
  • Werte & Prinzipien: Wie handeln wir nach innen und nach außen? 

In diesem Prozess haben die Multiplikator*innen insgesamt sieben gemeinsame Workshoptage gehabt – für jede Frage einen Tag. Zusätzlich gab es noch mehrere Großveranstaltungen für die Mitarbeitenden, die ihre direkte Beteiligung gewährleisten sollte. Hier haben in der Regel 10% der Mitarbeitenden teilgenommen. 

Hier hat Jens sich von den Kolleg*innen des Terra-Instituts inspirieren lassen.

In einem Austausch unter den Laborteilnehmenden zu ihren Erfahrungen in der Arbeit  mit Multiplikator*innen – insbesondere in der kommunalen Verwaltung – kam heraus: 

  • Es gibt oft Angst und Widerstände vor Partizipation in den Leitungen, Partizipation wird mit dem Abbau von Hierarchien verwechselt 
  • Wir brauchen ganz viel Storylistening, in Gruppen- und Einzelinterviews, Geschichten wollen nicht nur erzählt werden, sondern vor allem gehört. 
  • Kleine Gruppen laden ein, dass alle was sagen, aber es gibt auch mehr sozialen Druck etwas sagen zu müssen. 
  • Meistens wird der Entwicklungsbedarf in Notsituationen gesehen, ohne Not werden solche Prozesse als “Störungen im Betriebsablauf wahrgenommen.
  • Gerade in Kommunen und Verwaltungen gibt es verbriefte Rechte für Bürger:innen, über die wird viel zu wenig gesprochen oder sich darauf bezogen, stattdessen wird die Energie in Auflösung von Widerstand aufgebracht. Die Haltung in der Verwaltung müsste doch “Dienstleistung für Bürger:innen” sein
  • kaum so etwas ist so umkämpft wie Personal, auch in der Verwaltung, Welches Amt hat wieviele Planstellen?

Wer sind wir?

Ein weiterer Schritt im SOCIUS labor war eine narrative Übung, die in Leitbildentwicklungsprozessen angewandt werden kann: 

Ich hatte das große Vergnügen, diese Übung mit Wera und Amelie aus der Wigwam eG machen zu dürfen und Geschichten über SOCIUS erzählen zu dürfen. Die Stichworte die Wera als Beobachterin/Zuhörerin mitschrieb und uns zurückmeldete, waren

Socius ist 

  • verrückt
  • authentisch
  • vertrauensvoll
  • transparent
  • tief und ernsthaft
  • hat schmerzhafte, trennende und stärkende Transformation hinter sich
  • aufmerksam
  • nachhaltig 

Mit dieser Rückmeldung entstand quasi eine neue Geschichte, die wiederum Amelie in ganze Sätze fasste. Dabei kam heraus: 

“Socius ist Fan langer Prozesse – dafür sind sie nachhaltig. Wir sind mehr als Kolleginnen, wir sind Weggefährtinnen und Freundinnen. Wir sind eine Genossenschaft und haften alle gemeinsam. Egal wer von uns berät, trägt Socius in sich. Wir gehen in die Tiefe und sind einfühlsam – wir hören zu. Wir vertrauen uns und in eine gemeinsame Zukunft.“

Diese kleine Beschreibung schickte ich noch am selben Abend in unseren Teamchat. Die Reaktionen waren: 😍🤩💫🙌

Diese Übung hat uns allen im Labor sehr gefallen und wir waren uns einig, die dass wir sie in diversen anderen Settings nutzen werden. 

Und warum jetzt integrativ?

Jens hat hier verschiedene Ansätze der Leitbildentwicklung zusammengebracht. Der stets notwendige systemische Blick wird kombiniert mit ebenso nötigen partizipativen Settings und angereichert durch narrativen Übung mit Perspektive auf einen erweiterten Nachhaltigkeitsbegriff. 

Insbesondere um Nachhaltigkeit zu gewährleisten bedarf es auch nach Abschluss des Leitbildentwicklungsprozesses Aktivitäten, die das Leitbild zu einem lebendigen Instrument der Organisation werden lassen. Hierfür kann es z.B. einmal jährlich einen organisationsweiten Leitbildtag geben (mir ist in den 20 Jahren meiner Arbeit bei SOCIUS erst einmal eine Organisation begegnet, die das tatsächlich macht), es könnten aber auch Patenschaft für die Themen des Leitbildes verteilt werden, die den Auftrag haben, das jeweilige Thema organisationsintern wach zu halten. Auch der Guerilla Gardening Prozess kann hier von Nutzen sein. 

Autorin Nicola Kriesel

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Das SOCIUS Pitchdeck in der Praxis

Das SOCIUS Pitchdeck in der Praxis

Laborbericht vom 21. März 2024

Wie entsteht kollektive Handlungsenergie?

Alignment ist eine delikate Angelegenheit. Der Korridor, in dem sich die gemeinsame Ausrichtung eines Teams abspielt, kann weiter oder enger gefasst sein. Wenn er zu eng wird, wird der Anspruch an verbindliche Gemeinsamkeit zum Korsett. Wenn er sehr weit ist, droht Beliebigkeit und Zerfall. Alignment bezeichnet dabei nicht unbedingt nur das Teilen von Werten und Zielen.  Es ist vor allem die Synchronisation von Handlungsenergie. Wie diese entsteht und was es braucht, um sie immer wieder herzustellen, ist für gelingende Selbstorganisation eine entscheidende Frage. 

Im Labor widmten wir uns unter anderem der Frage, welche Rollen in diesem diffizilen Spiel der Synchronisierungen von Handlungsenergie, kollektiver Navigation und Prozesskontinuität zu vergeben sind. Neben der Impulsgeber:in (showing up) erscheinen uns in selbstorganisierten Teams die persönliche Fähigkeit zwischen Führen und Folgen zu navigieren sowie die Möglichkeit beiseite zu treten und auch bei nicht 100% Überzeugung für das Vorhaben, den Weg frei zu machen, wesentlich. Hier ist Selbstnavigation in Hinblick auf innere Widerstände und Spannungen und ein reflektierter Umgang damit gefragt. Was nicht zuletzt auch dazu führen kann, einen schwerwiegenden Einwand zu formulieren und damit ein “Stopp”-Zeichen für das Vorhaben zu setzen. 

Im Labor gehen wir ihr in einer Fall-Simulation nach, unterstützt  mit dem von uns entwickelten Alignment Pitch Deck. Die Progression hat drei Runden: 1. Einbringen eines Impulses. 2. Austausch zur Bewertung des Vorhabens. 3. individuelle Commitments.

Einbringen von Impulsen 

Selbstorganisierte Teams leben von rollenbasierter Verantwortungsübernahme, aber auch von Momenten situativer Führung. Eine Person hat einen Impuls, legt ihn in die Mitte und andere schließen sich an, lassen das Vorhaben gewähren oder stellen sich dagegen. Dabei ist schon der Moment des Einbringens oft unklar. Ist es eine wilde Idee oder ein konkretes Vorhaben? Ist es eine Einladung zum Mitdenken, zum Mittun oder nur die Information über einen rollenden Zug? 

Das Pitchdeck gibt der impulsgebenden Person hierfür drei mögliche Optionen vor: Die „Greenlight”-Karte drückt den Wunsch nach schlichter Einwilligung aus, dass das Vorhaben durchgeführt werden kann. Aufschlussreich kann hier eine Reflexion sein, um welche knappe Ressource dabei verhandelt wird, die die Einwilligung der Anderen überhaupt erst erforderlich macht. Es könnte um Raum- und Budgetnutzung oder auch die Inanspruchnahme von Zeit, Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit gehen. 

Die zweite Alternative ist die „Einladungs”-Karte – ein Pitch, der die Tür zum gemeinsamen Handeln öffnet, ohne dass die Erwartung besteht, dass alle sich dem Impuls anschließen. Als dritte Option kann die „Appell“-Karte gespielt werden, mit der eine Aufforderung an das gesamte Team ausgesprochen wird, um sich einer Handlung anzuschließen. 

In einer anschließenden Informations- und Meinungsbildenden Runde können Fragen/ Meinungen geäußert werden. Dabei kann deutlich werden, dass es nicht immer hinreichend ist, dass die Einsortierung des Impulses ausschließlich durch die impulsgebende Person selbst erfolgt. Manches wird als Greenlight eingebracht, aber es bestehen Interessen und Ansprüche im Team zur aktiven Mitwirkung. Andersherum kann ein verbindlicher Appell auch zu einer Einladung heruntergestuft werden, wenn die Prämisse „alle oder keine:r“ stichhaltig hinterfragt wird.

Austausch zur Bewertung

In der zweiten Runde erfolgt eine Bewertung des Vorhabens anhand von zwei Sets von Feedback-Karten: Die strategische Bewertung gibt Rückmeldung zur Einschätzung des Potentials für das Team oder die Organisation im Ganzen – im Sinne einer Aufwands- und Ertragseinschätzung. Die persönliche Bewertung gibt Rückmeldung zum individuellen „Lustfaktor“ und zur Kapazität, die eine Mitwirkung ermöglicht oder verhindert. Die Karten werden in Runden ausgespielt und erläutert. Auf Grundlage dieser Rückmeldungen kann die impulsgebende Person ihren Vorschlag zurückziehen, modifizieren oder in die dritte Runde schicken.

Individuelle Commitments

Die dritte Runde besiegelt mit den Commitment-Karten das vorgestellte Vorhaben. Die Teammitglieder können sich dabei  wiederum zwischen drei Karten entscheiden:
A) Ich bin dabei und mache im Rahmen meiner Möglichkeiten mit. B) Ich gebe mein Einverständnis, dass das Vorhaben durchgeführt wird, aber ich bin nicht dabei (entweder weil ich keine Kapazitäten habe oder weil ich der Sache nicht im Wege stehen will, obwohl ich nicht 100% überzeugt bin. C) Ich habe einen schwerwiegenden Einwand und spreche mich dafür aus, dass das Vorhaben nicht umgesetzt wird.

Dass die Aushandlung von Impulsen auch mit dem Pitch Deck nicht reibungslos und schmerzfrei vonstatten geht, wird auch im Labor schnell klar. Deutlich wird aber auch, dass die Formatierung durch das Kartenset Klarheit und Transparenz schaffen kann, die den Prozess beschleunigt und im Kommunikationsverlauf Komplexität reduziert. 

Das Labor bringt noch eine weitere Erkenntnis: This is primal stuff. Die Annäherung an Alignment-Ability ist nicht allein Sache der Grosshirnrinde. Die Momente, in denen physisch erlebbar wird, dass eine gemeinsame Welle entsteht oder der Fluss blockiert ist, in denen eine eigene Positionierung eine emotionale Komponente hat – sei es in Körperübungen oder im achtsamen Wahrnehmen einer Auseinandersetzung – sind so mächtig und wesentlich, dass ein Training wie die Sieben Muskeln der Selbstorganisation auch hier nicht an der Verneigung vor dem somatischen Zugang zu kollektiver Entwicklung vorbeikommt.

Die Autor:innen

Andi Knoth

Lysan Escher

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Entspannt unter Spannung

Entspannt unter Spannung

Laborbericht: Selbstnavigation in rauen Gewässern, 23. Januar 2024

Spannung ist ein schillernder Begriff: auf der hellen Seite die spannende Geschichte, das gespannte Hinleben auf ein schönes Ereignis, die knisternde Spannung des Flirts mit der Welt… auf der dunkleren Seite die (Ver)Spannung bei Stress, die (An)Spannung bei Gefahr, die spannungsgeladene Stimmung vor dem Ausbrechen eines Konflikts. Spannung ist dabei vor allem eins: Energie. Ein System und ein Organismus ohne Spannungen ist tot

Im Kontext von Selbstorganisation wird Spannung oft als Veränderungskraft beschrieben, die sich aus der Lücke zwischen dem, was wir wahrnehmen und dem, was wir als Potential empfinden, speist. Die Bearbeitung von Spannungen ist in dieser Hinsicht ein notwendiger Akt von Entwicklung.

So richtig wohlig – das wird auch im Sieben Muskeln Labor deutlich – ist es uns in der Regel nicht, wenn Spannungen den Raum aufladen. Denn in jeder Spannung liegt auch Unsicherheit, und mit ihr die Wahrnehmung von Gefahr, die automatisierte Reaktionen wie Flucht, Kampf oder Erstarrung hervorruft. Wir können diese Unsicherheit nicht ausschalten, aber wir können lernen, das Unbehagen ihr gegenüber abzubauen. Und wir können trainieren, unsere automatischen Reaktionen unter Spannung durch bewusste Handlungen zu ersetzen. Das erfordert drei Schritte:

Wahrnehmen

Zunächst geht es darum, meine emotionalen und körperlichen Signale wahrzunehmen (Werde ich irgendwo eng? Geht mein Puls hoch? Fließt mein Atem noch? Schlägt mir etwas auf den Magen?). Wenn ich diese Signale frühzeitig aufnehme, habe ich die Chance, meinen Autopiloten zu unterbrechen – also nicht automatisch in eine Abwehr- oder Kampfhaltung zu gehen, sondern mich der Spannung neugierig hinzuwenden. Die Stärkung der Wahrnehmung innerer Signale funktioniert über Praktiken der Achtsamkeit – im Labor nutzen wir hierfür einen Bodyscan und eine somatische Übung zum „Auftauen“ erstarrter Haltungen.

Explorieren

Auf die Hinwendung folgt die Exploration. Um mit einer Spannung produktiv umzugehen, muss ich verstehen, wo sie herkommt, und was sie mir erzählt. Denkbar ist etwa, dass sie 

    • in mir durch widersprüchliche Ansprüche oder Impulse entsteht, die von aussen angestoßen werden, aber vor allem innen aufzulösen sind; 
    • in einer Beziehungskonstellation angelegt ist, in der Bedürfnisse oder Rollenanforderungen im Konflikt zueinander stehen, oder 
    • aus dem Feld kommt, etwa in Form struktureller Spannungen, die ich wahrnehme, die aber letztlich ihren Ursprung im System haben. 

Beitragen

Die Bewusstheit über die Natur der Spannung ermöglicht es mir, geklärt mit ihr umzugehen und effektiv zu ihrer Bearbeitung im Innen oder Aussen beizutragen. Wenn die Spannung primär in meinen inneren Widersprüchen liegt, können Coachingmethoden wie das Tetralemma oder Immunity to Change unterstützen. Wenn sie in einer Beziehungskonstellation verankert ist, sind Praktiken wie rollenbasiertes Tension Processing oder GFK hilfreich. Bei einer Spannungs-Übertragung aus dem Feld, muss ich mich entscheiden, ob ich mich der Spannung entziehe, oder meine Resonanz nutze, um ihre Ursachen im System zu bearbeiten.

Viele Menschen neigen dazu, innere Anspruchskonflikte nach außen zu projizieren und Feldspannungen als eigene Konflikte zu verinnerlichen. Die saubere Sortierung fällt dabei leichter, wenn ich zu diesen Deutungen mit Dritten in reflexiven Austausch gehen kann.

Der Dreischritt lässt sich als Grundlage gelingender Selbstnavigation verallgemeinern: Was spüre ich? Was bedeutet das? Was mache ich damit? In der Navigation rauer Gewässer (die oft schnelle und beherzte Reaktionen erfordert), ist er dabei besonders relevant und besonders herausfordernd. Das Einüben der Progression – so das Fazit des Labors –  ist ein Akt, der sich nicht im Rahmen eines Trainings, sondern über eine längere Zeit im achtsamen und reflektierten Alltagshandeln vollzieht.

Die Sieben Muskeln der Selbstorganisation (7M)

bilden die Eckpunkte eines Trainingskonzeptes zur Stärkung individueller Fähigkeiten und Haltungen für die Arbeit in selbstorganisierten Teams. Im Januar Labor wurden die beiden Muskeln Selbstnavigation und Souveränität im Umgang mit Spannungen beleuchtet. Im kommenden 7M labor geht es um die Handlungsfähigkeit in Komplexität und um Alignment Ability.

Autor Andi Knoth

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Im Fitness-Studio der Selbstorganisation

Im Fitness-Studio der Selbstorganisation

Selbstorganisation gehört zu regenerativem Arbeiten wie Kurkuma und Chili in ein gutes Curry. Doch während Gewürze unproblematisch dosierbar sind, kann man den Grad der Selbstorganisation von Teams nicht nach Belieben hochschrauben. Zu Selbstorganisation gehören Strukturen und Fähigkeiten, die Organisationen, Teams und die Menschen in der Organisation einüben müssen.

Diese Fähigkeiten können trainiert werden.

SOCIUS hat sieben Kernkompetenzen identifiziert, über die selbstorganisierte Teams verfügen müssen, und mit den Sieben Muskeln der Selbstorganisation ein erfahrungsbasiertes Trainingsprogramm entworfen, an dem wir ständig feilen und es gemeinsam mit unseren Kund:innen weiterentwickeln.

Eine dieser Gelegenheiten bot sich uns Anfang Mai in unserem SOCIUS labor zu den Sieben Muskeln der Selbstorganisation:

  • Kultivierung von Vertrauen.
  • Showing up: Präsenz (im Führen und Folgen)
  • Selbstnavigation.
  • Souveränität in rauen Gewässern.
  • Resonanz in Beziehungen.
  • Bewusstheit für lebende Systeme.
  • Einbindung im Groove.

Zunächst identifizierten die Teilnehmenden, welcher Muskel bei ihnen schon besonders gut ausgeprägt ist und welcher Muskel noch besonders trainiert werden sollte.

Gemeinsam haben wir dann unser Fitnesstool für „Showing up – Präsenz im Führen und Folgen“ getestet und verfeinert. Für Selbstorganisation ist es wichtig, dass jede Person selbstverständlicher Teil des Ganzen ist, sich in ihren Bedürfnissen, ihrem Wollen und ihrem Beitrag zeigt und auch bereit ist, den Impulsen anderer zu folgen. Showing up ist die Fähigkeit, innere und äußere Impulse wahrzunehmen und bewusste Entscheidungen zu treffen, welchen Impulsen wir folgen.

Bei dem diesbezüglichen Trainingstool handelt es sich um eine Übung in drei Schritten:

Schritt 1: Individuelle Reflexion und gegenseitiges Interview. Für was sind wir die Quelle? Unter Quelle (Source) verstehen wir dabei etwas, das wir ins Leben gebracht haben, etwas, das es ohne uns nicht geben würde (angelehnt an Peter König). Daraus leiteten wir ab, was uns im Leben besonders wichtig ist, etwas, für das wir stehen. Am Ende kondensierten sich Sätze wie „Ich bringe Lebensfreude in die Welt“, „Ich stehe dafür, sich dem Leben zu öffnen“ oder „Ich bringe Menschen zusammen“.

Im Schritt 2 ging es darum, diese Aussagen zu verkörpern, sich auf ein Podest vor die anderen Personen zu stellen und einzuüben, uns mit dem, was uns wichtig ist, unerschrocken zu zeigen.

Im Schritt 3 gaben die anderen Personen Resonanz und teilten, was sie erlebt haben.

Wir waren selbst erstaunt, wie schnell und tief die Übung die innersten Überzeugungen der Menschen berührt hat. Was als spielerischer Impuls gedacht war, entwickelte sich rasch zu tiefgreifenden Gesprächen, in denen wir uns dem Kern unseres Wollens in der Welt näherten. So kamen wir alle berührt und bereichert aus der Übung.

Gleichzeitig bot sich aber auch die Gelegenheit, an der Übung weiter zu feilen. Zwei Impulse waren:

Der erste betraf die Rolle der interviewenden Person in Schritt Eins: Sie war angehalten, nicht in vorschnelles „Ja, ich verstehe dich“ abzutauchen, sondern einen Zustand der unwissenden Neugier aufrechtzuerhalten, die immer wieder Fragen stellt, wie: „Das verstehe ich noch nicht ganz, kannst du das nochmal erläutern.“ Der erwünschte Effekt, dass sich durch diese Art des Fragens die interviewte Person immer weiter exploriert, wurde nicht erreicht und die meisten Gesprächspaare wichen daher von der vorgeschlagenen Formatierung ab.

Der zweite Impuls zur Weiterentwicklung betrifft die Rückmeldung der Gruppe nach der Showing-Up Übung. Auch wenn sie stets positiv waren, fühlten sie sich mitunter nach Lob und Bewertung an. Alternativen hierzu sind vielleicht ein ritualisiertes Bezeugen, wie „Ich sehe dich“ oder im Anschluss an die Übung erneut mit der Person in Resonanz zu gehen, mit der das Interview in Schritt 1 geführt wurde. Wir werden weiter feilen.

Wenn ihr beim nächsten Muskel dabei sein wollt, lest aufmerksam den SOCIUS brief. Es wird weitere Muskellabore geben.

In diesem Sinne: Bleibt dran, wir sehen uns im Fitnessstudio!

Ralph Piotrowski und Andreas Knoth waren diesmal die Fitnesstrainer im Labor. Trainiert werden, kann aber mit dem gesamten SOCIUS Team.

Meldet euch zum SOCIUS brief an, wenn ihr zusammen mit uns eure Selbstorganisationsmuskel trainieren und weitere Trainingsmöglichkeiten nicht verpassen wollt.

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KI selbstbestimmt nutzen

KI selbstbestimmt nutzen

Burkhard Pahl und Ralph Piotrowski haben ebenfalls im Mai zu einem weiteren SOCIUS labor eingeladen, indem wir einen Überblick über die aktuelle Landschaft der Künstlichen Intelligenzen gegeben haben und gemeinsam mit den Teilnehmenden die Möglichkeiten und Herausforderungen von KI erforschten.

Setz die Schutzbrille auf, mach’ dich bereit. Hier kommen die wesentlichen Erkenntnisse aus dem KI Labor:

KI als Chance für NGOs – Vertrauen wird die neue Währung

Die Zeiten digitalbasierter Verifikationsmechanismen sind bald vorüber. Vielleicht in diesem Jahr oder vielleicht auch erst im nächsten. Aber selbst Expert:innen könnten bald nicht mehr in der Lage sein „deep fakes“ zu erkennen und beispielsweise einzuschätzen, ob bei einem Film etwas real passiertes abgelichtet wurde oder ob dieser mit wenigen Befehlen an und von Computern generiert wurde. Es braucht wenig Phantasie, um sich die Auswirkungen vorzustellen. Nicht nur für Post-Ident Verfahren, Fotos in Zeitungsberichten, „neu entdeckte“ Filme aus vermeintlich historischen Archiven oder wenn der Enkeltrick über einen Zoomcall erfolgt, bei dem wir computergenerierte Bilder in unserer Aufregung nicht mehr von unseren Liebsten unterscheiden vermögen. Im digitalen Raum werden wir unseren Augen und Ohren nicht mehr trauen können.
Das Szenario, in dem Vertrauen eine neue zentrale Rolle bekommen wird, scheint daher plausibel: Zukünftig können wir nicht mehr auf das Medium vertrauen und unsere Fähigkeit, die Qualität des Materials einzuschätzen, zukünftig werden wir vor allem den Absender:innen vertrauen müssen. Und hier kommen NGOs ins Spiel, insbesondere diejenigen, die sich in den vergangenen Jahrzehnten gesellschaftliches Vertrauen erarbeitet haben. Wir werden zwar nicht sicher sein können, ob sich ein Anschlag oder Erdbeben wirklich ereignet hat – aber wenn auch etwa “Ärzte ohne Grenzen” davon berichtet, wird es keinen Grund geben daran zu zweifeln. Durch ihr Vertrauenskapital werden sich für NGOs die Möglichkeit auftun eine neue gesellschaftliche Relevanz zu entfalten.

Umgang mit der dunklen Seite von KI

Zum Nutzen von KI kommen wir gleich. Sie bieten phänomenale Möglichkeiten. Eine Herausforderung besteht allerdings darin, KIs selbstbestimmt zu nutzen und sie auf eine Art ein- und aufzusetzen, die der Gesellschaft dient. Und hier gibt es viele Stolpersteine und Alternativszenarien, die Kopfschmerzen bereiten können:

  • Zum einen bringt die KI-Wirtschaft die Probleme unserer herkömmlichen Art des Wirtschaftens mit sich: Seien es Arbeitsbedingungen im globalen Süden (von Menschen, die der KI im Hintergrund zur Hand gehen) oder der immense Strom- und Ressourcenverbrauch, der mit KI einhergeht.
  • Zum anderen gibt es neue Formen gesellschaftlicher Herausforderungen. Wir werden der KI alle möglichen Dinge aus unserem Leben anvertrauen, oftmals nicht in dem Bewusstsein, dass wir gerade unsere intimsten Gedanken in die Datenbanken privatwirtschaftlicher Unternehmen einspeisen. Der Grat zwischen Nutzen oder Ausnutzen ist hier erkennbar schmal.
  • Der Umgang mit KI wirkt sich auf individueller Ebene auf unser Selbstbild aus. Schaffen wir es KI so einzusetzen, dass sie unsere Selbstwirksamkeit erhöht und wir sie selbstbestimmt nutzen? Oder werden wir uns permanent unterlegen fühlen – oder noch schlimmer – unterlegen sein und manipuliert werden, ohne es zu merken? Ein entscheidender Vorteil der KI liegt in ihrer Fähigkeit, eine große Anzahl von Antwortpermutationen zu generieren. Durch das Durchspielen verschiedener Szenarien kann die KI diejenige Antwort identifizieren, die mit höchster Wahrscheinlichkeit die gewünschten Effekte erzielen – z.B. den potenziellen Kund:innen zum Kauf eines Produktes zu animieren und gleichzeitig den Käufer:innen das Gefühl zu geben, selbstbestimmt gehandelt zu haben.

Selbstbestimmter Umgang mit KI wird eine neue Kernkompetenz in der zukünftigen Gesellschaft sein. KI wird die individuellen Möglichkeiten von Menschen, sich in die Gesellschaft kreativ einzubringen, exponentiell erhöhen. Die Gefahr, dass KIs dazu genutzt werden, aus Menschen eine Herde eher passiver Konsumenten:innen zu machen, ist aber ebenso real.

Die Verheißung und der Nutzen

Der wahre Nutzen von KI zeichnet sich gerade erst am Horizont ab. Die heutigen KI-Anwendungen sind oftmals noch wie das erste iPhone. Das Potential war deutlich erkennbar, aber die Bedienung hakte, es gab keine Apps und der Akku war nach einigen Stunden leer. Aber der erste Schritt ist gemacht, wir befinden uns bei KI in der Phase der iterativen Verbesserung und diese geht vermutlich wesentlich schneller als gedacht.

Und schon jetzt gibt es, Einsatzmöglichkeiten, die unsere tägliche Arbeit wesentlich vereinfachen:

  • Eine KI wie ChatGPT vermag uns sprachübergreifend bei jeglicher Form der Texterstellung zu unterstützen und wird zunehmend in andere Programme wie Emailclients oder Textverarbeitungsprogramme wie Word automatisch integriert.
  • Eine KI kann programmieren oder von uns erstellen Programmcodes korrigieren und optimieren.
  • KIs können uns unterstützen, Bücher zu schreiben. Sie schlagen ein Inhaltsverzeichnis vor – und auch wenn die Erstellung eines ganzen Buches noch nicht automatisch erfolgt, kann man die einzelnen Kapitel und Absätze durch Nachfragen erstellen lassen.
  • KI hilft uns bei der kreativen Gestaltung. Sie erzeugen Bilder, Videos, 3D-Ansichten. In Kürze müssen wir nicht mehr lernen, wie komplexe Programme wie Photoshop zu bedienen sind, sondern können dem Computer direkt anweisen, was er wie verändern soll bzw. wählen nur noch aus den Vorschlägen der KI aus.
  • KI hat das Potential, das erste tatsächlich funktionierende Wissensmanagement Tool einer Organisation zu werden. Wenn die organisationseigene KI mit dem spezifischen Datensatz der Organisation gespeist wird (fine tuning), könnte sie automatisch Vorlagen und Best Practices identifizieren, diese uns während unseres Arbeitsprozesses vorschlagen und bei Bedarf die entsprechende Vorlage auch gleich ausfüllen. Schon jetzt kann man mit KI z.B. sehr überzeugende Angebote für die unterschiedlichsten Dienstleistungen schreiben. Diese sind jedoch noch generisch und nicht auf die Organisation angepasst.

Diese Anwendungen und noch viel mehr sind jetzt schon möglich. Wie wir diese Möglichkeiten am besten in unseren Arbeitsalltag integrieren, werden wir in zukünftigen Laboren eruieren.

Szenarien: Wo geht die Reise nun hin?

Ganz ehrlich? Niemand weiß es genau. Es gibt sehr gute Argumente, dass wir gerade am Anfang einer sich in sich beschleunigenden Revolution stehen. Und sehr gute Argumente, warum das eben nicht so ist. Warten wir es ab und behalten unterschiedliche Entwicklungen im Auge. Fakt ist: Bisher wurde die Geschwindigkeit der Entwicklung von den meisten Menschen im KI Feld dramatisch unterschätzt. Andererseits gab es auch einen großen Hype um autonomes Fahren, der zumindest vorerst etwas desillusioniert abgeklungen ist.

Wenn du Interesse an unseren zukünftigen KI Laboren und Crashkursen hast, schreibe eine kurze Mail an info@socius.de und wir laden dich persönlich ein.

Ralph Piotrowski und Burkhard Pahl versuchen in ihrem Arbeitsalltag praxistaugliche Anwendungen von KI zu finden, einen selsbtbestimmten Umgang mit KI einzuüben und dabei auch die gesellschaftlichen Auswirkungen nicht aus dem Blick zu verlieren.

Meldet euch zum SOCIUS brief an, wenn ihr zusammen mit uns die Möglichkeiten von KI weiter erforschen wollt.

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Spaß ist eine ernste Angelegenheit!

Spaß ist eine ernste Angelegenheit!

Von der Etage über uns drang Baulärm in den SOCIUS Seminarraum. Für die Check-in-Runde fand Christian das sehr nervig. Und sofort wurde klar, wie das hier heute laufen würde: “Christian, das ist kein Baulärm, das ist das Furzsoundsystem, das wir da vor einigen Wochen in der Vorbereitung für das Labor installiert haben! Sei froh, dass wir mit den Gerüchen noch nicht so weit sind!” erklärte Hannah Hummel und die ganze Gruppe lachte. So störte der Lärm aus der ersten Etage gar nicht mehr. 

Zu den sieben Muskeln der Selbstorganisation gesellte sich an diesem Nachmittag ein achter Muskel: der Leichtigkeitsmuskel. Und die kleine Gruppe nutzte die vier Stunden mit Hannah Hummel und Lea Fandrey aus Leipzig mit ernsthaft viel Spaß auf dem Trainingsparcour, den sie mitgebracht hatten. 

Es gab eine Schreibübung, einige persönliche Offenbarungen zu Glaubenssätzen zum Thema Spaß, einen Wettbewerb in arhythmischen Tanzen, einen Input zum verdrehten Eisberg, eine Sammlung von tools und skills die Leichtigkeit zum Leben erwecken, Forumtheater und zu guter Letzt das Manifest für mehr Leichtigkeit. 

Spaß hat einen schlechten Ruf

Im Anschluss an das conscious writing zur kleinen Frage: “Warum bist du hier?” bekamen die Teilnehmenden die Aufgabe, in den vier Kategorien: gesellschaftliche Kultur, Organisations/Arbeitskultur, Persönliche Glaubenssätze, Haltungen und Überzeugungen – je einen Gedanken, einen Satz zum Thema Spaß und Leichtigkeit aufzuschreiben; am besten den, der zuerst einfällt.

Zu den jeweiligen Gedanken haben sich die anderen Teilnehmenden dann positioniert. So war es jedenfalls gedacht. Schnell wurde klar, dass wir gerne in Austausch und Diskurs einsteigen wollen, dass wir die körperlichen Positionierungen zu den Aussagen nur noch ausnahmsweise umgesetzt haben. 

Wir stellten fest, dass es sehr unterschiedliche Organisationskulturen gibt. Solche in denen Sätze wie “Für Spaß und Leichtigkeit haben wir keine Zeit und auch kein Geld” und “Wenn Arbeit Spaß macht, ist es keine Arbeit und wir können uns nicht dafür bezahlen lassen” genauso vertraut sind wie solche in denen es eher Haltungen wie “Wir arbeiten und haben Spaß dabei” und “#SpaßbeiderArbeit ist essentiell für Produktivität und Wirksamkeit. Zwischenmenschliches gehört dazu, große Gefühle schließen Sachlichkeit nicht grundsätzlich aus” gibt. Die Erfahrungsspannbreite war also weit. 

Auf der gesellschaftlichen Ebene haben wir zu Spaß und Leichtigkeit vor allem eine Menge kollektiver Glaubenssätze gefunden, die wir alle schon mal gehört hatten:

  •  “Humor ist, wenn man trotzdem lacht.” – was soll das eigentlich bedeuten?
  • “ Wer feiern kann, kann auch arbeiten.”
  • “Spaß und Arbeit haben nichts miteinander zu tun.”
  • „Anstrengung zahlt sich aus.”
  • “Lachen verbindet.”
  • “Humor kann eine Waffe sein.”
  • “Wir sind ja nicht zum Vergnügen hier.” 

Das Bild von Arbeit, das wir hier auf gesellschaftlicher Eben vorgefunden haben, hat sich auch in den persönlichen Glaubenssätzen widergespiegelt, die uns hindern Spaß bei der Arbeit zu haben: “Albernheit ist unprofessionell”, “Hinter jedem Spaß steckt auch ein Ernst”, “Wenn ich ernst bin, werde ich auch ernst genommen„, “Watt mutt dat mutt”, “Für Teambesprechungen muss man sich hinsetzen” [heißt ja auch nicht umsonst TeamSITZung]. 

Ganz im Gegensatz dazu standen die (erarbeiteten) Überzeugungen und Haltungen: 

  • “Arbeit ohne Spaß und Leichtigkeit ist unprofessionell.”
  • “Arbeit darf/soll/kann Spaß machen und bereichern. Es braucht keine Angst vor Anstrengung geben.”
  • “Humor kann befreiend sein.”
  • “Humor kann heilsam sein.”
  • “Im Grunde geht es immer um Präsenz und Kontakt.”

Wenn wir das Pareto-Prinzip auf das Verhältnis von Spaß und Arbeit anwenden, dann – so waren wir uns einig – sollte 80% der Arbeit mit Spaß verbunden sein, so dass die restlichen 20% auch erledigt werden können. 

Heiter weiter

Nach einer Pause stiegen wir mit einer Tanzübung wieder in die Arbeit ein – arhythmischen zu tanzen war eine Herausforderung, die allen viel Spaß gemacht hat und zu vielen Lachern geführt hat. Probiert es gerne mal in Eurem Team aus, wenn Ihr ein bißchen Leichtigkeit braucht! 

Hannah und Lea haben uns dann mitgenommen in ihre Überlegungen rund um die Möglichkeiten der Messung: Wie können wir feststellen, dass wir unseren Leichtigkeitsmuskel trainieren? Wo befinden wir uns – individuell und als Gruppe – auf dem Kontinuum von Leichtigkeit und Schwere? Vor allem wenn wir wissen, dass wir in Schwere so viel besser geschult sind, und diese auch viel unmittelbarer wahrnehmen. 

Die Wahrnehmung somatischer Reaktionen ist ein wunderbarer Schlüssel. Wenn es schwer wird oder ist, wird der Atem flacher, die Schultern verspannen sich, wir bewegen uns nicht mehr, können nicht mehr frei denken, der Magen zieht sich zusammen, wir haben einen Stein im Bauch, manchmal hören wir gleich ganz auf zu atmen und halten die Luft an, wir werden nervös und “gehen in den Kopf”. 

Und was kann für Erleichterung sorgen, wenn der berühmte rosa Elefant im Raum steht und keine:r ihn anspricht? 

Nachfragen – “Merkst du das auch? Diese Schwere gerade?”: Wenn die Kolleg:innen es auch spüren, könnt Ihr zusammen was ändern. Wenn nur du es spürst, ist das wahrscheinlich ein Hinweis darauf, dass du ein persönliches Thema gefunden hast, das es zu betrachten und zu bearbeiten gilt.

Wir spüren Leichtigkeit, wenn wir tief atmen können, unser Körper entspannt ist,  wir vor Freude sprudeln, wir kichern vor Auf- oder Anregung, uns ein Lächeln auf den Lippen liegt, wir den Überblick über die aktuelle Situation haben, wir gemeinsam in den flow kommen.

Der verdrehte Eisberg

Die Idee von Hannah und Lea den allseits bekannten Eisberg einmal umzudrehen und die somatischen Reaktionen verbalisiert weit aus dem Wasser ragen zu lassen und die Analyse der Situation etwas unter die Oberfläche verschwinden zu lassen, fanden wir alle so interessant, dass sich eine lebhafte Diskussion entspann, was hier noch weiter zu beachten und zu verändern sein könnte. 

Auf die Bühne

Die letzte Stunde im SOCIUS labor nutzen wir, um in zwei Kleingruppen Forum-Theater zu spielen. Auf die Bühne gebracht wurden jeweils zwei Szenen mit Teamsituationen, die eine Schwere in sich hatten und in denen Menschen nicht gut in der Lage waren, miteinander in Kontakt zu kommen. Hannah und Lea hatten einen “Werkzeugkoffer für Leichtigkeit” vorbereitet und die Aufgabe war, dass jede Person auf der Bühne ein Werkzeug bekam und die Szene dann noch mal gespielt wurde, in dem diese Werkzeuge genutzt wurden. 

Es war durchaus verblüffend, wie sehr kleine Interventionen die Situation verändern können, und auch wie jede:r einzelne dazu beitragen kann, wenn die bekannten skills und tools bewusst eingesetzt werden. 

Zum Schluss schreiben wir das “Manifest für mehr Leichtigkeit” – in zwei Teilen.

Im Anschluss an das Labor sassen wir noch über eine Stunde zusammen in der SOCIUS lounge und ließen im Gespräch dieses SOCIUS labor nachklingen, bevor alle leicht und beschwingt nach Hause gingen. 

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Wenn du gerne mehr über Organisationsentwicklung lernen willst:

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Soziokratie zieht Kreise

Soziokratie zieht Kreise

Wir haben nichts anderes beseitigt als das blinde, irrational autoritäre Gehabe, das sich produktivitätsmindernd auswirkt.

Mit diesem Zitat beschreibt Ricardo Semler, was sein Maschinenbau-Unternehmen SEMCO vor über 50 Jahren dazu bewegte, neue Wege zu gehen. Seitdem wurde in zahlreichen Eigenversuchen die „Technologie der Soziokratie“ weiterentwickelt – und so auch in diesem SOCIUS labor. 

Vivian Breucker (Offene Schule Köln) und Nicola Kriesel (SOCIUS Organisationsberatung) haben zu einem 4-stündigen Labor eingeladen, in dem wir gemeinsam mit 20 anderen Menschen in soziokratische Prinzipien eintauchten und Erfahrungen aus der Praxis teilten. 

Nach einem kurzen Input zum zweiten und dritten soziokratischen Prinzip (semi-autonome Kreise und doppelte Verknüpfung) ging es weiter mit einem Praxisgespräch, in dem Vivian Breucker ihre Erfahrungen soziokratischer Praktiken an der Offenen Schule Köln teilte. Die Offene Schule Köln ist eine anerkannte Ersatzschule in freier Trägerschaft und gibt Schüler:innen vom ersten bis zum dreizehnten Schuljahr die Möglichkeiten im Rahmen des Bildungsplans sich weitgehend selbstständig auf diverse Schulabschlüsse vorzubereiten. Dabei spielen Inklusion und Diversitätssensibilität ebenso eine Rolle wie Eigeninitiative und Bildungsgerechtigkeit in Bezug auf die Bedarfe einzelner. 

Semi-autonome Kreise

  • Jeder Kreis ist eine semi-autonome Einheit, dem ein Teil der Verantwortung und Arbeit delegiert wird, um das gemeinsame Ziel zu erreichen.
  • Kreise haben neben den gemeinsamen Organisationszielen, noch eigene Ziele/Purpose und eine Festlegung, an welcher Stelle die Autonomie endet. (Schnittstellen/Synergien).
  • Kreismitglieder sind gemeinsam für die Erreichung des Zieles und die Umsetzung der Aufgaben verantwortlich.
  • Auch in den Kreisen wird im KonsenT entschieden.
  • Kreismitglieder sind nicht nur in ihrer Fachkompetenz gefragt, sondern lernen organisationale Verantwortung zu übernehmen. 
  • um “Organisation zu produzieren” ist es sinnvoll, z.B. zu lernen, wie schwerwiegende Einwände argumentativ begründet werden (am Ziel ausgerichtet).  Vertrautheit mit dem Verfahren der KonsenT-Entscheidung ist wichtig.
  • wiederholtes Überprüfen von Entscheidungen: Leiten, Tun, Messen und ggf. verändern. Das wird im Logbuch der Entscheidungen festgehalten.

Doppelte Verknüpfung

  • Grundsätzliche Idee: Um die Verbindung zum nächsthöheren Kreis zu halten, nehmen jeweils zwei Menschen aus dem Kreis an den Beschlussfassungen des nächsthöheren Kreises teil. 
  • eine Organisation braucht in der Regel mehrere Kreise, um ihre Komplexität abbilden zu können, sowie Verantwortung und Arbeit zu teilen
  • Gleichzeitig braucht es Wege, um die Dynamik der einzelnen Kreise auf die anderen “übertragen” zu können. 
  • Es wird von “nächst höheren Kreisen” gesprochen, mit denen diese Verbindung (doppelte Verknüpfung) bestehen soll. 
  • Diese Person sind 
    • die leitungsgebende Person
    • eine delegierte (gewählte) Person
  • Hierdurch soll sichergestellt werden, dass der dynamische Prozess nicht unterbrochen wird, sondern Informationen, Spannung und Macht fließen können. 

Zu den inspirierenden Erkenntnissen aus der Praxis, zählen Einsichten wie:

  • Die Qualität des „soziokratischen Zuhören“ führt zu nachhaltigeren Entscheidungen, weil nicht nur die formalen Ergebnisse, sondern auch Sorgen und Perspektiven, die in einem Kreis geäußert werden, durch die Delegierten in den nächsthöheren Kreis mitgenommen werden. 
  • Bei der Einführung soziokratischer Praktiken muss die traditionelle Führung der Organisation mit an Bord sein – sonst hat die Soziokratie keine Chance. Dies gilt interessanterweise insbesondere auch für nicht-hierarchische Organisationen, in denen es auch immer Menschen gibt, die mehr Macht und Einfluss als andere haben. 
  • Sich nicht willenlos an soziokratische Vorgaben binden, sondern den Wechsel von soziokratischem Kreisgespräch und anderen Gesprächformaten zulassen. Formale soziokratische Kreisentscheidung und Konsent, z. B. nur wenn es um zukunftsweisende, essenzielle Entscheidungen geht, die eine hohe Verankerung brauchen.
  • Bei Entscheidungsprozessen immer wieder die Frage ins Bewusstsein holen: „Ist es gut genug für jetzt? Und sicher genug, um es auszuprobieren?“. Sich vor Augen führen, dass Antworten gefunden werden sollen, den nächsten Schritt zu gehen. Nicht Antworten, die 10 Jahre gelten müssen. 
  • Das Format der Entscheidungsrunden will geübt sein, hier ist die knackige und feste Formatierung hilfreich:
  1. Inforunde (1-2 mal)
  2. Meinungsrunde (2-3 mal)
  3. Vorschlag
  4. Einwandrunde
  5. Modifizierung
  6. Konsentrunde
  • Klarheit: Klar festlegen, welche Treffen verpflichtend für wen sind und welche Treffen freiwillig. Z. B. unterscheiden zwischen selbst-organisiertem Arbeitskreis (gibt sich eigene Regeln der Verbindlichkeit) und Leitungskreis (an dem Personen mit Leitungsaufgaben verpflichtend teilnehmen). Eine gute Visualisierungen der Entscheidungsstrukturen sind sehr hilfreich, wie z. B. die folgende Übersicht Offenen Schule Köln:

Neben praktischen Tipps bot das Labor auch Raum für Selbsterfahrung. Es kam unter anderem die Frage auch: “Wie vielen Personen kann ich in einer Kreismoderation zuhören? Was ist meine Obergrenze, bevor ich gedanklich abdrifte?” Die Antwort auf die Frage kann auch davon abhängen, was ich mir und meinen Kolleg:innen im Kreis zutraue. Und das wiederum brachte die Einsicht, dass die Kreisgespräche einen gemeinsamen Lernraum bieten, in dem wir die Praxis einüben, Runden mit 30 Personen ebenso energetisierend zu gestalten, wie mit sieben Personen.

Rückmeldungen aus der Abschlussrunde des Labors waren: 

  • ich habe viel gelernt, vor allem zu erleben, wie toll es ist im Kreis nacheinander zu sprechen, hat deutlich gemacht, dass alle den Raum halten
  • was ich hier lasse: meine Idee, dass Selbstorganisation Leitung überflüssig macht
  • Dass Bedenkenträger:innen in den Kreisen explizit willkommen sind, weil sie auf etwas hinweisen, was noch übersehen wurde, ist ein Mindshift
  • immer wieder: die Kraft des Kreises am eigenen Leib zu erfahren, ist so bereichernd, und auch entspannend. Dadurch kann Neues entstehen.

Insgesamt war die Stimmung nach vier Stunden SOCIUS labor inspiriert und hoffnungsvoll und nicht nur die Teilnehmenden hatten Lust auf mehr Soziokratie bekommen, sondern auch die Einladenden. 

Stay tuned!

Ressourcen

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Die Übergänge feiern! Resilient agieren in Krisen und Veränderungsprozessen

Die Übergänge feiern! Resilient agieren in Krisen und Veränderungsprozessen

Es beginnt mit einer unscheinbaren Schreib-Frage: Wo befinde ich mich selbst gerade in Übergängen? Und wie so oft ist es diese kleine initiale Reflexion, die alles weitere dann bedeutungsvoll macht: Transformation und Resilienz kann man auch akademisch abfrühstücken. Oder eben ganz persönlich.

Das virtuelle Januar-Labor ist mit 18 Personen gut gefüllt. Was viele von uns angezogen hat, ist die Einladung, Übergänge zu feiern. Sie nicht nur zu erdulden, als weiteres Wandelwehen im VUCA-Wald sondern tatsächlich freudig zu begehen. Wie kann das gelingen?

Ulrike lädt hierfür ein in die Räume der Veränderung. Dieses von Claes Janssen geprägte Modell beschreibt die psychologische Dynamik von Veränderungsprozessen in vier Phasen: Beginnend im Raum der Zufriedenheit führt der Weg über den Raum der Verleugnung und des Widerstands hin zum Raum von Irritation und Verwirrung, um schließlich im Raum der Veränderung mit der Hinwendung zum Neuen zu münden. Das Modell hilft nachzuvollziehen, dass Transformation nicht einfach ein Wechsel von einer warmen Badewanne in die andere ist, sondern ein Prozess, der auch konfliktreich, beängstigend und schmerzhaft sein kann. Im Labor erkunden wir in vier Breakout Gruppen, was und wie wir in jedem der vier Räume dennoch feiern können. Hier ein paar O-Töne:

Raum der Zufriedenheit

Die Behaglichkeit wahrnehmen, um sich zu wappnen für die nächsten Phasen. Auf dem Sofa Tee oder Wein trinken und Dankbarkeit und Kraft tanken. Wie im Sonnengruß einatmen und sich aufladen. Rituale des Loslassens und des Rückblickens einbauen, wahrnehmen, was sich verändert. Kleine Momente bewusst genießen. 

Raum der Verleugnung und des Widerstands

Den Widerstand zulassen und würdigen. Feststellen, wogegen genau er sich richtet, was er uns anzeigen will, welche Facetten er aufzeigt. Sind wir zu schnell oder zu pauschal? Und wer definiert eigentlich, was Widerstand ist? „Sowohl-als-auch“ Gedanken aufmachen, das Alte würdigen, das Neue sehen. Punk, Techno und Metal aufdrehen, wie in der Jugendzeit den Widerstand genüsslich zelebrieren.

Raum von Chaos und Irritation

Sich geduldig Zeit nehmen, das Ungewisse auszuhalten, ohne es erzwingen zu wollen. Stabilitätsanker setzen – was kann Halt geben im Chaos? Was gibt uns wirklich Sicherheit? Rituale der Verabschiedung finden – loslassen. Wir sind schon einen großen Weg gegangen, alles was wir kannten ist nicht mehr so da, ist schon in Einzelteile zerteilt. Dara

Raum der Veränderung

Sich zeigen, als Schmetterling nach außen gehen, stolz die schönen neuen Flügel vorführen. Im Rückblick dabei auch andere Gefühle wahrnehmen: Melancholie, Traurigkeit, Abschied. Erste Reaktion: ja, das ist der Raum wo gefeiert wird, hier ist das Projekt abgeschlossen. Aber das liegt nicht jedem – vielleicht will man nicht ankommen in einem positiv veränderten Zustand, vielleicht lieber im Jammertal bleiben? Das hat auch mit Verletzlichkeit zu tun. Man muss sich sicher fühlen, um seine ganze Freude auszudrücken.

Nach dieser Runde geht es auf die Suche nach Ritualen, die Übergänge bedeutsam machen. Der Gang zur Klagemauer, der Schritt über die Schwelle, das Loslassen von Altem, das im Fluss weggespült, verbrannt oder mit Himmelslaternen in die Lüfte entlassen wird – das Ausschütteln, rituelle Schulterklopfen oder auch die meditative Einkehr im Moment des Wandels. All dies sind Rituale, die auch in Coaching und Beratungsprozessen genutzt werden können, um Übergänge zu gestalten. Sie sind meist sinnlich und körperlich erfahrbar. Gibt es auch Spielarten, die auf kognitiv beheimatete Menschen und Gruppen zugeschnitten sind? Auf jeden Fall. 

Im dritten Teil des Labors geht es um die Frage, welche Kompetenzen wir brauchen, um Übergänge freudig und erfolgreich zu begehen. Wir streifen die Glückskompetenzen von Ha Vinh Tho (achtsamer Fokus, Dankbarkeit und Beziehungsorientierung), die von Bettina Rollow und Joana Breidenbach vorgestellten Inner Work Qualitäten und landen schließlich beim Bild des Muskeltrainings – dem kontinuierlichen Aufbau von Fähigkeiten, nicht als Vorbedingung, sondern als Resultat unserer Praxis. 

Am Ende dieser vier Stunden ist klar: Das Thema ist reich und erstreckt sich von der ganz persönlichen bis hin zur gesellschaftlichen Makro Ebene. Es war ein anregender Austausch, ein von Ulrike wunderbar leicht aufgespannter und gehaltener Raum und ein schöner Anlass, sich wieder einmal verbunden zu fühlen mit einer Community of Practice. Danke!

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Herzliches Beileid

Herzliches Beileid

Sechs waren angemeldet, fünf sind gekommen. Nach einer Vorstellungsrunde begannen wir mit einer kurzen Spekulation: Wieso sind denn nur so wenige hier? So ein wichtiges und irgendwie unausweichliches Thema: Trauer am Arbeitsplatz. Menschen sterben, es gibt Trennungen, Kündigungen, Krisen – in Arbeitskontexten, im Privaten und Dazwischen, bei Kolleg:innen, Vorständ:innen, Geschäftsführer:innen, Kund:innen, Freund:innen. 

Wieso also möchten sich nur so wenige aktiv mit den (emotionalen) Folgen von Tod, Trennung, Kündigung auseinandersetzen, obwohl doch fast alle sie schon erlebt haben: Trauer, die eigene oder die der anderen?

  • “Es ist eben kein Entwicklerthema”
  • “Da gibt es so wenig konstruktiven Part drin”
  • “Ist halt ein Tabu, man will sich da nicht mit beschäftigen, man drückt es weg”
  • “Es gibt so viel Ungewissheit rund um den Tod”
  • “Wir wissen einfach nicht was nach dem Tod kommt und wir wissen nicht wie wir reagieren wenn Verlust uns trifft, wir widmen uns dem nicht, weil es unvorhersehbar ist.”

Das waren einige der Thesen, die wir zusammengetragen haben. Und natürlich waren wir nicht ganz die Richtigen um die Frage zu beantworten, denn wir waren ja da.

“Trauer ist die normale Reaktion auf einen bedeutenden Verlust” (Kerstin Lammer)

Für Franziska Offermann ist das eine der passendsten Definitionen für Trauer, denn Trauer als Prozess kann dazu führen, den Verlust heilsam zu integrieren, sie  normalisiert die emotionale Reaktion auf ein Geschehen von Bedeutung. Eine andere Beschreibung sagt: “Trauer bezeichnet die natürliche, gesunde und schmerzhafte Reaktion des Organismus mit Abschied, Verlusten und Trennungen umzugehen.” (Aus “In der Mitte der Nacht beginnt ein neuer Tag” von Karina Kopp-Breinlinger und Petra Rechenberg-Winter)

Franziska Offermann war Vorsitzende des Bundesverbandes verwaister Eltern und ist auch heute noch aktiv dort. Nach einem großen Verlust, der ihr Leben änderte, hat sich die promovierte Pharmazeutin mit Lucera selbstständig gemacht, um sich ganz dem begleiteten Umgang von Trauer zu widmen. 

Über die Jahre erlebte sie zunehmend, welche Auswirkungen Verluste auf Unternehmen und Organisationen haben – nicht nur bzgl. der so genannten soft skills, sondern auch knallhart im Umsatz, bei Zahlen, Daten, Fakten. Bedeutsame Verluste sind oft in Bilanzen ablesbar und so fokussierte sich Franziska zunehmend auf die Trauerbegleitung in Unternehmen und Organisationen. Heute arbeitet sie als hauptberufliche Vorständin im Traumahilfezentrum München und verbindet ihre diversen Erfahrungen und Erkenntnisse zu Trauma, Trauer, Yoga, Polyvagaltheorie, Gewaltfreie Kommunikation uvm. unter diesem Dach. 

Sind es nur Todesfälle, die solche Reaktionen auslösen? 

Von was müssen wir uns sonst noch im Leben verabschieden? 

  • aus Liebesbeziehungen
  • von Kindern, die erwachsen werden und ausziehen
  • von anderen Angehörigen oder Freund:innen
  • von Sicherheiten im beruflichen Feld
  • von Ideen und Konzepten
  • von Orten und der Heimat
  • von Idolen und Vorbildern
  • von Gewohnheiten.

Gewiss kommt mit dem Tod ein Verlust, der unwiderbringlich ist. Und dennoch wissen wir, dass auch mit anderen Veränderungen in einer Organisation, mit jeder Transformation ein Trauerprozess in Gang kommt. Aus dem Ecocycle ist uns bekannt, dass wir “kreative Zerstörung” brauchen, bevor wir zur “Erneuerung” kommen. Auf dem Weg zwischen den beiden Stationen liegt der Trauerprozess. Das gilt für Individuen genauso wie für Organisationen. 

An diesem Nachmittag haben wir uns auf die Menschen konzentriert, auf das, was im Körper bei Krisen und Trauerprozessen vorgeht. Franziska hat uns teilhaben lassen an ihrem Wissen und den wissenschaftlichen Erkenntnissen rund um das zentrale und das autonome Nervensystem, das Window Of Tolerance und die Polyvagaltheorie. 

Hierzu kann auf Franziskas Blog einiges nachgelesen werden: Handlungsfähig in der Krise – Stabilität und Zuversicht im System, Handlungsfähig in der Krise – stabil bleiben und Wohl finden und Stabil und zuversichtlich bei Trauer und Krise. Die drei Artikel ergänzen einander.

 

Beileid – im Leid beistehen

Im Anschluss an den umfangreichen Input veranschaulichte Franziska das Wissen anhand verschiedener Modelle,  zu denen ein Teilnehmer bemerkte, wie ansprechend und faszinierend es sei, dass Franziska immer noch etwas Haptisches hervorzauberte, womit sich – sogar im digitalen Raum – eine körperliche Erfahrung machen lasse. 

Anschließend war Zeit für die ganz konkreten Anliegen der Teilnehmenden. Eine Teamleitung berichtete von einer Kolleg:in mit so schwerem Liebeskummer nach einer Trennung, dass sie wochenlang nur noch weinte und kaum arbeiten konnte, aber auch nicht zu Hause bleiben wollte, weil dort “alles noch viel schrecklicher” sei. Was tut man da? Denn als Führungspersonen tragen wir die Verantwortung für viele Menschen – wie lange muss ich also Rücksicht auf so eine spezielle Situation nehmen? Irgendwann hat es auch wirtschaftliche Folgen bzw. strengt die Kolleg:innen an, u. a., weil sie zumindest Teile der Arbeit übernehmen müssen … und als Führungskraft bin ich in der Regel nicht ausgebildet für die Begleitung solcher Krisen. 

Und, anderes Szenario, manchmal sind Führungskräfte in großen Organisationen auch gar nicht so nah an den Mitarbeitenden dran bzw. ist das Vertrauensverhältnis nicht so, dass der Grund der Trauer, der Grund für das veränderte Verhalten von dem jeweiligen Menschen benannt wird. Franziska empfiehlt dann angemessen Kontakt aufzunehmen zu der/dem entsprechenden Kolleg:in, Verbindung zu schaffen, etwas über die Bedürfnisse der trauernden Person zu erfahren. Bei schweren Verlusten brauchen Menschen andere Menschen, die ihnen in ihrem Leid beistehen und nicht im Leid mitversinken.

 

 

Dafür gibt das von ihr entwickelte Akronym zu BEILEID eine hilfreiche Orientierung:

B edürfnisse und Beziehung in den Fokus stellen

E mpathie – aufmerksam zuhören

I ndividualtät – Trauer ist verschieden

L ogistik – Strukturen & Vereinbarungen anbieten

E ntspannung  – dafür sorgen, dass das auch im Arbeitskontext möglich ist

I ntegration – (sozialen) Stress minimieren

D auer – Drandenken, Daten, es dauert so lange wie es dauert. 

Wie eine Klientin sagte: “Ja, ich trauere immer noch, denn xy ist ja auch immer noch tot.” 

Verlust und Trauer, die wir alle auf die ein oder andere Weise erleben, alltäglich machen, indem wir darüber reden,  so lautete das Fazit unseres SOCIUS labors, das mit einem Gedicht von Rainer Maria Rilke beendet wurde: 

 

“Das ist der Sinn von allem, was einst war,

dass es nicht bleibt mit seiner ganzen Schwere,

dass es zu unserm Wesen wiederkehre,

in uns verwoben, tief und wunderbar”

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Das Kollaborations-Kontinuum

Das Kollaborations-Kontinuum

„Kollaboration“ ist eines unserer sechs Module, die wir im Onlinekurs SOCIUS change essentials entwickelt haben und legt einen Blick auf  Zusammenarbeit im kreativen Kontext. Formen der Kollaboration können zwischen Organisationen stattfinden, aber auch zwischen Teams oder Einzelpersonen in einer Organisation. Unterschiedliche Grade von Kollaboration haben wir aufgeschlüsselt und auch Risiken aufgezeichnet, in denen Kollaboration vielleicht nicht angemessen ist, weil die damit verbundenen Kommunikationswege überfordern oder der Rahmen so detailliert vorgeprägt ist, dass das kreative Potential kollaborativer Prozesse am Ziel vorbeiführt.  

Wir waren zu viert im SOCIUS labor im Oktober – viel Raum und Zeit für Tiefe und Möglichkeit, die Interessen Einzelne:r stärker zu berücksichtigen. Neben einer Einführung in das „Kollaborations-Kontinuum“, das im Modul zentral erläutert wird, haben wir uns den Fragen und Erfahrungen gewidmet, die im virtuellen Raum zur Sprache gekommen sind. Hier eine Auswahl: 

  • Wie können wir das breite Erwartungsspektrum an Prozessgestaltung und inhaltlicher Erwartungshaltung managen, moderieren und gleichzeitig so rahmen, dass es auch tatsächlich umgesetzt werden kann? 
  • Was können wir aus Moderationsperspektive tun, um die Phase(n) der Emergenz und weitgehenden Offenheit („Groan-Zone“) aufrecht zu erhalten; nicht zu früh abzuschließen und für die gleichzeitig häufig wachsende Unsicherheit Container und Umgangsmöglichkeit anzubieten? 
  • Wie können wir Differenz (also unterschiedliche Interessen und Vorstellungen) und Kohärenz (übereinstimmende Perspektiven und Frage- bzw. Zielstellungen) gut thematisieren und wertschätzend nebeneinander halten oder sogar in Beziehung bringen? 
  • Wie gestalten wir das Ende von Kollaborationen so, dass die Interessen der Beteiligten und ein möglicher kreativer Kontakt auch über den Zeitraum der konkreten Zusammenarbeit hinaus erhalten bleibt? 

 

Mein Lernen

  • Labor ist immer spannend und toll – auch in kleineren Gruppen!
  • Wie so oft gibt es keine „richtigen“ Antworten, sondern ist die Schärfung der Intuition durch Erfahrung und Reflexion die Wahl der Mittel. 
  • Das Modell des „Kollaboration Kontinuums“ ist gut angekommen – bei einigen Rückmeldungen, es weiter auszugestalten, bietet es eine Grundlage, bereits früh in Gespräche einzutreten über die Art, wie die Kollaboration gestaltet werden kann. Das freut uns natürlich sehr!

Die ganze Einführung in das Modell des Kollaboration Kontinuums findet Ihr im 7 Modul der SOCIUS change essentials

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Positive Führung für lebendige Organisation – Mit PERMA Lead 360°Feedback Prozesse gestalten

Positive Führung für lebendige Organisation – Mit PERMA Lead 360°Feedback Prozesse gestalten

Kurz vor Beginn der langen Sommerpause hatten wir ein spannendes Labor zum Thema „Positive Führung“. Carolin Gebel führte ein in ein Grundverständnis von Positiver Führung und den spezifischen Ansatz PERMALead, der von Markus Ebner entwickelt wurde, aufbauend auf den Erkenntnissen und Haltungen der Positiven Psychologie. 

Während klassische Ansätze von Therapie, Beratung und Coaching in der Regel eher darauf ausgerichtet sind, Probleme zu beseitigen und Leid zu mindern, fragt die von Martin Seligman begründete Positive Psychologie: Was braucht es an Bedingungen und Zutaten, dass Menschen aufblühen und ihr Potenzial entfalten können? Dem Menschenbild einer Pflanze, die wachstumsfördernde Bedingungen braucht, um sich optimal zu entwickeln und ganz zur Blüte zu kommen, stellte Carolin die Metapher von Organisationen als Ökosystem gegenüber, die eine inhärente Lebendigkeit besitzen, sich von innen heraus weiterzuentwickeln und ihr Potenzial zu entfalten. Stichworte, die auftauchten, ein solch lebendiges Organisationssystem zu beschreiben, waren Kooperation, Durchlässigkeit, Vielfalt der Beziehungen, Wechselwirkung, Feedback, Begrenzung und Selbstorganisation.

PERMALead ist ein spezifischer Ansatz der Führungskräfteentwicklung, der 360 Grad Feedback Prozesse nutzt, um Führungskräfte dafür zu sensibilisieren, mit welcher Haltung und Verhalten sie dazu beitragen, wachstums- und potenzialfördernde Bedingungen zu schaffen. Die sogenannten PERMA Prinzipien, entlang derer das Feedback aufgebaut ist, lauten: 

P = Positive Emotionen

E = Engagement

R = Relationships (im Deutschen: Tragfähige Beziehungen)

M = Meaning (im Deutschen: Sinn der Arbeit)

A = Accomplishments (im Deutschen: Kleine Erfolge)

Die Fragen dahinter lauten, inwieweit ermögliche ich als Führungskraft positive Emotionen bei meinen Mitarbeitenden? Wie fördere ich mit Blick auf die spezifischen Stärken individuelles Engagement? Wie schaffe ich tragfähige Beziehungen mit meinen Kolleginnen und Kollegen? Wie vermittle ich einen Sinn in der Arbeit und wie mache ich Erreichtes sichtbar beziehungsweise würdige ich auch kleine Erfolge? 

In einer ersten Austauschrunde wurde deutlich, dass eine positive Feedback Kultur als Lieferantin für Energie und wichtige Entwicklungsschritte erlebt wird, dass die Umsetzung aber mit mindestens genau so großen Herausforderungen und Hürden verbunden ist. So wurden einige Erfahrungen geteilt, wie sehr sich Mitarbeitende in der Regel ein ehrliches Feedback von Vorgesetzten wünschen, um Orientierung zu erhalten, ob sie an sie gesetzte Erwartungen erfüllen, aber auch, um dazulernen zu können. Gleichzeitig steht dieses in einem sensiblen Verhältnis zu den hierarchischen Ausprägungen in der Organisation. Schon Führungskräften fällt es oft schwer, hilfreiches und zugleich auch ehrliches Feedback zu geben. Die Forschung sagt inzwischen, dass es grundsätzliche ein Verhältnis 5:1 von positivem zu kritischem Feedback braucht, damit wir kritische Rückmeldungen gut annehmen können. Gleichzeitig kommen wir dem mechanistischen „Sandwich- Prinzip“ – saftige Rückmeldungen in eine weiche Ober- und Unterklappe zu verpacken, damit sie verdaulich werden – als sensible Beziehungswesen in der Regel schnell auf die Spur! Dies bedeutet, dass positive Rückkopplungen grundsätzlich nur wirksam sind, wenn sie echt und authentisch sind und eben einer grundsätzlich eher positiven und wertschätzenden Grundstimmung in der Organisation entsprechen. Um so herausfordernder wird dann ein verordnetes Upward Feedback: Anfänglich ist mit Zurückhaltung zu rechnen bis wir erleben, dass diese Einladung ernst gemeint ist. Gibt es dann einige Mitarbeitende, die sich trauen, auch kritisches Feedback zu geben, wird sehr genau wahrgenommen, ob die Führungskraft in der Lage ist, dieses gut anzunehmen (ganz zu schweigen von gefürchteten Bestrafungen an anderer Stelle). Gibt es leise Anzeichen, dass dies nicht der Fall sein könnte, ist die Folge in der Regel, dass Feedback weichgewaschen wird und man sich aus Selbstschutz in einer Harmoniesauce verliert. Das Fazit an dieser Stelle war: Feedback funktioniert nur, wenn es in eine Feedback Kultur eingebettet ist, eine Kultur des Gedeihens, die das Augenmerk darauflegt, was die Pflanzen im Ökosystem Organisation wirklich benötigen, um zu wachsen und zu erblühen: Nährstoffe, gute Nachbarschaft, Luft und Licht!

Der nächste Austausch zwischen den Teilnehmenden befasste sich vor allem mit der Frage: Wie mache ich das ganz konkret? Wie bekomme ich es zum Beispiel hin, mir wirklich eine positive Grundhaltung anzueignen und es nicht als eine auferlegte Floskel zu begreifen? Zu den Einsichten, die dabei auftauchten, gehörte, dass der Rückzug auf unverrückbare Persönlichkeitsmerkmale an dieser Stelle nicht hilfreich und stimmig ist. Denn die Dimensionen von Führungsarbeit und Selbstführung sind nicht automatisch gleichzusetzen. Selbst wenn ich selbst keine heillose Optimistin bin und mir selbst vielleicht nicht immer mit einer positiven Grundhaltung begegne, bin ich möglicherweise trotzdem gut darin, eine solche Atmosphäre im Team zu fördern. Um uns bewusster zu erlauben, dass Spaß dazu gehört und ein wichtiger Bestandteil von Arbeit ist, könnten wir in einem ersten Schritt versuchen, die Worte „aber“ und „müssen“ aus unserem Wortschatz zu streichen!

Kompetenter zu werden, tragfähige Beziehungen aufzubauen, wenn mir das nicht natürlicherweise in die Wiege gelegt wurde, gehört hier mit Sicherheit zu den größten Herausforderungen. Die Relevanz überzeugte die meisten Anwesenden: Als Führungskraft kann ich nicht von allen Mitarbeitenden geliebt werden. Aber letztendlich geht es darum, berechenbar zu sein. Für diese Einschätzung braucht es wiederum sichtbare und nachvollziehbare Emotionen. Verstecken diese sich dauerhaft hinter einer Maske der Professionalität, entstehen sehr schnell Phantasien über eine mögliche hidden agenda.

Die zentrale Überlegung, die dem PERMALead Ansatz zugrunde liegt, lautet: Inwieweit ist mein Selbstbild kohärent mit dem, wie ich von außen wahrgenommen werde? Und dabei steht nicht eine vermeintlich objektive Bewertung im Vordergrund, sondern die hilfreiche Frage: Finde ich, dass Dein Verhalten / das Verhalten meiner Führungskraft stimmig ist in ihrer und meiner Welt? Somit geht es um Rückmeldungen zu wahrgenommenem Verhalten und ein Kohärenzerleben, aber nicht um Rückmeldungen zur Persönlichkeit. Dafür braucht es gleichzeitig von Seiten der Führungskraft auch die Selbstmitteilung: Wie sehe ich mich eigentlich selbst in Bezug auf diese Prinzipien, die für mich einen Werte- und Zielrahmen darstellt? Und inwiefern bin ich mir meiner Kompetenzen bewusst und kann mich anderen gegenüber auch erklären – um hier nicht als möglicherweise arrogant rüberzukommen? 

360 Grad Feedback in Zusammenhang mit einem klar definierten Werterahmen ist jedoch allein noch kein Tool der Führungskräfteentwicklung. Letztendlich braucht es eine Begleitung über Coaching, um aus dem Abgleich von Wahrnehmungen zu einem individuellen Entwicklungsprozess zu kommen.

Und last but not least, erfuhren wir auch noch einiges über die Ergebnisse der Forschung. Denn der PERMALead Ansatz ist inzwischen sehr gut wissenschaftlich untersucht und liefert uns somit einiges an Erkenntnisse über die Auswirkungen positiver Führung. So lässt sich feststellen, dass sie

  • positiv chronischer Stressbelastung entgegen wirkt,
  • Resilienz im Team stärkt,
  • Motivation und Engagement von Mitarbeitenden beflügelt
  • Flexibilität und Veränderungsbereitschaft fördert
  • und Kreativität und somit den Erfolg von Organisationen voranbringt. 

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Mutige und reflektierte Anstrengung

Mutige und reflektierte Anstrengung

Agile Führung und Intersektionalität

Agilität, Scrum, Holakratie, shared leadership und Diversity Management verfolgen den Anspruch, Organisationen zu helfen, mit neuen Herausforderungen umzugehen. Sie sollen ihnen strukturelle wie kulturelle Antworten auf Entwicklungen liefern, denen sie sich aktuell ausgesetzt sehen. Außerdem wird diesen Konzepten „nachgesagt“, dass sie die Machtverhältnisse in Unternehmen grundlegend transformieren könnten. (vgl. Bauer, Hohl und Zirkler, 2019). Welchen Beitrag eines dieser Konzepte, nämlich das der kollegialen Führung im Kontext agiler Organisationsentwicklung leisten kann, um tradierte Machtverhältnisse in Organisationen zu verändern, stand im Mittelpunkt unseres SOCIUS labors im März.
Am 17. März 2022 ließ uns unsere Kollegin Hannah Kalhorn im voll besetzten SOCIUS labor „Agile Führung und Intersektionalität“ hinter die Kulissen ihrer Forschungstätigkeit schauen. Anhand von Interviews mit Führungspersonen und Organisationsberater:innen, die sie im Rahmen ihrer Masterarbeit führte, erhielten wir einen Einblick, welche konzeptionellen Möglichkeiten die Einführung und Stärkung agiler, kollegialer Führung mit sich bringt, um auch einen diskriminierungskritischen Blick auf Macht zu schärfen.

Kollegiale Führung im Kontext agiler Organisationsentwicklung soll unter anderem dazu beitragen, tradierte Machtverhältnisse in Organisationen zu verändern. Gleichzeitig besteht im herkömmlichen organisationspraktischen Kontext wenig Übung darin, über Macht und ihre Wirkweisen so zu reflektieren, dass auch Machtverhältnisse basierend auf den Kategorien race, class und gender sowie ihre Verwobenheit (Intersektionalität) gesehen und besprochen werden.

Im Mittelpunkt dieses SOCIUS labors stand die Frage: „Welchen Beitrag können agile Veränderungsprozesse am Beispiel der Einführung kollegialer Führung auf die Transformation von Machtstrukturen in Hinblick auf Intersektionalität leisten?“

Um uns mit den Konzepten vertraut zu machen, auf deren Grundlage die präsentierten Erkenntnisse und Fragestellen dieses diskussions- und erkenntnisreichen Nachmittags fußten, erhielten wir einen Einblick in ein Konzept zu agiler Organisationsentwicklung nach Oestereich/Schröder und daran anknüpfend das der kollegialen Führung. Außerdem nahm uns Hannah in die Historie und politische Bedeutung des Konzeptes der Intersektionalität mit. Und anschließend natürlich in die Interviews und deren Schlussfolgerungen.

Vor dem Hintergrund der oben genannten Ansätze wurden Expert:innen befragt, welchen Beitrag das Konzept der kollegialen Führung in Bezug auf die mangelnde Repräsentation von Diversität auf verschiedenen Ebenen von Organisationen, leisten kann.

„Die nicht-repräsentative Befragung ausgewählter Expert:innen hat gezeigt, dass agile Entwicklungsprozesse und insbesondere die Einführung kollegialer Führung zu Irritationen und strukturellen, prozessualen und kulturellen Veränderungen in Organisationen führen […]. So die Beratenden aber nicht dezidiert darauf hinarbeiten, finden diese Veränderungen mit großer Wahrscheinlichkeit nicht in den Machtverhältnissen bezüglich Klasse, Geschlecht und race statt“, so Hannahs Zusammenfassung der Interviews und ihrer Auseinandersetzung damit.

Nicht das Konzept und deren Einführung, sondern „zusätzliche mutige und reflektierte Anstrengung, die aber von den Irritationen durch agile Veränderungsprozess profitieren können“, haben das Potential die Machtverhältnisse in Organisationen hinsichtlich intersektionaler Diskriminierung zu verändern. Es bedarf also der persönlichen Auseinandersetzung und „vor allem der professionellen Verknüpfung agiler und diskriminierungskritischer Organisationsentwicklung“ resümiert Hannah Kalhorn.

Diesem Resümee konnten wir, die Teilnehmer:innen dieses SOCIUS labors uns anschließen. Und so waren auch nicht die Antworten, sondern die Fragen, die sie und wir uns während dieses Labors stellten, die goldenen Staubkörnchen, die wir in Bezug auf Bewusst- und Sichtbarwerdung mitgenommen haben.

Breidenbach/Rollow (2019): New Work needs Inner Work. 22, https://www.betterplace-lab.org/tranformation-muss-ganzheitlich-sein

Besonders persönlich bereichernd und für den Austausch untereinander gewinnbringend war aus meiner Sicht, die methodische Verknüpfung des Themas mit dem AQAL-Modell (die Integrale Landkarte All Quadrants All Levels nach Ken Wilber) von Joana Breidenbach und Bettina Rollow (2019). Dies hat es uns als Teilnehmer:innen ermöglicht, noch einmal tief zu schürfen und ganz persönliche Erkenntnisse und Fragestellungen zur weiteren Auseinandersetzung mit der Thematik ermöglicht.
Herzlichen Dank dafür!

Hannah hat es in diesem SOCIUS labor vermocht, einen offenen Raum zu halten, in dem Selbstreflektion, einladendes Fühlen und Hinterfragen möglich wurde. „Einen Raum, in dem es nicht um schnelle Antworten, sondern das Ringen um Perspektiven, Möglichkeiten und Teilantworten gehen durfte“, wie es eine der anwesenden Personen so schön formuliert hat. Wir konnten die Erkenntnis mitnehmen, „dass wir uns immer und immer wieder mit dem Thema Intersektionalität und Machtverhältnisse beschäftigen dürfen und immer wieder neue Aspekte finden werden“ wie es eine andere Person am Ende dieser gut gefüllten vier Stunden zusammenfasste.

Doch neben all der Offenheit und dem Interesse am Thema Intersektionalität im Kontext agiler Führung blieb jedoch auch bei unserem Labor die Frage nach Zugängen marginalisierter Gruppen bestehen. Denn, wie es ebenfalls eine teilnehmende Person treffend bemerkte, war „es auch hier nochmal interessant zu schauen, wer vertreten ist“ und wer nicht, wie ich hinzufügen möchte.

Literaturverweis:
Breidenbach, J./ Rollow, B. (2019): New Work needs Inner Work. München: Verlag Franz Vahlen.

Kalhorn, Hannah (2020): Intersektionalität in agilen Entwicklungsprozessen – eine empirische Untersuchung zur Veränderung von Machtstrukturen am Beispiel kollegialer Führung. Hamburg: Masterarbeit an der Technische Universität Kaiserslautern.

Oestereich, B./ Schröder, C. (2019): Agile Organisationsentwicklung. Handbuch zum Aufbau anpassungsfähiger Organisationen. München: Verlag Franz Vahlen.

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Es gibt so viel, was mich trägt

Es gibt so viel, was mich trägt

Mit Atem, Wadenpumpe, Phantasie und Austausch resilient ins neue Jahr

Mit „Resilient ins neue Jahr“ eröffnen Lysan Escher und Marek Spitczok von Brisinski die Reihe der SOCIUS labore im Jahr 2022. Teilnehmende aus Berlin, Bremen, Darmstadt, Dortmund und Hamburg verbringen zusammen einen sorgsam und abwechslungsreich gestalteten Abend mit dem gemeinsam geteilten Wunsch „Her mit allem, was stärkt!“.

Stärkend kann unter anderem unser Atem sein und – „… atmen ist immer eine gute Idee.“ Die Ausgleichs- oder Wasseratmung beispielsweise kann zentrierend, beruhigend und erfrischend zugleich wirken. Wir atmen gleichmäßig durch die Nase ein und aus, zählen dabei jeweils bis vier und lassen den Atem immer tiefer in den Bauch fließen.

Atemübungen wie diese können auch zur Impulskontrolle beitragen – einer von sieben Resilienzfaktoren nach Reivich und Shatté (2003). Weitere Faktoren, die das „das Immunsystem der Seele“ (Levold 2014) stärken, sind

  • Zielorientierung,
  • Empathie im Sinne positiver Beziehungen,
  • realistischer Optimismus,
  • die Fähigkeit, Situationen zu analysieren und daraus zu lernen (Kausalanalyse) und
  • Emotionen steuern und positive Gefühle stärken sowie
  • Selbstwirksamkeitsüberzeugung.

Im Kontext der Psychologie steht Resilienz für die persönliche Widerstandskraft, die der Mensch auf- und ausbauen kann. Dafür hilft es, sich der eigenen Ressourcen bewusst zu werden und sie regelmäßig zu aktivieren. Es geht dabei insbesondere darum, das Kleine zu sehen und wahrzunehmen. „Resilienz liegt im Alltag“, sagen Lysan und Marek. Um in herausfordernden Situationen davon profitieren zu können, hilft es, Routinen zu etablieren und wohltuende Handlungen und Gedanken zu wiederholen.

Eine besonders alltagstaugliche Übung ist die Wadenpumpe, die nach langem Sitzen das Blut wieder besser zirkulieren lässt. Dazu stehen wir auf, und wippen vom Stand auf dem gesamten Fuß auf die Zehenspitzen und wieder zurück mit einigen Wiederholungen.

Etwas umfangreicher und intensiver ist die Einladung zu einer angeleiteten inneren Reise. Sie lässt uns in Inspirations- und Gefühlswelten eintauchen anstatt die Zukunft nur technisch-organisatorisch zu planen. Mit geschlossenen Augen und gemütlich sitzend oder liegend lassen wir uns angeleitet von Mareks Fragen während einer Traumreise zu Zukunftsbildern inspirieren. „Woran möchtest Du Dich von der Zukunft aus gesehen erinnern können?“ Und auch unangenehme Gefühle und Situationen dürfen ihren Platz haben. Sie können dabei unterstützen, sich Möglichkeiten des Umgangs auszumalen – um sie dann auch wieder ziehen zu lassen. Abschließend malen wir einen für uns wichtigen Aspekt aus der Reise in die Zukunft, so dass sich Kognition und Emotion noch stärker miteinander verbinden.

Sich mit anderen Menschen zu vernetzen und Wünsche oder Pläne zu teilen, trägt ebenfalls zur Resilienz bei. Und so blicken wir nach einer Kleingruppenphase, in der genau dieser Austausch seinen Raum findet, in viele lächelnde Gesichter. Für die abschließende Experiementier-Runde lädt Lysan dazu ein, in nur ein paar Minuten alles aufzuschreiben, wofür wir in unserem Leben Dankbarkeit empfinden. Auch hier geht es darum, sich der eigenen Ressourcen und Kraftquellen bewusst zu werden.

Angefüllt mit Tips für kleine Übungen, mit bunten (Traum-)Reiseerlebnissen und wohltuendem Austausch endet das erste Labor das Jahres unter anderem mit dem Gefühl, berührt und bezaubert davon zu sein, dass auch ein online-Format so intim sein kann.

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Die Landkarte ist etwas anderes als das, was tatsächlich da ist

Die Landkarte ist etwas anderes als das, was tatsächlich da ist

Das Enneagramm als Landkarte für Persönlichkeitsmuster

Sich selbst zu erkennen ist oft schwieriger als andere zu erkennen. Das gilt auch für die neun Muster des Enneagramms. Selbst- und Fremdwahrnehmung können hier in spannendem Gegensatz stehen. Und dann sagt Claudia Meimberg “Interessant wird es da, wo der Automatismus greift. Wo du nicht nachdenkst, wo keine (bewusste) Regulation stattfindet, sondern da wo du automatisch reagierst. Der erste Impuls. Der allererste. Der führt dich auf die Spur zu deinem Enneagramm-Muster.”

Das letzte SOCIUS labor 2021

Am 16. Dezember 2021 fand das 10. und letze SOCIUS labor im Jahr 2021 statt. Und wir hatten wirklich eine Vielzahl von Themen: Im Januar machten Rudi Piwko und Raphael Wankelmuth den Auftakt mit der zweiten Auflage ihrer “Virtuellen Tools”, gefolgt von Andreas Knoth und Britta Loschke mit “Positioniert im Dialog”, Christian Baier und Gabor Vazori mit den “Online Aufstellungen”, Ralph Piotrowski und Andreas Knoth mit dem “Rollenboard”, Simon Mohn und Lino Zeddies schauten in die “Zukunft” und Joana Ebbinghaus und Bea Schramm gaben uns kurz vor der Sommerpause noch Einblicke in die Theorie von “Bindung und ihre Auswirkung auf den Arbeitskontext”. Im August luden Kerstin Engelhardt und Jana Hornberger zu einem Live Labor ein und machten sich auf “Erkundungsreise über das was wir in der Pandemie bisher gelernt hatten”, bevor Nicola Kriesel und Hannah Gedamu sich im September der “Diversitätssensibilität in der Personalentwicklung” widmeten. Im Oktober machten wir das wozu Julia Hoffmann und Christa Cocciole im November einluden: “Mut zu Pause”.

Und nun 14 Tage vor Jahresende: (Selbst)Erkenntnis mit Lysan Escher und Claudia Meimberg. 

Die beiden haben ein abwechslungsreiches, kreatives und phantasievolles SOCIUS labor mit und für uns gestaltet und es war vier Stunden lang spürbar, wie viel Spaß den beiden das macht und wie sie es genossen auf 13 interessierte Menschen zu treffen, die das Enneagramm kennenlernen wollten. 

Zunächst starteten wir mit einer kleinen soziometrischen Übung im online-Raum: Mit “Alle, die…” bot Lysan uns verschiedene Aussagen an und alle, auf die diese Aussage zutraf, ließen ihre Kamera an, während diejenigen, die sich nicht damit assoziierten, die Kamera abschalteten. Das war auf jeden Fall schon mal ein gutes kleines Intro, um ein bisschen Gespür für die Menschen im Raum zu bekommen. 

Der Ursprung des Enneagramms

Sodann bekamen wir einen Input in die Genese des Enneagramms – wo kommt es her? Was sagt es aus? Wie ist es aufgebaut? Claudia Meimberg arbeitet seit vielen Jahren mit dem Enneagramm und hat sich umfassend ausgebildet, vor allem bei Katharina Kunze-Neidhardt und Hans Neidhardt. Beide sprechen nicht davon, dass das Enneagramm neun PersönlichkeitsTYPEN vorstellt, sondern sie sprechen von MUSTERN. Ein Muster ist etwas anderes als ein Typ. Das Muster kann verglichen werden mit einer Landkarte, dort kann gesehen werden, wo Straßen, Besiedlungen, Felder, Wälder, Seen, Großstädte sind, sie ergeben ein Muster auf dem Papier, u.a. weil z.B. Städte immer als rote große Punkte dargestellt werden, während Landstraßen gelbe Striche sind, Wälder dunkelgrün, Landstriche mit Feldern eher hellgrün und Wasser blau. Wir erkennen diese Muster wieder, wenn wir auf unterschiedliche Landkarten schauen. Und doch ist das, was wir real in der Welt sehen, viel mehr und differenzierter als eine Landkarte. Abgesehen davon gibt es für unterschiedliche Bewegungsarten auch unterschiedliche Landkarten: Schifffahrtskarten sehen ganz anders aus als Wanderkarten, die sich wiederum von Radkarten und Autokarten unterscheiden. Und dennoch können wir uns, wenn wir die Muster der verschiedenen Karten studiert haben, einerseits auf den Karten und andererseits, vor allem aber, mit ihnen auch in der Welt orientieren. 

So ähnlich geht es mit dem Enneagramm auch, dessen Herkunft nicht ganz geklärt ist. Es scheint Wurzeln in der Antike, im Christentum und im Sufismus zu haben und wird von Wikipedia als esoterisch bezeichnet. Was einigermaßen fest zu stehen scheint, ist dass es sich lange Zeit um eine mündliche Überlieferung von Meistern zu Schülern gehandelt hat und geheim gehalten wurde, bevor es sowohl in Europa als auch in Chile öffentlich gemacht wurde und so von Psycholog:innen der Humanistischen Psychologie als Rahmung für Persönlichkeitsstrukturen genutzt wurde, ebenso wie für Entwicklungsprozesse. 

Claudia weist uns darauf hin, dass es sich um ein sehr komplexes Modell handelt: nicht nur mit den neun Zahlen für die Muster, sondern auch mit noch drei Zentren: Bauch, Herz und Kopf, mit denen bestimmte Qualitäten verbunden werden. Es war von Flügeln, Stress- und Trostpunkten die Rede und dann kam der Satz, der unvermeidbar war: Natürlich ist es am allerschwierigsten dem eigenen Muster auf die Spur zu kommen – zumindest bei den meisten Mustern.

Mit Bewegung lernt’s sich besser 

Bevor wir uns alle dieser Überforderung hingeben konnten, hatten Claudia und Lysan etwas anderes geplant: Musik… wir hörten drei Stücke, die für die drei Zentren standen und waren eingeladen uns dazu zu bewegen. Nach fast einer viertel Stunde Tanz gab es Kleingruppen und die Frage: welche Musik hat dich am meisten berührt, etwas in dir “angeschwungen”, dich bewegt – im wahrsten Sinne des Wortes? War es der Rhythmus des Trommeln, der für das Bauchzentrum steht, oder Vivaldis Sommer aus den Vier Jahreszeiten, der dein Herz berührt hat oder hat dich Liszt mit seiner Musik für das Kopfzentrum erreicht? 

Das war eine sehr spannende Erkundung. Mich haben die Trommeln in Bewegung gebracht, also sinnbildlich körperlich zum tanzen. Vivaldi fürs Herz hat mich etwas ratlos unberührt zurückgelassen und bei Liszt hab ich mich angenehm wohlgefühlt. 

Das Theater der neun Muster

Und dann ging’s los: Das Theater der neun Muster. Lysan und Claudia präsentierten in wechselnden Rollen die neun Muster des Enneagramms, mit den dazugehörigen Leitsätzen, Besonderheiten, Leidenschaften und Rollen.

1 – “Es gibt immer was zu verbessern” – die gewissenhafte Perfektionistin hat die besondere Gabe Dinge zu sehen, die so nicht sein sollten. Sie sieht Fehler und korrigiert sie, auch mit sich selbst ist sie in einem ständigen Verbesserungsprozess. Spontaneität ist nicht so ihr Ding. Sie ist sehr verantwortungsbewusst und hält sich streng an Verabredungen. Ihre Leidenschaft ist der Zorn, die geronnene Wut. Sie neigt dazu cholerisch zu sein. 

2 – “Die Welt braucht mich” – der Helfer hat die Fähigkeit, ganz schnell zu sehen,  was andere brauchen und ihnen das auch einfach zu geben. Dadurch erfährt er Wertschätzung, geht aber auch das Risiko ein, andere einzuengen. Er engagiert sich häufig ehrenamtlich oder auch im eigenen Team für ein gutes Miteinander. Nähe ist ihm wichtig. Seine Grundfrage ist “Werde ich ausreichend geliebt?”, die eigene Bedürftigkeit wird häufig abgelehnt. Seine Leidenschaft ist der Stolz. “Gib alles her, ich schaff das!”

3 – “Hier komme ich!” – die allseits beliebte Macherin setzt Ziele und startet in die Umsetzung. Hat eher selten Stress, ist auf allen Bühnen zu Hause, mag es aber nicht alleine zu sein und nichts zu tun zu haben. Für sie zählen Leistung und Erfolg im Leben am meisten, es ist wichtig bei anderen gut anzukommen. Selbst ein Scheitern wird mindestens als Teilerfolg verkauft. Diese dynamischen Erfolgsmenschen strahlen, haben Charisma und bringen was voran. Sie haben feine Sensoren für Feedback und arbeiten für positive Rückmeldungen. Das kann manchmal wie ein Fähnchen im Winde sein. Ihre Leidenschaft ist die Täuschung. Sie haben eine hohe Anpassungsfähigkeit und wissen manchmal selbst nicht um ihren Kern. 

4 – “Endstation Sehnsucht” – der anspruchsvolle Individualist träumt die Geschichte einer großen Liebe von höchster Euphorie, Enttäuschung, Verlust, Rückzug und Elend bis eine neue große Sehnsucht erwacht und mit der Realität konfrontiert wird. Er ist krisenerprobt, feinfühlig, und spürt, dass er ganz anders ist als die anderen. Er erlebt höhere Höhen und tiefere Tiefen und ist ein sehr guter Krisenbegleiter. Seine Sehnsucht befriedigt er in tiefen Gesprächen, seinem Sinn für Schönes und der Fähigkeit zu gutem Kontakt. Manchmal ist er ein Dramaking und neigt dazu Themen zu emotionalisieren. Seine Leidenschaft ist der Neid. “Allen anderen geht es besser als mir”.

5 – “Wissen ist Macht” – die stille Einzelgängerin analysiert, ist sachlich, neutral, scheint unberührt zu sein. Sie ist Strategin. Sie separiert ihre Lebensbereiche – Arbeit ist Arbeit, Familie Familie, Hobby Hobby. Hier gibt es keine Überschneidung. Die Welt erscheint ihr grundsätzlich feindlich und sie schafft sich Sicherheit in dem sie beobachtet und ihr Wissen vertieft. Oft trägt sie nicht alles bei, was sie könnte und lädt dazu ein, übersehen zu werden. Ihre Leidenschaft ist der Geiz. Vor allem ist sie geizig mit sich selbst.

6 – “Im Zweifel gegen den Angeklagten” – der loyale Skeptiker hat detektivische Fähigkeiten. Ihm kann man nichts vormachen, er hat nicht nur, sondern er ist ein Frühwarnsystem. Leider oft von Angst getrieben, tritt er in zwei Varianten auf: Der Phobische neigt zum Rückzug, während der Kontraphobische zu Übersprungshandlungen neigt. Der loyale Skeptiker ist ein guter Krisenmanager, er hat immer ein Survivalpack dabei. Seine Leidenschaft ist der Zweifel. “Stimmt das wirklich?” Oft traut er seiner eigenen Wahrnehmung nicht. 

7 – “Sieh, das Gute liegt so nah!” – die lebensfrohe Optimistin verbreitet gute Laune, ist eine Abenteurerin, und auch eine Clownin und Jongleurin. Sie versucht Trauriges zu vermeiden und geht Schmerz aus dem Weg, in dem sie es sich gut gehen lässt. Sie hat innovative Ideen, liebt die Freiheit und nach einem Plan A nicht nur einen Plan B, sondern immer auch noch Plan C D E F und G… Sie ist so assoziativ, dass sie immer noch eine Idee hat, wie etwas doch noch gut wird. Ihre Leidenschaft ist die Gier. Sie kann zwanghaft positiv sein. 

8 – “Alles hört auf mein Kommando” – der willensstarke Kämpfer hat ein Gespür für Macht. Konflikte sind ihm vertraut, an ihm kommt man nicht vorbei. Er füllt einen Raum ohne ein Wort, mit seiner hohen Energie ist er extrem präsent, bevor er Schwäche zeigt, wird er aggressiv. Der willensstarke Kämpfer stellt sich vor sein Team, wenn es nötig ist; wenn man sich ihm entgegenstellt, kommt er mit direkter Ansprache klar. Seine Leidenschaft ist die Wollust. Er ist lustvoll intensiv. 

9 – “Ich bin irgendwie unwichtig hier” – die Friedensstifterin glaubt, dass es am besten ist, sich selbst zu vergessen. Sie ist eine friedvolle Vermittlerin mit hoher Hilfsbereitschaft und der Schwierigkeit Prioritäten zu setzen. Bis sie in die Gänge kommt, kann das dauern, aber dann ist sie ausdauernd. Sich zu positionieren ist nicht ihre Stärke; wird sie dazu gedrängt, fällt sie in eine Art Totstellreflex. Ihre Leidenschaft ist die Trägheit. Manchmal führt das zu einer bleiernen Schwere.

Die Muster zwei, drei und vier sind dem Herzzentrum zugeordnet und folgen der Qualität der Liebe. Die Muster fünf, sechs und sieben sind dem Kopfzentrum zugeordnet und folgen der Qualität der Sicherheit. Die Muster acht, neun und eins sind dem Bauchzentrum zugeordnet und folgen der Qualität der Autonomie

In jedem Zentrum gibt es ein Muster, das die Energie nach innen wendet, eines, das sie nach außen wendet  und eines, das die Energie blockiert. Die jeweiligen Muster an der Seite werden Flügel genannt und haben ebenfalls Einfluss auf das eigene Muster. Weitere Ausführungen bedürfen intensiverer Befassung, wer dazu was lesen will, findet hier weitere Einsichten: Maria-Anne Gallen, Hans Neidhardt, Das Enneagramm unserer Beziehungen – Verwicklungen, Wechselwirkungen, Entwicklungen.

In der letzten Stunde unseres Labors gab es neun offene Breakoutrooms in denen die Teilnehmenden sich frei bewegen konnten, um sich noch tiefer mit den einzelnen Mustern zu beschäftigen. Es ergaben sich interessante Gespräche. 

Vom SOCIUS Team haben fünf Personen am Labor teilgenommen und wir haben uns fest vorgenommen das Enneagramm im neuen Jahr auch mal als Feedback-Instrument auszuprobieren. Die Unterschiede zwischen Fremd- und Selbstwahrnehmung sind ja bekanntlich überaus interessant.

Ich bin gespannt!

Wie mutig bist du mit den Pausen, die du dir gibst?

Wie mutig bist du mit den Pausen, die du dir gibst?

SOCIUS labor Bericht „Mut zur Pause“

In unserem November Labor widmeten wir uns mit Bewegungstherapeutin Christa Cocciole dem Thema Pause und Entspannung im Berufsalltag. Entspannung gehört genau wie Anspannung zum Leben. Nur manchmal macht sie sich rar. Wir können jedoch lernen sie einzuladen, ihr Raum zu geben und in uns den Mut zur Pause kultivieren – uns auf verschiedenen Wegen die innere Erlaubnis geben, für einen Moment nichts zu tun. Aus eigener Erfahrung wissen wir, dass es Sinn macht, daran erinnert zu werden. Denn bleibt unser Körper im Stress, kann das der Beginn von Krankheiten sein. 

In diesem SOCIUS labor holten wir erst einmal die Dinge in unser Bewusstsein, die uns als Barrieren im Wege stehen um längere oder kürzere Pausen zu machen: 

Termindruck; unser Verantwortungsbewusstsein; viele Aufgaben die alle gleich wichtig sind; die Angst weniger wert zu sein, wenn wir nicht leisten; innere Getriebenheit und der Wunsch so viel zu verwirklichen und in die Welt zu bringen oder das schlechte Gewissen, wenn einmal Leerlauf oder weniger Druck ist. 

Der Satz “Wer Pausen macht ist faul” brachte es besonders auf den Punkt, vor allem mit seiner Ergänzung, dass er natürlich nicht für andere gilt – sondern nur für “mich”. Gleichzeitig zeigt er, wie sehr wir vergessen können, dass wir ja immer Teil des großen Ganzen und nicht nur unserer kleinen Welt der Projekte, Aufgaben und Erledigungen sind. Diese Chinesische Weisheit kann uns helfen, uns daran zu erinnern: 

Zur Geburt gehört der Tod,
Zum Einatmen gehört das Ausatmen,
Zum Geben gehört das Nehmen,
Zur Leistung gehört die Erholung,
Zur Geborgenheit gehört die Einsamkeit,
Zur Spannung gehört die Entspannung.
Chinesische Weisheit 

Mit kleinen und größeren Körperübungen bewegten wir uns und unsere Nervensysteme. In der Praxis der Selbst- und Co-Regulation reichen meist sogar ein paar bewusste Momente des Atmens, bewussten Gehens, Bewegens oder Tanzens, um uns in einen anderen körperlichen Zustand zu versetzen. Hier ein paar Impulse: 

  • Taktisches Atmen: Im eigenen Atemrhythmus auf vier Takte einatmen, vier Takte die Atemfülle halten, auf vier Takte ausatmen, die Atemleere auf vier Takte halten. So oft wiederholen wie passend, mindestens 3 Runden.  
  • Bewegter Body Scan: Wird hier erklärt https://vimeo.com/645517255 
  • Schütteln: Aufstehen, ein Lied anmachen und drei bis vier Minuten den Körper schütteln und bewegen  

Journaling Fragen

Wer thematisch noch etwas tiefer tauchen möchte, findet hier einige der Fragen, die sich für die persönliche Reflektion eignen: 

  • Was hält mich davon ab, mir Momente der Entspannung zu nehmen? 
  • Welche Glaubenssätze – bewusste oder unbewusste – stecken hinter deinen alltäglichen Herausforderungen dir Pausen und Ruhemomente zu nehmen?
  • Was gibt dir Kraft? Was gibt deinem Körper, deinen Gedanken, deinen Gefühlen und deiner Seele Kraft? 
  • Was nimmt dir Kraft? Was nimmt deinem Körper, deinen Gedanken, deinen Gefühlen und deiner Seele Kraft? 
  • Was entspannt Dich? 
  • Was könnte aus einer entspannteren Lebenshaltung anders sein? Was ist möglich?  

Ressourcen zum Teilen

Hier finden sich ein paar Hinweise und Links, um das Thema weiter zu erforschen: 

 

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